Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 04.09.10 |
von Karim Akerma
Wenn
die von der Sonne ausgehenden Photonen den dritten Planeten des Sonnensystems
erreichen, erwärmen und beleuchten sie einen von seinen Bewohnern in eine
gigantische Tankstelle verwandelten Himmelskörper, dessen größte und am
dichtesten bewohnte Häuser die Schlachthäuser sind.
Seit
dem 16. Juli 2010 gilt die am 20. April 2010 im Golf von Mexiko unterhalb der
Ölbohrplattform DEEPWATER HORIZON leckgeschlagene Tankstelle Erde als
repariert. Bilder, Fragen und Aussichten bleiben virulent. Da ist zunächst die
Frage der Bilder verölter Wasservögel, medial allgegenwärtige Embleme dieser
und vergangener Ölkatastrophen. Sie gehören zu den visuellen Störfaktoren des
langsam auslaufenden Erdölzeitalters. Doch warum zeigt man uns diese Fotos so
häufig und ausgiebig, oder: warum ertragen wir sie? Diese Frage stellt sich,
weil wir andere visuelle Störfaktoren unserer Zivilisation sehr viel seltener
zu Gesicht bekommen oder uns wie ertappt, empört ob der Zumutung, abwenden,
wenn zu viele Details und Hintergründe deutlich werden: Aufnahmen aus
Schlachthöfen. Diese verdauen wir offenbar deshalb sehr viel schlechter als die
Bilder ölverschmierter Vögel, weil wir uns im Falle der Aufnahmen aus
Schlachthäusern, oder von Tieren die zu ihnen hintransportiert werden, sehr
viel leichter als die Verursacher dessen begreifen, was wir da zu Gesicht
bekommen.
Ölkatastrophen
– mit ihren sterbenden und doch nicht sterbenwollenden ölverdreckten
Wasservögeln, Stränden sowie strandlagernden Schildkrötenkadavern – passieren
nicht einfach. Zu einem Gutteil sind sie die Konsequenz von
Konsumentscheidungen. Sie werden herbeigefahren. Fast die Hälfte aller PKW-Fahrten
in Deutschland ist zu Ende, bevor die Wegmarke von fünf Kilometern erreicht
ist. Jährlich milliardenfach werden hierzulande die Motoren von
Privatfahrzeugen angeworfen, um eine Strecke von weniger als einem Kilometer
zurückzulegen.
Ölkatastrophen
werden auf ähnliche Weise herbeigefahren, wie die Zustände in der
Fleischindustrie herbeigegessen werden. Erdöl und Fleisch sollen preisgünstig
sein und auch unter unhaltbaren Bedingungen – in unmittelbarer Nachbarschaft
zur Katastrophe (Tiefenbohrungen) oder von Haus aus katastrophal
(Massentierhaltung) – reichlich und preisgünstig zur Verfügung stehen. Doch
scheint im Falle von Ölkatastrophen der kausale Nexus weniger deutlich zu sein,
die Verantwortlichkeit weniger stark empfunden zu werden. Ein Indiz hierfür ist
eben der Umstand, dass Konsumenten die Bilder ölstarrender Vögel offenkundig
schuldfreier ertragen als Aufnahmen blutverschmierter Vögel, Schweine und
Rinder, die aus den immer größer werdenden, immer hermetischer abgeriegelten,
umzäunten und in Flutlicht getauchten Schlachtbetrieben an die Öffentlichkeit
dringen.
Die
Verantwortlichen dafür, dass wir im Anschluss an Katastrophen Bilder
ölverschmierter Vögel zu Gesicht bekommen, sucht man in der Erdölindustrie.
Wobei ausgeblendet bleibt, dass das Anzapfen der Tankstelle Erde in stets
größeren Tiefen in unserem Auftrag geschieht. Schuld für Bilder
blutverschmierter Tiere sucht man in vergleichsweise geringerem Maße bei der
Schlachtindustrie. Insgeheim wissen Konsumenten darum, dass sie selbst die
Auftraggeber für billig produziertes Fleisch sind und nehmen damit
einhergehendes tierliches Leid oder die Entwaldung großer Flächen zwecks Anbau
von Futtermitteln zur Fleischmast billigend in Kauf.
Für
die permanente Katastrophe im Innern von Schlachthöfen herrscht ein doppeltes
Bilderverbot in dem Sinne, dass einerseits niemand dort filmen darf und
andererseits der Verbraucher durch Bildmaterial – wenn es doch einmal nach
außen dringt – nicht belästigt werden möchte. Für ölverschmierte Wassertiere
scheint es Vergleichbares nicht zu geben. Man sieht sich die Bilder an,
bedauert die armen Kreaturen und verurteilt die „Verantwortlichen“, da man sich
moralisch auf der sicheren Seite wähnt. Dabei wird Erdöl nicht deshalb aus
immer größeren Tiefen unterhalb des Meeresbodens an die Meeresoberfläche
gefördert, weil die Besatzungen von Bohrinseln verwegene Abenteurer wären, die,
umgepolten Bergsteigern gleich, immer größere Tiefen bezwingen wollten.
Vielmehr handeln sie auf Geheiß großer Erdölgesellschaften in letzter Instanz
im Auftrag von Konsumenten und gemäß ihrem Bedarf an auto-nomer Fortbewegung.
Leicht zu erschließende Ölfelder werden rar. Insofern hilft es wenig, wenn
Umweltorganisationen dieser Tage Unterschriften sammeln, mit denen die
Erdölindustrie aufgefordert werden soll, von Bohrungen tief unter dem
Meeresspiegel Abstand zu nehmen. Auftraggeber für Ölkatastrophen sind nicht
zuletzt wir Verbraucher.
Gibt
es Alternativen? Ja, die eingangs erwähnten von der Sonne ausgehenden Photonen,
mit denen in Solarzellen elektrische Energie gewonnen werden kann und mit denen
Pflanzen Photosynthese betreiben und wachsen, um von uns verzehrt zu werden.
Wir sollten uns mental vom Erdöl- und Fleischzeitalter mit seinen verheerenden
Auswirkungen auf Mensch und Mitwelt verabschieden und mit Höchstgeschwindigkeit
handelnd auf eine öl- und fleischarme solarenergetische Gesellschaft der
Langsamkeit zusteuern. Denn Wachstumsraten wie wir sie aus den vergangenen
zweihundert Jahren des Erdölzeitalters kennen, werden sich in der kommenden
post-fossilen Ära kaum erzielen lassen.
Nun leben wir längst
nicht mehr nur in der Ära des Erdöls, sondern überdies im
Informationszeitalter. Dass das Öl in unseren Tanks und das Fleisch auf unseren
Tellern massiv zum Ruin der Lebensbedingungen auf diesem Planeten beitragen,
ist sattsam bekannt. Wie ist in Anbetracht dessen zu erklären, dass es bei
einer Weltbevölkerung von 6,7 Milliarden Menschen nur 75 Millionen gibt, die
sich aus freien Stücken vegetarisch ernähren und in Deutschland circa 50 Millionen
motorisierten Fahrzeugen regelmäßig der Tank leergefahren wird? Zumindest der
dunkle Schatten einer Antwort lässt sich einem Experiment entnehmen, das den
Namen seines Urhebers trägt: Milgram. Stanley Milgram förderte zutage, dass Versuchspersonen, die Folter und Gewalt aus tiefstem Innern ablehnen, in einer
simplen Versuchsanordnung dazu gebracht werden können, anderen Menschen größte
Schmerzen zuzufügen und sie letztlich zu töten, wenn ein autoritär auftretender
„Versuchsleiter“ dies verlangt. Milgram fand heraus, dass nicht einmal
markerschütternde Schreie (die in Wahrheit von Tonbändern abgespielt werden)
aus einem Nebenzimmer die Versuchspersonen davon abbringen, dem vermeintlich im
Nebenzimmer anwesenden Dritten die schmerzhaften bis tödlichen Stromstöße
beizubringen, wenn dieser in einem Gedächtnistest Karten falsch zuordnet. Den
Versuchspersonen war vom Versuchsleiter erklärt worden, man wolle herausfinden,
ob sich eine Bestrafung durch Stromstöße auf die Lernfähigkeit auswirkt. Der
Umstand, dass nicht wenige Versuchspersonen auf Befehl des „Versuchsleiters“
bereit waren, einer (in Wahrheit gar nicht vorhandenen) Person im Nebenzimmer
starke bis tödliche Stromstöße zu verpassen – und sich auch durch Schreie nicht
davon abhalten ließen, die Voltzahlen zu steigern –, gibt Anlass zu
Befürchtungen: Auch wenn Menschen wissen (und hören), dass sie durch ihr Tun
oder Unterlassen andere massiv schädigen, tun sie es, wenn eine Autorität dies
gebietet. Verheerend ist nun, dass im Falle von Auto und Fleisch noch nicht
einmal eine Autoritätsperson da ist, die das Umherfahren oder den Verzehr
verordnen würde (der Grad an Freiwilligkeit ist höher, die Verursachungskette
länger). Allenfalls ließen sich die Macht der Gewohnheit, der soziale Status
oder Gruppenzwänge (die Scheu davor, Minderheiten anzugehören) als
unpersönliche Autoritäten deuten, denen man Folge leistet (sofern man die
Problematik nicht auf triviale Geschmackserlebnisse und Erlebnisqualitäten des
Umherfahrens reduzieren will). Was bleibt, ist die Hoffnung, dass eine erst
noch zu schaffende neue Quantität und Qualität des Visuellen handlungsleitend
werden mag, um zu erreichen, was den Stimmen vom Tonband verwehrt blieb.
Weiterführende
Literatur:
Altvater, Elmar
Das Ende des
Kapitalismus wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Verlag
Westfälisches Dampfboot, Münster 2005
Holmes, Bob
What’s the beef with meet?
In: New Scientist,
Ausgabe vom 17. Juli 2010, S. 28-31
Milgram, Stanley
Das
Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Rowohlt
Verlag, Reinbek 1982
Welzer, Harald
Die Magie des
Wachstums. Warum unsere Kinder es einmal schlechter haben werden, Blätter für
deutsche und internationale Politik, Juni 2010, S. 61-66
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