Erschienen in Ausgabe: No 56 (10/2010) | Letzte Änderung: 27.09.10 |
von Stefan Zweig
Monotonisierung der Welt. Stärkster geistiger Eindruck von
jeder Reise in den letzten Jahren, trotz aller einzelnen Beglückung: ein leises
Grauen vor der Monotonisierung der Welt. Alles wird gleichförmiger in den
äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles
Schema. Die individuellen Gebräuche der Völker schleifen sich ab, die Trachten
werden uniform, die Sitten internationaler. Immer mehr scheinen die Länder
gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und
lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich. Paris ist zu drei
Vierteln amerikanisiert, Wien verbudapestet: immer mehr verdunstet das feine
Aroma des Besonderen in den Kulturen, immer rascher blättern die Farben ab, und
unter der zersprungenen Firnisschicht wird der stahlfarbene Kolben des
mechanischen Betriebes, die moderne Weltmaschine, sichtbar.
Dieser Prozeß ist schon lange im Gange: schon vor dem Kriege hat Rathenau diese
Mechanisierung des Daseins, die Präponderanz der Technik als wichtigste
Erscheinung unseres Lebensalters prophetisch verkündet, aber nie war dieser
Niedersturz in die Gleichförmigkeit der äußeren Lebensformen so rasch, so
launenhaft wie in den letzten Jahren. Seien wir uns klar darüber! Es ist
wahrscheinlich das brennendste, das entscheidenste Phänomen unserer Zeit.
Symptome: Man könnte, um das Problem deutlich zu machen, hunderte aufzählen.
Ich wähle nur schnell ein paar der geläufigsten, die jedem gewärtig sind, um zu
zeigen, wie sehr sich Sitten und Gebräuche im letzten Jahrzehnt monotonisiert
und sterilisiert haben.
Das Sinnfälligste: der Tanz. Vor zwei, drei Jahrzehnten noch war er an die
einzelnen Nationen gebunden und an die persönliche Neigung des Individuums. Man
tanzte in Wien Walzer, in Ungarn den Csardas, in Spanien den Bolero nach
unzähligen verschiedenen Rhythmen und Melodien, in denen sich der Genius eines
Künstlers ebenso wie der Geist einer Nation sichtbarlich formten. Heute tanzen
Millionen Menschen von Kapstadt bis Stockholm, von Buenos Aires bis Kalkutta
denselben Tanz, nach denselben fünf oder sechs kurzatmigen, unpersönlichen
Melodien. Sie beginnen um die gleiche Stunde: so wie die Muezzim im
orientalischen Lande Zehntausende um die gleiche Stunde des Sonnenunterganges
zu einem einzigen Gebet, so wie dort zwanzig Worte, so rufen jetzt zwanzig
Takte um fünf Uhr nachmittags die ganze abendländische Menschheit zu dem
gleichen Ritus. Niemals außer in gewissen Formeln und Formen der Kirche haben
zweihundert Millionen Menschen eine solche Gleichzeitigkeit und
Gleichförmigkeit des Ausdruckes gefunden wie die weiße Rasse Amerikas, Europas
und aller Kolonien in dem modernen Tanze.
Ein zweites Beispiel: die Mode. Sie hat niemals eine solche blitzhafte
Gleichheit gehabt in allen Ländern wie in unserer Epoche. Früher dauerte es
Jahre, ehe eine Mode aus Paris in die anderen Großstädte, wiederum Jahre, ehe
sie aus den Großstädten auf das Land drang, und es gab eine gewisse Grenze des
Volkes und der Sitte, die sich ihren tyrannischen Forderungen sperrte. Heute
wird ihre Diktatur im Zeitraume eines Pulsschlages universell. New York
diktiert die kurzen Haare der Frauen: innerhalb eines Monates fallen, wie von
einer einzigen Sense gemäht, 50 oder 100 Millionen weiblicher Haarmähnen. Kein
Kaiser, kein Khan der Weltgeschichte hatte ähnliche Macht, kein Gebot des
Geistes ähnliche Geschwindigkeit erlebt. Das Christentum, der Sozialismus
brauchten Jahrhunderte und Jahrzehnte, um eine Gefolgschaft zu gewinnen, um
ihre Gebote über so viele Menschen wirksam zu machen wie ein Pariser Schneider
sie heute in acht Tagen hörig macht.
Ein drittes Beispiel: das Kino. Wiederum unermeßliche Gleichzeitigkeit über
alle Länder und Sprachen hin, Ausbildung gleicher Darbietung, gleichen
Geschmackes (oder Ungeschmackes) auf Tausend-Millionen-Massen. Vollkommene
Aufhebung jeder individuellen Note, obwohl die Fabrikanten triumphierend ihre
Filme als national anpreisen: die Nibelungen siegen in Italien und Max Linder
aus Paris in den allerdeutschesten, völkischsten Wahlkreisen. Auch hier ist der
Instinkt der Massenhaftigkeit stärker und selbstherrlicher als der Gedanke.
Jackie Coogans Triumph Kommen war stärkeres Erlebnis für die Gegenwart als vor
zwanzig Jahren Tolstois Tod.
Ein viertes Beispiel: das Radio. Alle diese Erfindungen haben nur einen Sinn:
Gleichzeitigkeit. Der Londoner, Pariser und der Wiener hören in der gleichen
Sekunde dasselbe, und diese Gleichzeitigkeit, diese Uniformität berauscht durch
das Überdimensionale. Es ist eine Trunkenheit, ein Stimulans für die Masse und
zugleich in allen diesen neuen technischen Wundern eine ungeheure Ernüchterung
des Seelischen, eine gefährliche Verführung zur Passivität für den einzelnen.
Auch hier fügt sich das Individuum, wie beim Tanz, der Mode und dem Kino, dem
allgleichen herdenhaften Geschmack, es wählt nicht mehr vom inneren Wesen her,
sondern es wählt nach der Meinung einer Welt.
Bis ins Unzählige könnte man diese Symptome vermehren, und sie vermehren sich
von selbst von Tag zu Tag. Der Sinn für Selbständigkeit im Genießen überflutet
die Zeit. Schon wird es schwieriger, die Besonderheiten bei Nationen und
Kulturen aufzuzählen als ihre Gemeinsamkeiten.
Konsequenzen: Aufhören aller Individualität bis ins Äußerliche. Nicht
ungestraft gehen alle Menschen gleich angezogen, gehen alle Frauen gleich
gekleidet, gleich geschminkt: die Monotonie muß notwendig nach innen dringen.
Gesichter werden einander ähnlicher durch gleiche Leidenschaft, Körper einander
ähnlicher durch gleichen Sport, die Geister ähnlicher durch gleiche Interessen.
Unbewußt entsteht eine Gleichartigkeit der Seelen, eine Massenseele durch den
gesteigerten Uniformierungstrieb, eine Verkümmerung der Nerven zugunsten der
Muskeln, ein Absterben des Individuellen zugunsten des Typus. Konversation, die
Kunst der Rede, wird zertanzt und zersportet, das Theater brutalisiert im Sinne
des Kinos, in die Literatur wird die Praxis der raschen Mode, des
„Saisonerfolges“ eingetrieben. Schon gibt es, wie in England, nicht mehr Bücher
für die Menschen, sondern immer nur mehr das „Buch der Saison“, schon breitet
sich gleich dem Radio die blitzhafte Form des Erfolges aus, der an allen
europäischen Stationen gleichzeitig gemeldet und in der nächsten Sekunde
abgekurbelt wird. Und da alles auf das Kurzfristige eingestellt ist, steigert
sich der Verbrauch: so wird Bildung, die durch ein Leben hin waltende, geduldig
sinnvolle Zusammenfassung, ein ganz seltenes Phänomen in unserer Zeit, so wie
alles, das sich nur durch individuelle Anstrengung erzwingt.
Ursprung: woher kommt diese furchtbare Welle, die uns alles Farbige, alles
Eigenförmige aus dem Leben wegzuschwemmen droht? Jeder, der drüben gewesen ist,
weiß es: von Amerika. Die Geschichtsschreiber der Zukunft werden auf dem nächsten
Blatt nach dem großen europäischen Kriege einmal einzeichnen für unsere Zeit,
daß in ihr die Eroberung Europas durch Amerika begonnen hat. Oder mehr noch,
sie ist schon in vollem reißenden Zuge, und wir merken es nur nicht (alle
Besiegten sind immer Zu-langsam-Denker). Noch jubelt bei uns jedes Land mit
allen seinen Zeitungen und Staatsmännern, wenn es einen Dollarkredit bekommt.
Noch schmeicheln wir uns Illusionen vor über philanthropische und
wirtschaftliche Ziele Amerikas: in Wirklichkeit werden wir Kolonien seines
Lebens, seiner Lebensführung, Knechte einer der europäischen im tiefsten
fremden Idee, der maschinellen.
Aber solche wirtschaftliche Hörigkeit scheint mir noch gering gegen die
geistige Gefahr. Eine Kolonisation Europas wäre politisch nicht das
Furchtbarste, knechtischen Seelen scheint jede Knechtschaft milde, und der
Freie weiß überall seine Freiheit zu wahren. Die wahre Gefahr für Europa
scheint mir im Geistigen zu liegen, im Herüberdringen der amerikanischen
Langeweile, jener entsetzlichen, ganz spezifischen Langeweile, die dort aus
jedem Stein und Haus der numerierten Straßen aufsteigt, jener Langeweile, die
nicht, wie früher die europäische, eine der Ruhe, eine des Bierbanksitzens und
Dominospielens und Pfeifenrauchens ist, also eine zwar faulenzerische, aber
doch ungefährliche Zeitvergeudung: die amerikanische Langeweile aber ist
fahrig, nervös und aggressiv, überrennt sich mit eiligen Hitzigkeiten, will
sich betäuben in Sport und Sensationen. Sie hat nichts Spielhaftes mehr, sondern
rennt mit einer tollwütigen Besessenheit, in ewiger Flucht vor der Zeit: sie
erfindet sich immer neue Kunstmittel, wie Kino und Radio, um die hungrigen
Sinne mit einer Massennahrung zu füttern, und verwandelt die
Interessengemeinschaft des Vergnügens zu riesenhaften Konzernen wie ihre Banken
und Trusts. Von Amerika kommt jene furchtbare Welle der Einförmigkeit, die
jedem Menschen dasselbe gibt, denselben Overallanzug auf die Haut, dasselbe
Buch in die Hand, dieselbe Füllfeder zwischen die Finger, dasselbe Gespräch auf
die Lippe und dasselbe Automobil statt der Füße. In verhängnisvoller Weise
drängt von der anderen Seite unserer Welt, von Rußland her, derselbe Wille zur
Monotonie in verwandelter Form: der Wille zur Parzellierung des Menschen, zur
Uniformität der Weltanschauung, derselbe fürchterliche Wille zur Monotonie.
Noch ist Europa das letzte Bollwerk des Individualismus, und vielleicht ist der
überspannte Krampf der Völker, jener aufgetriebene Nationalismus, bei all
seiner Gewalttätigkeit doch eine gewissermaßen fieberhafte unbewußte
Auflehnung, ein letzter verzweifelter Versuch, sich gegen die Gleichmacherei zu
wehren. Aber gerade die krampfige Form der Abwehr verrät unsere Schwäche. Schon
ist der Genius der Nüchternheit am Werke, um Europa, das letzte Griechenland
der Geschichte, von der Tafel der Zeit auszulöschen.
Gegenwehr: Was nun tun? Das Kapitol stürmen, die Menschen anrufen: „Auf die
Schanzen, die Barbaren sind da, sie zerstören unsere Welt!“ Noch einmal die
Cäsarenworte ausschreien, nun aber in einem ernsteren Sinne: „Völker Europas,
wahrt eure heiligsten Güter!“ Nein, wir sind nicht mehr so blindgläubig, um zu
glauben, man könne noch mit Vereinen, mit Büchern und Proklamationen gegen
eine Weltbewegung ungeheuerlicher Art aufkommen und diesen Trieb zur
Monotonisierung niederschlagen. Was immer man auch schriebe, es bliebe ein
Blatt Papier, gegen einen Orkan geworfen. Was immer wir auch schrieben, es
erreichte die Fußballmatcher und Shimmytänzer nicht, und wenn es sie erreichte,
sie verstünden uns nicht mehr. In all diesen Dingen, von denen ich nur einige
wenige andeutete, im Kino, im Radio, im Tanze, in all diesen neuen
Mechanisierungsmitteln der Menschheit liegt eine ungeheure Kraft, die nicht zu
überwältigen ist. Denn sie alle erfüllen das höchste Ideal des Durchschnittes:
Vergnügen zu bieten, ohne Anstrengung zu fordern. Und ihre nicht zu besiegende
Stärke liegt darin, daß sie unerhört bequem sind. Der neue Tanz ist von dem
plumpsten Dienstmädchen in drei Stunden zu erlernen, das Kino ergötzt Analphabeten
und erfordert von ihnen nicht einen Gran Bildung, um den Radiogenuß zu haben,
braucht man nur gerade den Hörer vom Tisch zu nehmen und an den Kopf zu hängen,
und schon walzt und klingt es einem ins Ohr – gegen eine solche Bequemlichkeit
kämpfen selbst die Götter vergebens. Wer nur das Minimum an geistiger und
körperlicher Anstrengungen und sittlicher Kraftaufbietung fordert, muß
notwendigerweise in der Masse siegen, denn die Mehrzahl steht leidenschaftlich
zu ihm, und wer heute noch Selbständigkeit, Eigenwahl, Persönlichkeit selbst im
Vergnügen verlangte, wäre lächerlich gegen so ungeheure Übermacht. Wenn die
Menschheit sich jetzt zunehmend verlangweiligt und monotonisiert, so geschieht
ihr eigentlich nichts anderes, als was sie im Innersten will. Selbständigkeit
in der Lebensführung und selbst im Genuß des Lebens bedeutet jetzt nur so
wenigen mehr ein Ziel, daß die meisten es nicht mehr fühlen, wie sie Partikel
werden, mitgespülte Atome einer gigantischen Gewalt. So baden sie sich warm in
dem Strome, der sie wegreißt ins Wesenlose; wie Tacitus sagte: „ruere in
servitium“, sich selbst in die Knechtschaft stürzen, diese Leidenschaft zur
Selbstauflösung hat alle Nationen zerstört. Nun ist Europa an der Reihe: der
Weltkrieg war die erste Phase, die Amerikanisierung ist die zweite.
Darum keine Gegenwehr! Es wäre eine ungeheure Anmaßung, wollten wir versuchen,
die Menschen von diesen (im Innersten leeren) Vergnügungen wegzurufen. Denn wir
– um ehrlich zu sein –‚ was haben wir ihnen noch zu geben? Unsere Bücher
erreichen sie nicht mehr, weil sie längst nicht mehr das an kalter Spannung, an
kitzliger Erregung zu leisten vermögen, was der Sport und das Kino ihnen
verschwenderisch geben, sie sind sogar so unverschämt, unsere Bücher, geistige
Anstrengung zu fordern und Bildung als Vorbedingung, eine Mitarbeit des
Gefühles und eine Anspannung der Seele. Wir sind– gestehen wir es nur zu –
allen diesen Massenfreuden und Massenleidenschaften und damit dem Geist der
Epoche furchtbar fremd geworden, wir, deren geistige Kultur Lebensleidenschaft
ist, wir, die wir uns niemals langweilen, denen jeder Tag zu kurz wird um sechs
Stunden, wir, die wir keine Totschlageapparate brauchen für die Zeit und keine
Amüsiermaschinen, weder Tanz noch Kino noch Radio noch Bridge noch Modenschau.
Wir brauchen nur bei einer Plakatsäule in einer Großstadt vorüberzugehen oder
eine Zeitung zu lesen, in der Fußballkämpfe mit der Ausführlichkeit von
homerischen Schlachten geschildert werden, um zu fühlen, daß wir schon solche
Outsider geworden sind wie die letzten Enzyklopädisten während der
Französischen Revolution, etwas so Seltenes, Aussterbendes im heutigen Europa
wie die Gemsen und das Edelweiß. Vielleicht wird man um uns seltene letzte
Exemplare einmal einen Naturschutzpark anlegen, um uns zu erhalten und als
Kuriosa der Zeit respektvoll zu bewahren, aber wir müssen uns klar sein
darüber, daß uns längst jede Macht fehlt, gegen diese zunehmende
Gleichmäßigkeit der Welt das mindeste zu versuchen. Wir können nur in den
Schatten jenes grellen Jahrmarktlichtes treten und wie die Mönche in den
Klöstern während der großen Kriege und Umstürze in Chroniken und Beschreibungen
einen Zustand aufzeichnend schildern, den wir wie jene für eine Verwirrung des
Geistes halten. Aber wir können nichts tun, nichts hindern und nichts ändern:
jeder Aufruf zum Individualismus an die Massen, an die Menschheit wäre
Überheblichkeit und Anmaßung.
Rettung: so bleibt nur eines für uns, da wir den Kampf für vergeblich halten:
Flucht, Flucht in uns selbst. Man kann nicht das Individuelle in der Welt
retten, man kann nur das Individuum verteidigen in sich selbst. Des geistigen
Menschen höchste Leistung ist immer Freiheit, Freiheit von den Menschen, von
den Meinungen, von den Dingen, Freiheit zu sich selbst. Und das ist unsere
Aufgabe: immer freier werden, je mehr sich die anderen freiwillig binden! Immer
vielfältiger die Interessen ausweiten in alle Himmel des Geistes hinein, je
mehr die Neigung der anderen eintöniger, eingleisiger, maschineller wird! Und
alles dieses ohne Ostentation! Nicht prahlerisch zeigen: wir sind anders! Keine
Verachtung affichieren für alle diese Dinge, in denen vielleicht doch ein
höherer Sinn liegt, den wir nicht verstehen.
Uns innen absondern, aber nicht außen: dieselben Kleider tragen, von der Technik
alle Bequemlichkeiten übernehmen, sich nicht vergeuden in prahlerischen
Distanzierungen, in einem dummen ohnmächtigen Widerstand gegen die Welt. Still,
aber frei leben, sich lautlos und unscheinbar einfügen in den äußeren
Mechanismus der Gesellschaft, aber innen einzig ureigenster Neigung leben, sich
seinen eigenen Takt und Rhythmus des Lebens bewahren! Nicht hochmütig wegsehen,
nicht frech sich weghalten, sondern zusehen, zu erkennen suchen und dann
wissend ablehnen, was uns nicht zugehört, und wissend erhalten, was uns
notwendig erscheint. Denn wenn wir uns der wachsenden Gleichförmigkeit dieser
Welt auch mit der Seele verweigern, so wohnen wir doch dankbar treu im
Unzerstörbaren dieser Welt, das immer jenseits aller Wandlungen bleibt. Noch
wirken Mächte, die aller Zerteilung und Nivellierung spotten. Noch bleibt die
Natur wandelhaft in ihren Formen und schenkt sich Gebirge und Meer im Umschwung
der Jahreszeiten ewig gestaltend neu. Noch spielt Eros sein ewig vielfältiges
Spiel, noch lebt die Kunst im Gestalten unaufhörlich vielfachen Seins, noch
strömt Musik in immer anders tönender Quelle aus einzelner Menschen
aufgeschlossener Brust, noch dringt aus Büchern und Bild Unzahl der Erscheinung
und Erschütterung. Mag all das, was man unsere Kultur nennt, mit einem widrigen
und künstlichen Wort immer mehr parzelliert und vernüchtert werden – das „Urgut
der Menschheit“, wie Emil Lucka die Elemente des Geistes und der Natur in
seinem wunderbaren Buche nennt, ist nicht ausmünzbar an die Massen, es liegt zu
tief unten in den Schächten des Geistes, in den Minengängen des Gefühls, es
liegt zu weit von den Straßen, zu weit von der Bequemlichkeit. Hier im ewig
umgestalteten, immer neu zu gestaltenden Element erwartet den Willigen
unendliche Vielfalt: hier ist unsere Werkstatt, unsere ureigenste, niemals zu
monotonisierende Welt.
Aus: Stefan Zweig, Die Monotonisierung der Welt.© S.Fischer Verlag GmbH,
Frankfurt am Main
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.