Erschienen in Ausgabe: No 56 (10/2010) | Letzte Änderung: 27.09.10 |
von Karl Marx
Was die gegenwärtige Periode der Spekulation in Europa kennzeichnet, ist die
Allgemeinheit des Fiebers. Auch früher hat es Spekulationsfieber gegeben - um
Getreide, Eisenbahnen, Bergwerke, Banken und Baumwollspinnereien - kurz,
Spekulationsfieber jeder möglichen Art. Doch wenn auch während der großen
Handelskrisen von 1817, 1825, 1836, 1847/48 jeder Zweig der Industrie und des
Handels betroffen war, eine Manie herrschte vor, die jeder Zeit ihren
bestimmten Charakter verlieh. Obgleich alle Zweige der Wirtschaft vom Geist der
Spekulation durchdrungen waren, beschränkte sich doch jeder Spekulant auf seine
Branche. Hingegen ist das herrschende Prinzip des Crédit mobilier, des Trägers
der gegenwärtigen Manie, nicht die Spekulation auf einem gegebenen Gebiet,
sondern die Spekulation an sich und die allgemeine Ausbreitung des Schwindels
in dem gleichen Maße, wie ihn die Gesellschaft zentralisiert. Außerdem zeigen
Ursprung und Wachstum der gegenwärtigen Manie einen weiteren Unterschied; sie
begann nicht in England, sondern in Frankreich. Die französischen Spekulanten
der Gegenwart stehen in gleicher Beziehung zu den englischen Spekulanten der
obenerwähnten Jahre, wie die französischen Deisten des achtzehnten Jahrhunderts
zu den englischen Deisten des siebzehnten Jahrhunderts. Die einen lieferten das
Material, während die anderen die verallgemeinernde Form schufen, wodurch die
Verbreitung des Deismus in der gesamten zivilisierten Welt des achtzehnten
Jahrhunderts ermöglicht wurde. Die Briten sind geneigt, sich dazu zu
beglückwünschen, daß sich der Brennpunkt der Spekulation von ihrer freien und nüchternen
Insel auf den chaotischen, von Despoten beherrschten Kontinent verlagert hat:
aber sie vergessen dann, mit welch großer Unruhe sie den monatlichen Bericht
der Bank von Frankreich verfolgen, da er den Edelmetallvorrat im
Allerheiligsten der Bank von England beeinflußt; sie vergessen, daß es
großenteils englisches Kapital ist, das die Schlagadern der europäischen
Crédits mobiliers mit dem himmlischen Naß füllt; sie vergessen, daß die
"gesunde" Überschacherei und Überproduktion in England, die sie jetzt
wegen der erzielten Exportziffer von annähernd 110.000.000 Pfd.St. lobpreisen,
das direkte Ergebnis der "ungesunden" Spekulation ist, die sie auf
dem Kontinent anprangern, so wie ihre liberale Politik von 1854 und 1856 das
Ergebnis des coup d'état von Bonaparte ist. Es kann jedoch nicht in Abrede
gestellt werden, daß sie unschuldig sind am Ausbrüten dieser seltsamen Mischung
von kaiserlichem Sozialismus, saint-simonistischer Aktienspekulation und
philosophischem Schwindel, woraus sich zusammensetzt, was Crédit mobilier
genannt wird. In schroffem Gegensatz zu dieser kontinentalen Raffinesse ist die
englische Spekulation zu ihrer plumpesten und primitivsten Form des Betrugs
zurückgekehrt, zum nackten, ungeschminkten und durch nichts gemilderten Betrug.
Betrug war das Geheimnis von Paul, Strahan & Bates, der Tipperary Bank
Sadleirschen Angedenkens, der großen City-Unternehmen von Cole, Davidson &
Gordon; und Betrug ist die traurige, aber simple Geschichte der Londoner Royal
Britsh Bank.
Für eine Gruppe von Direktoren bedarf es keiner besonderen Raffinesse, um
das Kapital einer Gesellschaft zu verschlingen, solange sie ihre Aktionäre
durch hohe Dividende ermuntern und Deponenten und neue Aktionäre durch
betrügerische Berichte anziehen. Dazu braucht man nichts weiter als die
Kenntnis der englischen Gesetze. Der Fall der Royal British Bank hat eine
Sensation hervorgerufen, nicht so sehr wegen des Kapitals, sondern wegen der
darein verwickelten Anzahl kleiner Leute sowohl unter den Aktionären als auch
unter den Deponenten. Die Arbeitsteilung in diesem Unternehmen scheint
tatsächlich überaus einfach gewesen zu sein. Es gab zwei Gruppen von
Direktoren: die einen begnügten sich damit, ihr Gehalt von 10.000 Dollar
jährlich dafür einzustreichen, daß sie nichts von den Angelegenheiten der Bank
wußten und ihr Gewissen rein hielten, die anderen waren versessen auf die
tatsächliche Leitung der Bank, doch nur, um ihre ersten Kunden oder, besser
gesagt, Räuber zu sein. Da die letztere Gruppe in bezug auf Gefälligkeitsanleihen
vom Geschäftsführer abhängig ist, beginnt sie sofort damit, dem Geschäftsführer
zu gestatten, sich selbst Gefälligkeiten zu erweisen. Neben dem Geschäftsführer
müssen sie den Rechnungsprüfer und den Anwalt der Kompanie ins Geheimnis
ziehen, die deshalb Bestechungsgelder in Form von Darlehen erhalten. Außer den
Darlehen, die sie sich und auf den Namen ihrer Verwandten gegeben haben, setzen
die Direktoren und der Geschäftsführer weiterhin eine Anzahl Strohmänner ein,
auf deren Namen sie weitere Darlehen einstecken. Gegenwärtig beträgt das
gesamte eingezahlte Kapital 150.000 Pfd.St., von denen 121.840 Pfd.St. direkt
und indirekt von den Direktoren geschluckt wurden. Der Gründer der Kompanie,
Herr MacGregor, Mitglied des Parlaments für Glasgow, der berühmte Verfasser
statistischer Arbeiten, schuldete der Kompanie 7.362 Pfd.St.; ein anderer
Direktor, Herr Humphrey Brown aus Tewkesbury, Mitglied des Parlaments, der die
Bank zur Zahlung seiner Wahlausgaben ausnutzte, übernahm ihr gegenüber einmal
eine Verbindlichkeit von 70.000 Pfd.St. und scheint ihr noch einen Betrag von
50.000 Pfd.St. schuldig zu sein. Der Geschäftsführer, Herr Cameron, hatte
Darlehen in Höhe von 30.000 Pfund.
Seit Beginn ihrer Tätigkeit hat die Bank jedes Jahr 50.000 Pfd.St. verloren,
und doch beglückwünschten die Direktoren die Aktionäre jedes Jahr zu ihrem
Wohlstand. Dividende von sechs Prozent wurden vierteljährlich gezahlt, obwohl
die Aktionäre laut Erklärung des offiziellen Rechnungsführers, Herrn Coleman,
überhaupt keine Dividende hätten erhalten dürfen. Allein im vergangenen Sommer
wurden den Aktionären gefälschte Konten in Höhe von über 370.000 Pfd.St.
vorgelegt, wobei die an MacGregor, Humphrey Brown, Cameron & Co. gegebenen
Darlehen unter der undefinierbaren Rubrik konvertierbare Obligationen
erschienen. Als die Bank gänzlich zahlungsunfähig war, wurden neue Aktien
ausgegeben, zusammen mit begeisterten Berichten über ihre Fortschritte und
einem Vertrauensvotum für die Direktoren. Diese Ausgabe neuer Aktien wurde
keineswegs als verzweifeltes Mittel zur Erleichterung der Lage der Bank
betrachtet, sondern einfach als Erschließung einer neuen Quelle für die
Betrügereien der Direktoren. Obwohl die Statuten der Bank den Handel mit
eigenen Aktien untersagten, hatte es offenbar zur ständigen Praxis gehört, ihr
zur Sicherheit immer dann die eigenen Aktien aufzubürden, sobald sie in den
Händen der Direktoren entwertet worden waren. Darüber, wie der "ehrliche
Teil" der Direktoren angeblich betrogen worden war, berichtete einer von ihnen,
Herr Owen, auf einer Aktionärsversammlung folgendes:
"Als alle Vorbereitungen zur Eröffnung
dieses Unternehmens getroffen worden waren, wurde Herr Carneron zu unserem
Geschäftsführer ernannt, und wir stellten bald fest, welches Unheil es ist,
einen Geschäftsführer zu haben, der noch nie zuvor Verbindung mit irgendeiner
Bank in London gehabt hatte. Durch diesen Umstand ergaben sich eine Reihe von
Schwierigkeiten. Ich will darlegen, was sich vor zwei Jahren und einigen
Monaten ereignete, als ich aus der Bank austrat. Noch kurz vor dieser Zeit
wußte ich nicht, daß es auch nur einen einzigen Aktionär gab, der der Bank
einen Betrag von 10.000 Pfd.St. aus Diskont- oder Darlehensgeschäften
schuldete. Einmal kamen mir Gerüchte über einige Beschwerden zu Ohren, daß bei einem
von ihnen eine große Summe auf Wechselkonto fällig sei, und ich erkundige mich
bei einem der Buchhalter danach. Man antwortete mir, daß ich nichts mehr mit
der Bank zu tun hätte, sobald ich die Tür zum Geschäftszimmer hinter mir
schlösse. Herr Cameron sagte, kein Direktor dürfe seine eigenen Wechsel zum
Diskontieren vor den Aufsichtsrat bringen. Er erklärte, daß solche Wechsel dem
Hauptgeschäftsführer vorgelegt werden müßten, denn wenn sie vor den
Aufsichtsrat gebracht würden, mache kein Geschäftsmann von Rang mehr Geschäfte
mit uns. In dieser Unkenntnis befand ich mich, bis Herr Cameron einmal so
ernsthaft erkrankte, daß man keine Genesung mehr erwartete. Wegen seiner
Krankheit stellten der Vorsitzende und einige der anderen Direktoren einige Untersuchungen
an, die uns enthüllten, daß Herr Cameron ein Buch mit einem Privatschlüssel
besaß, das wir noch nie gesehen hatten. All der Vorsitzende dieses Buch
öffnete, waren wir alle außerordentlich bestürzt."
Um Herrn Cameron gerecht zu werden, muß man sagen, daß er, ohne die Folgen
dieser Enthüllungen abzuwarten, mit großer Klugheit und Schnelligkeit seinem
englischen Vaterland den Rücken kehrte.
Eine der ungewöhnlichsten und bezeichnendsten Transaktionen der Royal
British Bank war ihre Verbindung mit einigen Eisenwerken in Wales. Zu einer
Zeit, da das eingezahlte Kapital der Kompanie sich auf nur 50.000 Pfd.St.
belief, erreichten allein die diesen Eisenwerken gegebenen Darlehen die Summe
von 70.000-80.000 Pfd.St. Als sich anfangs die Kompanie dieses Eisenunternehmens
bemächtigte, war es nicht betriebsfähig. Nachdem es durch eine Kapitalanlage
von etwa 50.000 Pfd. St. betriebsfähig geworden war, befand sich das Eigentum
in den Händen eines gewissen Herrn Clarke, der es, nachdem er es "einige
Zeit" ausgebeutet hatte, an die Bank wieder losschlug; dabei "verlieh
er seiner Überzeugung Ausdruck, daß er ein großes Vermögen aufgäbe",
hinterließ aber der Bank eine zusätzliche Schuld von 20.000 Pfd.St. auf dieses
"Eigentum". Auf diese Weise entglitt dieses Unternehmen den Händen
der Bank immer dann, wenn die Erzielung von Profiten wahrscheinlich zu sein
schien, und kam immer dann zur Bank zurück, wenn neue Darlehen benötigt wurden.
Dieses Spiel versuchten die Direktoren selbst im letzten Moment ihrer
Geständnisse fortzusetzen, indem sie nach wie vor auf die Gewinnmöglichkeiten
aus diesen Werken hinwiesen, die ihren Worten nach jährlich 16.000 Pfd.St.
einbringen könnten; dabei vergaßen sie, daß die Werke während des Bestehens der
Kompanie die Aktionäre jährlich 17.742 Pfd.St. gekostet haben. Die Affären der
Kompanie sollen jetzt vor dem Court of Chancery aufgerollt werden. Doch ehe das
geschehen kann, werden alle Spekulationsgeschäfte der Royal British Bank in den
Fluten der allgemeinen europäischen Krise untergegangen sein.
["New-York
Daily Tribune" Nr. 4828 vom 9. Oktober
1856, Leitartikel]
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