Erschienen in Ausgabe: No 56 (10/2010) | Letzte Änderung: 27.09.10 |
Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010
von Michael Lausberg
Thilo Sarrazin ist kein Unbekannter im politischen Diskurs. Seine
zynische Äußerung, Hartz-IV-Empfänger könnten sich für weniger als vier Euro
pro Tag ernähren, führte zu heftiger Kritik auch innerhalb der Berliner SPD.[1] In einem Interview in der
Kulturzeitschrift „Lettre International“, das am 30.9.2009 veröffentlicht
wurde, machte Sarrazin rassistische Äußerungen über die Wirtschafts- und Migrationspolitik
der Stadt Berlin.[2]
In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser
Lands aufs Spiel setzen.“ geht es um „Gefährdungen und Fäulnisprozesse im
Inneren der Gesellschaft“[3] und deren Überwindung. Sarrazin geht von
angeblich existierenden „genetisch bedingten Unterschieden in Intelligenz und
Temperament“[4] beim Menschen aus und folgert daraus:[5] „Dass in Deutschland
überdurchschnittlich viele Kinder in sogenannten bildungsfernen Schichten mit
häufig unterdurchschnittlicher Intelligenz aufwachsen, lässt uns schon aus rein
demographischen Gründen durchschnittlich dümmer werden.“ Da „Intelligenz (…) zu
50 bis 80 Prozent erblich“[6] sei, sei für einen großen Teil der
Kinder aus bildungsfernen Schichten der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits
quasi vorprogrammiert, da sie gemäß „den Mendelschen Gesetzen die
intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern erben“.[7]
Sarrazin geht davon aus, dass sich in den letzten
Jahrzehnten eine Tendenz entwickelt hat, alles auf die gesellschaftlichen
Verhältnisse zu schieben und so den Einzelnen moralisch von der Verantwortung
für sich und sein Leben zu entlasten.[8] Mit Pauschalisierungen hetzt er gegen
eine nicht näher definierte „Unterschicht“, die in einer „Wohlfahrtsdiktatur“[9] auf die Befriedigung kurzfristiger
Bedürfnisse wie „Alkohol, Zigaretten, Medienkonsum und Fastfood“ konzentriert
sei.[10] Die angeblich üppigen Sozialleistungen
wären dafür verantwortlich, dass „Leistungsferne und mangelhaften Willen zur
Selbsthilfe teilweise belohnt und damit zur Verfestigung einer
transferabhängigen Unterschicht beiträgt.“[11]
Sarrazin spricht abwertend von einer „Armut im Geiste“ vieler Vertreter dieser
„Unterschicht“. Dies sei eine „Kombination aus Bildungsferne,
Sozialisationsdefiziten sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und Lebensenergie.“[12] Er spricht sich gegen eine Fortbildung
und Umschulung von Transferempfängern aus, da laut Sarrazin „alle
Untersuchungen nämlich darauf hinweisen“, dass solche Maßnahmen bei dieser
Zielgruppe keine belegbaren nennenswerten Beschäftigungseffekte auslösen
würden.[13] Dies ist eine bewusst gesteuerte
Falschmeldung, genügend wissenschaftliche Untersuchungen beweisen das
Gegenteil.[14]
Seine „Änderungsvorschläge“ laufen auf eine heftige Kürzung
der staatlichen Leistungen hinaus, „um mehr Anreize zur Arbeitsaufnahme zu
schaffen“. Weiterhin soll eine Art Arbeitspflicht eingeführt werden:[15] „Erwerbsfähige Menschen unter der
gesetzlichen Altersgrenze erhalten Leistungen der Grundsicherung nur noch gegen
eine verpflichtende Gegenleistung.“
Mit rassistischen Stereotypen heizt Sarrazin die Debatte um
die Migrationspolitik weiter an:[16] „Die deutsche Einwanderungspolitik der
letzten Jahrzehnte hat nicht die Leistungsträger fremder Völker angelockt,
sondern vornehmlich Landbewohner aus eher archaischen Gesellschaften, die in
ihren Heimatländern am unteren Ende der Rangskala wie auch der Bildungsskala
angesiedelt sind.“
Angeblich homogene Zuwanderungsgruppen werden ohne jeden
Hinweis auf eine verwertbare Quelle mit dem Stigma des Sündenbocks belegt:[17] „Belastbare empirisch-statistische
Analysen, ob die Gastarbeiter und deren Familien überhaupt einen Beitrag zum
Wohlstand erbracht haben oder erbringen werden, gibt es nicht. (…) Für Türken
und Marokkaner wird man sie sicher verneinen können.“ Sarrazin plädiert dafür,
die weitere Zuwanderung nach Deutschland mit Ausnahme „hoch qualifizierter
Experten“ generell zu beenden.
Vor allem muslimische Migranten werden undifferenziert als
Sündenböcke für eine seiner Ansicht nach verfehlte Migrationspolitik
ausgemacht:[18] „Eine Zuwanderungs- und
Integrationsproblematik (…) gibt es heute in Deutschland ausschließlich mit
Migranten aus der Türkei, Nah- und Mittelost, die zu mehr als 95% muslimischen
Glaubens sind.“ Diese „mangelnde Integration“ sei den „Attitüden“ der
muslimischen Einwanderer geschuldet:[19]
„Sie haben als Einzige zu großen Teilen Sprachprobleme, sie bilden zugleich
einen wesentlichen Teil der Unterschicht und Transferbevölkerung in
Deutschland, und ihre Kinder haben die größten Schwierigkeiten im deutschen
Bildungssystem.“ Sarrazin sieht in den muslimischen Migranten zum großen Teil
„Sozialschmarotzer“:[20] Ohne die Grundsicherung hätten außerdem
zumindest Türken und Araber in Deutschland ein anderes generatives Verhalten
gezeigt. Insbesondere unter den Arabern in Deutschland ist die Neigung weit
verbreitet, Kinder zu zeugen, um mehr Sozialtransfers zu bekommen, und die in
der Familie oft eingesperrten Frauen haben im Grunde ja kaum etwas anderes zu
tun.“
In antiislamischer und rassistischer Diktion verkündet
Sarrazin, muslimische Einwanderer würden eine gesellschaftliche Gefahr
darstellen:[21] „Das westliche Abendland sieht sich
durch die muslimische Immigration und den wachsenden Einfluss islamistischer
Glaubensrichtungen mit autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen
Tendenzen konfrontiert, die nicht nur das eigene Selbstverständnis
herausfordern, sondern auch eine direkte Bedrohung unseres Lebensstils
darstellen. (…) Kulturell und zivilisatorisch bedeuten die Gesellschaftsbilder
und Wertvorstellungen, die sie vertreten, einen Rückschritt. Demografisch
stellt die enorme Fruchtbarkeit eine Bedrohung für das kulturelle und
zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar.“
Ohne einen einzigen Beleg bringt Sarrazin allen Ernstes
Migranten aus dem Nahen Osten mit „Erbkrankheiten“ in Verbindung:[22] „So spielen bei Migranten aus dem Nahen
Osten auch genetische Belastungen – bedingt durch die dort übliche Heirat
zwischen Verwandten – eine erhebliche Rolle und sorgen für einen
überdurchschnittlichen hohen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten.“
Im Stile der NPD-Postille „Deutsche Stimme“ oder der „Jungen
Freiheit“ entwirft Sarrazin das Angstszenario eines angeblichen „Aussterbens
der Deutschen“:[23] „Bleibt die Geburtenrate der Migranten
dagegen dauerhaft höher als die der autochthonen Bevölkerung, so werden Staat
und Gesellschaft im Laufe weniger Generationen von den Migranten übernommen.“
Er schürt bewusst das Phänomen der „Überfremdung“:[24]
„Für mich ist es wichtig, dass Europa seine kulturelle Identität als
europäisches Abendland und Deutschland seine als Land mit deutscher Sprache
wahrt. (…) Ich möchte, dass auch meine Urenkel in 100 Jahren noch in
Deutschland leben können, wenn sie dies wollen. Ich möchte nicht, dass das Land
meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite
Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen
und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird. Wenn ich das erleben
will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen. (…) Ich möchte nicht,
dass wir zu Fremden im eigenen Land werden.“
Diese Argumentation ist nichts anderes als die altbekannte
Parole „Ausländer raus“, nur in einer anspruchsvolleren Wortwahl gekleidet.
Sarrazins Denken wird von einem Dualismus zwischen „Deutschen“ und „Migranten“
geprägt, wobei die letzteren als Gefahr für die Homogenität der „deutschen
Nation“ gesehen werden. Gegen diese „Fehlentwicklungen“ spricht sich Sarrazin
für „einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation“ aus, ohne den „unsere
gesellschaftlichen Probleme“ nicht gelöst werden könnten.[25]
Untergangsszenarien, wie in extrem rechten Kreisen üblich, gehören auch zur
Argumentationsweise Sarrazins:[26] „Deutschland ist, wirtschaftlich
gesehen, in der Spätphase eines goldenen Zeitalters, das um 1950 begann und
langsam zu Ende geht.“
Das Buch von Sarrazin besteht in großen Teilen aus nicht
wissenschaftlich belegten Thesen, Halbwahrheiten, Zuspitzungen,
Pauschalisierungen und rassistischen Stereotypen, eine sachliche und seriöse
Auseinandersetzung mit verschiedenen politischen Themenfeldern sieht anders
aus. In den Bereichen der Migrations- und Integrationspolitik wird
undifferenziert gegen Einwanderer gehetzt, was die sachliche Diskussion und den
sozialen Frieden in der BRD beeinträchtigt. Sarrazin huldigt anthropologisch
einem radikalen Utilitarismus, die Sortierung von Menschen in „nützlich“ und
„unnütz“ für die bundesrepublikanische Gesellschaft ist ein Fingerzeig für sein
zweckrationales menschenverachtendes Weltbild.
Mit seinen abwertenden und undifferenzierten Bemerkungen
über den Islam befördert er die antiislamische Strömung in der BRD, die schon
in beträchtlichen Teilen der Bevölkerung vorhanden ist.
Viele seiner Thesen werden schon seit Jahren und Jahrzehnten
in rechten Publikationsorganen wie der NPD-Zeitung „Deutsche Stimme“ und in der
„Jungen Freiheit“ kolportiert. Sarrazins „Verdienst“ besteht darin, diese
Thesen in einer breiten Öffentlichkeit salonfähig gemacht zu haben.
[1]
Der Tagesspiegel vom 30.7.2008
[2]
Lettre International, Berlinheft vom 30.9.2009
[3] Sarrazin, T.: Deutschland
schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010, S, 7
[4] Ebd., S. 24
[5] Ebd., S. 100
[6] Ebd., S. 91f
[7] Ebd., S. 174
[8] Ebd., S. 10
[9] Ebd., S. 138
[10] Ebd., S. 148
[11] Ebd., S: 134
[12] Ebd., S. 132
[13] Ebd., S. 185
[14] Vgl. dazu Nispel,
A./Szablewski-Cavus, P.: Über Hürden, über Brücken. Berufliche Weiterbildung
mit Migrantinnen und Migranten, Frankfurt/Main 1997; Grünhage-Monetti, M.
(Hrsg.) Interkulturellen Kompetenz in der Zuwanderungsgesellschaft, Bielefeld
2006
[15] Sarrazin, T.: Deutschland
schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010, S. 177
[16] Ebd., S. 58
[17] Ebd., S. 260
[18] Ebd., S. 265
[19] Ebd., S. 235
[20] Ebd., S. 150
[21] Ebd., S. 266f
[22] Ebd., S. 370
[23] Ebd., S. 259
[24] Ebd., S: 308f
[25] Ebd., S. 18
[26] Ebd., S. 11
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Warszawski 26.09.2010 17:48
Ich darf mir kein Urteil darüber bilden, ob Sarrazins Thesen schon seit Jahren und Jahrzehnten in der NPD-Zeitung „Deutsche Stimme“ und in der „Jungen Freiheit“ kolportiert werden, da ich diese Blätter nicht zu lesen pflege. Auch habe ich das Buch „Deutschland schafft sich ab“ niemals in Händen gehalten, geschweige darin geblättert oder gar gelesen. ---------------------- Wozu dann der Kommentar? Weil sehr viel über Sarrazin und sein Buch publiziert wird, ohne auf den Inhalt einzugehen. Lässt man Gene und andere Irrelevantien weg, so verbleibt die These, dass bestimmte Immigranten Probleme mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft haben und vice versa. Sarrazins Verdienst ist es nicht, diese Thesen in einer breiten Öffentlichkeit salonfähig gemacht, sondern augenscheinlich dieses Problem äußerst erfolgreich aus der rechten Schmuddelecke in die Mitte der Gesellschaft verfrachtet zu haben. . ---------------------- Vielleicht existiert das Problem gar nicht. Vielleicht löst sich das Problem in Nichts auf, wenn wir die Augen fest verschließen. Vielleicht wird die Problemlösung von Tag zu Tag mehr Gewalt freisetzen. Vielleicht werden alle Beteiligten am Problem zugrunde gehen. ---------------------- Doch Eines ist sicher: Was wir auch tun oder unterlassen, unter den Folgen werden WIR ALLE leiden.