Erschienen in Ausgabe: No 56 (10/2010) | Letzte Änderung: 27.09.10 |
von Heike Geilen
Der
1956 in Bukarest geborene Mircea Cărtărescu zählt in Rumänien zu den
bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellern. Im Alter von 22 Jahren begann er
zu schreiben, verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Rumänischlehrer, war
Redakteur beim Magazin Caiete Critice
(Literarische Hefte) und arbeitete als Dozent an der Universität in Amsterdam.
Seit 1991 lehrt er rumänische Literatur an der Universität inBukarest.
Mit seinem Prosaband "Nostalgia", in dem er sich im prächtig
heruntergekommenen Bukarest der siebziger und achtziger Jahre bewegt, wurde der
Schriftsteller vor zehn Jahren auch in Deutschland bekannt. 2007 schlug dann
hierzulande sein überbordender Roman „Die Wissenden“ ein und reizte die
Kritiker zu wahren Begeisterungsstürmen.
Labyrinthische
Traumlandschaften, entfesselte surreale Beschreibungsorgien, morbide Fantastik
und erlesene Manierismen sind die Markenzeichen dieses Autors. Er versteht es
auf unnachahmliche Weise den Leser in ein Wechselbad der Gefühle zu versetzen;
auf der einen Seite ein wahrer Bilderrausch, der beinahe von überirdisch
leuchtender Schönheit ist, um im nächsten Augenblick in puren Horror zu kippen.
So auch in seinem frühen Werk „Travestie“, das erst 16 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung
ins Deutsche übertragen wurde. Vorab darf hier dem Übersetzer Ernest Wichner
für seine großartige Sprachtransformation gedankt werden, die Cărtărescus
Duktus kongenial wiedergibt.
„Travestie“
ist ein Entwicklungsroman eines Hermaphroditen (Zwitter). Bereits der 2003 mit
dem Pulitzer-Preis geehrte Jeffrey Eugenides brachte dieses Thema in
„Middlesex“ zur Sprache. Doch Cărtărescus Protagonist durchlebt psychisch
tiefere Höllenqualen. Er wird bis zu seinem vierten Lebensjahr als Mädchen erzogen,
bis sich seine Eltern darauf einigen, sein Geschlecht zu verwandeln und aus dem
Mädchen über Nacht einen Jungen zu machen. Wie tiefgreifend dieser physische
Eingriff auch die Psyche des Kindes betraf, zeigt sich 11 Jahre später, als bei
dem nunmehr Fünfzehnjährigen die verdrängten Ereignisse mit voller Wucht
hervorbrechen. Das schwelende Trauma, jener „Drachen
aus bengalischen Feuern, der sich in meinem zurückgezogenen, schüchternen
Adoleszentenleben erhoben hat und schreit“, suchen infolge einer homosexuellen
Belästigung seines Mitschülers Lulu mit voller Wucht den Weg an die Oberfläche.
Viktor erleidet einen Nervenzusammenbruch, dem Jahre nicht anschlagender
Therapien folgen: „Ich habe gesoffen, bis
ich mich am Rand einer Bauchspeicheldrüsenentzündung befand. Habe so viele
Phiolen mit Nevrasthènin geschluckt, dass sich meine Gesichtshaut giftig
gelblich-grün verfärbt hat. War zwei Wochen lang im Sanatorium in Buşteni und
habe es verstörter und verwilderter dennje wieder verlassen.“
Erst
eine Schreibtherapie, mit der das Gedächtnis stimuliert und die „die Verknotung der Eingeweide, dieses in
mein Hirn eingewobene Mandala“ entwirren soll, hilft. Viktor versucht die
Nacht seines cerebralen Gewebes zu durchleuchten und den Kampf mit der
unerträglichen Chimäre, die in seinem Inneren wütet, aufzunehmen. „Wir waren die Hölle dieser von unserem
Geist erträumten und angestrebten Welt,und der Weg durch die Hölle bis hinab in ihre Abgründe war der einzige
uns zugängliche Weg. Es gab eine verborgene Symmetrie, welche die unteren
Organe den oberen entgegensetzte, Geschlecht-Gehirn, mithin mussten wir bis auf
den Grund unserer latrinenartigen Kloaken, um irgendwann einmal in die höheren
Regionen aufsteigen zu können“, sinniert Victor beinahe im Fieberwahn.
Plötzlich erinnert er sich an das frühkindliche Ereignis, findet den Ausgang
aus der „magischen Trasse“ seines Traums und gleichzeitig das verbotene Zimmer,
so dass er seine angebliche „Schwester“ als sein Selbst identifizieren kann.
Nach dem anfänglichen Schock, ob der „schmerzhaften Erinnerungsblitze“ geht er
aus der psychischen Schlacht des „widerwärtigen Dramas seines Lebens“ geheilt
hervor und findet zu sich selbst.
Mircea
Cărtărescu offenbart mit „Travestie“ ein wahres Crescendo
halluzinatorischer,paralysierender,
teils wahnhafter Gedankengänge, sexueller Obsessionen und nahezu schizophrener
Tagträume voller tiefer symbolischer Bedeutungen. Gleichzeitig jedoch zeichnet
sich das Buch durch eine hochpoetische Sprache und unglaubliche Bildhaftigkeit
aus („... spürte ich plötzlich, wie mir
das Hirn knackte, wie sich meine zerebralen Hemisphären separierten, die eine
behielt das ganze Grauen das endlos zunahm, die andere die ebenso unbegrenzte
Ekstase vor dem Schönen.“). Der kleine Roman, der mittlerweile in viele
Sprachen übertragen wurde,ist
apokalyptische Dichtung und kohärente Erzählung in einem und bekam nicht zu
Unrecht in Rumänien die zwei größten literarischen Preise verliehen (Romanian
Writer’s Union Prize, ASPRO Prize). Er ist sicher nicht einfach zu lesen, aber
wenn man sich auf Cărtărescus Diktion einlässt, in sie abzutauchen vermag,
erlebt man ein wahres Bilderfeuerwerk im eigenen Kopf. In „Travestie“ gehen die
Töne „in Farben über und die Farben in
Töne, die Zeit dehnt und verdichtet sich, die Gesichter verschwimmen
unvermittelt ineinander und vermengen ihre Züge.“
Das
letzte Wort des Romans „VERSCHWINDE “ teilt man nach der Lektüre keinesfalls.
Hier möchte man ein „BLEIB!“ hinterherrufen.
Mircea
Cărtărescu
Travestie
Suhrkamp
Verlag, Berlin (August 2010)
172
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3518421794
ISBN-13:
978-3518421796
Preis:
17,90 EURO
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