Erschienen in Ausgabe: No 53 (7/2010) | Letzte Änderung: 06.10.10 |
von Arnulf Baring
Deutschland - wohin gehst du?" Das ist eine Frage an
eine Person. Aber die Deutschen denken nicht mehr an ihr Land in dieser Weise.
Anders als General de Gaulle, der am Anfang seiner Erinnerungen schrieb, er
habe sich Frankreich immer als Prinzessin vorgestellt. Er dachte also an sein
Land wie an eine Frau, und in diesem Gedanken spielte demnach auch eine
erotische Komponente eine Rolle. Wie im Märchen sah er Frankreich als
Königstochter vor sich, die er sich zu Herzen nahm und der zu dienen er fest
entschlossen war.
Man wird kaum in Deutschland jemanden finden, der sich die Frage nach
Deutschlands Zukunft in dieser Form stellt. Niemand denkt an Deutschland als
Person. Das liegt daran, daß den Deutschen Deutschland verlorengegangen ist.
Deutschland als Person, Deutschland als eine gemeinsame Vorstellung, der alle
zu dienen, nachzueifern haben, für die zu arbeiten, deren Zukunft zu sichern es
sich lohnt, gibt es nicht mehr. Deutschland in diesem Sinne ist sehr weit weg
von uns.
Woran liegt das? Ich glaube, dieser Verlust liegt in erster Linie daran, daß
wir in der zweiten Nachkriegsphase, nicht in der ersten, also von der Mitte,
dem Ende der sechziger Jahre an, unsere Vergangenheit der NS-Zeit mit einer
Gründlichkeit unter die Lupe genommen haben, die sicher notwendig, auch wichtig
war, aber dann übertrieben wurde und uns nicht gut bekommen ist. Man kann
diesen Selbstzweifel deutlich ablesen am Aufkommen und der Verwendung des
abscheulichen Wortes: "Tätervolk". Dieser Begriff ist eine Ungeheuerlichkeit.
Denn er suggeriert nicht nur, daß viele Deutsche in einer bestimmen Phase ihrer
Geschichte mehr oder weniger wissend oder unwissend, helfend oder passiv, dazu
beigetragen haben, fürchterliche Verbrechen an den Juden und anderen Menschen,
vor allem in Osteuropa zu begehen. Die Bezeichnung "Tätervolk"
signalisiert vielmehr, daß Verbrechen strukturell in den Deutschen angelegt
seien. Man tut so, als neigten die Deutschen, sobald sie dazu Gelegenheit
haben, zu derartigen Exzessen. Jeder, der den deutschen Namen trage und in
Zukunft tragen werde, sei diesem Generalverdacht ausgesetzt. Dieser Vorwurf ist
den Deutschen so unter die Haut, derart an die Nieren gegangen, daß sie ihr
kollektives Selbstvertrauen und damit auch ihre Zuversicht, die eigene Zukunft
und die des Kontinents gestalten zu dürfen, verloren haben. In meinen Augen ist
tiefsitzender Selbstzweifel ein wesentlicher Grund für die Stagnation im Lande.
Er erklärt meines Erachtens großenteils, warum das Land so maulig, unfroh und
lustlos mit sich selbst und seinen Problemen umgeht.
Woran erkennt man das? Sie werden zum Beispiel bei uns selten eine öffentliche
Veranstaltung finden, bei der alle mitsingen, selbst bei der Nationalhymne
nicht. Musik spielt in unserer politischen Selbstwahrnehmung keine zentrale
Rolle. Dabei wissen wir doch alle, wie wichtig Lieder nicht nur für die eigene
Stimmung sind, für die positive Kraft, die von ihnen ausgeht, sondern welch
große Rolle Lieder auch für die Bestätigung der kollektiven Identität spielen. Wenn
man irgendwo im In- oder Ausland auftreten soll, wenn verschiedene Völker
zusammenkommen und jede Nation aufgefordert wird, ein Lied zu singen, dann
haben Deutsche, vor allem junge Menschen, Schüler und Studenten, die größten
Schwierigkeiten, irgendeinen Text zu finden, der gemeinsamer Besitz ist.
Ich bin vor einer Weile mit einer Studentengruppe im Gebirge gewesen. Wie Sie
wissen, regnet man im Gebirge gelegentlich anhaltend ein und langweilt sich. Da
kam mir der Gedanke, die Studenten zu fragen, wann sie denn in letzter Zeit
gerne Deutsche gewesen seien. Ich habe mich stundenlang für diese Frage
rechtfertigen müssen - wie ich sagte: Es regnete und regnete, und es gab daher
keinen Grund, das Gespräch zu unterbrechen. Einer der Studenten sagte: "Ich
habe eine italienische Freundin. Gehört das zu Ihrem Thema? Wollen Sie mir
Laura übelnehmen?" Ich sagte: "Nein, natürlich nicht. Aber wenn Sie
dieser italienischen Freundin ein Gedicht von Eichendorff vorgelesen hätten,
das Ihnen wichtig ist, würde das zum Thema gehören." Ein anderer meinte:
"Ich wandere gern in den Pyrenäen, nicht in den deutschen Bergen, den
Bayerischen Alpen. Ist das in Ihrem Sinne unzulässig?" Ich antwortete:
"Nein. Sie können wandern, wo Sie wollen. Aber wenn Sie irgendwo in
Deutschland eine besonders schöne Ecke gesehen hätten oder wenn Sie, ein
anderes Beispiel, ein deutsches Musikstück tief im Herzen berührt hätte, würde
das zum Thema gehören."
Ich habe den Eindruck, daß positive Gefühle gegenüber unserem Lande auch noch
in den jetzt heranwachsenden Generationen weithin tabuisiert sind. Mir scheinen
viele Deutsche untergründig emotional gestört. Wir haben nicht nur
Schwierigkeiten, weil das Land mehr und mehr überaltert und die Jungen sich von
vornherein als Minderheit empfinden, sondern auch, weil bis in die jetzige
Jugend hinein der Eindruck vorherrscht, eine positive Bejahung Deutschlands sei
eigentlich unzulässig.
Woher kommt das? Ich habe eben schon angedeutet, daß diese negative
Grundeinstellung aus den späten sechziger Jahren stammt. Es gab damals durchaus
begründeten Anlaß, die älteren Generationen zu befragen. Nach Meinung der
Heranwachsenden mußte aufgeklärt werden, inwieweit die Eltern daran beteiligt,
dafür verantwortlich waren, was das Dritte Reich angerichtet hatte. Die Generation
der Eltern war wortkarg, sie schwieg über ihre Beteiligung, weil sie selbst
nicht recht begriff, inwieweit genau sie Schuld auf sich geladen hatte. Eltern
hatten Schwierigkeiten, die eigene Verantwortung zu thematisieren. Sie fanden
es schwierig, vor den eigenen Kindern, erst recht vor Fremden das eigene
Verhalten während jener zwölf Jahre zu rechtfertigen.
Aber die dauerhafte Verwerfung der Eltern, die in den späten sechziger Jahren
um sich griff, hatte eine fatale Folge. Es ist verständlich, wenn in der
Pubertät Heranwachsende sich auf dem Weg ins eigene Leben zeitweilig von ihren
Eltern abgrenzen. Aber wenn sich diese Ablehnung dauerhaft verfestigt,
schneidet man sich zugleich die eigenen Wurzeln ab. Sobald man nicht mehr
hinter sich die Generationen kennt und fühlt, die vor uns waren, die Eltern,
Großeltern und Vorfahren, dann verliert man die Orientierung, den Halt, den
sicheren Boden. Man verarmt nicht nur privat. Auch als Kollektiv verlor damals
Deutschland die Kräfte, die aus früheren Generationen unseres Landes in uns als
Beispiel und Vorbild weiter wirken können und sollten.
Die Deutschen haben seit den späten sechziger Jahren ihre Vergangenheit
verloren. Wenn ich einen Vortrag ankündige: "Lehren der deutschen
Geschichte", muß ich damit rechnen, daß fast alle Anwesenden Erwägungen
über die Jahre 1933/45 erwarten. Unsere Geschichte ist im Bewußtsein der
Zeitgenossen auf den Nationalsozialismus geschrumpft. Man muß heute
feststellen, daß alle anderen historischen Assoziationen wegen der allgemeinen
Unkenntnis ins Leere gehen.
Ich möchte keinen Augenblick Gefahr laufen, das Desaster jener zwölf Jahre und
die moralische Diskreditierung, die mit uns sein wird, in Vergessenheit geraten
zu lassen. Aber daß die Hitlerphase so ausschließlich das Bild Deutschlands
bestimmt, ist meiner Ansicht nach falsch. Man muß mit Untaten der Vergangenheit
leben lernen. Man muß sie ohne Beschönigung, aber mit Augenmaß einordnen in die
Zeiten davor und danach. Das nimmt dem Nationalsozialismus nichts von seinen
Schrecken. Er war die größte Katastrophe unserer langen Geschichte. Aber er ist
nicht unsere ganze Geschichte, kann nicht allein unsere Selbstdeutung abgeben.
Seltsamerweise ist ja in Deutschland nicht nur die Zeit vor 1933 weithin nicht
mehr präsent, sondern auch die Jahrzehnte nach 1945. Wenn man heute über die
Ära Adenauer redet und beispielsweise versucht, eine Figur wie Kurt Schumacher
verständlich zu machen, stellt man immer wieder fest, daß auch diese nur wenige
Jahrzehnte zurückliegenden Zeiten in Vergessenheit geraten sind.
Überall schwindet die Kraft der Erinnerung, aber nirgendwo so stark wie in
unserem Lande. Das macht mich skeptisch. Nur eine Nation, in der die Bürger und
besonders die Eliten die gemeinsame Geschichte kennen und ihr auch gute Seiten
abgewinnen, kann nach meiner Ansicht die Kräfte entwickeln, mit denen sich
Zukunft positiv gestalten läßt. Das heißt natürlich nicht, daß die Deutschen in
unserem föderalen Staat alle das gleiche Geschichtsbild haben müssen. Ich halte
ein einheitliches nationales Geschichtsbewußtsein nicht für möglich, vielleicht
nicht einmal für wünschenswert. Unsere Verankerung in der Vergangenheit wird
regional unterschiedlich sein. Den Bayern liegen andere Vorgänge am Herzen als
Menschen in Schleswig-Holstein. Und man hat am Rhein andere historische
Erfahrungen gemacht als in Brandenburg oder Sachsen. Goethe hat angesichts der
Griechenverehrung in der Klassik seinen Landsleuten zugerufen: "Jeder sei
ein Grieche auf seine Weise, aber er sei's!" Das gilt auch für die Deutschen
heute: Jeder sei ein Deutscher auf seine Weise. Er bringe sich, seiner
Umgebung, seinen Kindern und Enkeln Orte und Texte aus der lokalen, regionalen,
nationalen Geschichte nahe, die ihm besonders wichtig scheinen. Nur wenn sie
ihm spürbar am Herzen liegen, wird er auch imstande sein, seinen Enthusiasmus
Jüngeren zu vermitteln.
Wir sind heute himmelweit von einer solchen Einstellung entfernt. Man kann
unser geschrumpftes deutsches Selbstgefühl deutlich ablesen an der Diskussion,
die wir vor einiger Zeit über den Begriff der "Leitkultur" hatten.
Der Begriff war Friedrich Merz eher zufällig aus der Tasche gefallen, hatte
dann aber eine erhebliche Debatte ausgelöst, ob es so etwas wie gemeinsame
Leitvorstellungen für die Deutschen und dann auch für die Zuwanderer gäbe.
Diese Frage ist dringlich, sehr berechtigt. Wir können, ja müssen von uns
selbst erwarten, daß wir grundlegende politische, rechtliche, historische,
kulturelle Erfahrungen uns gemeinsam zu eigen machen. Wir müssen den
Zuwanderern vermitteln, daß auch sie sich in gleicher Weise hier bei uns
verwurzeln müssen. Solange wir allerdings erkennen lassen, daß wir uns selbst
für minderwertig halten, wird die Verlockung gering sein, wirklich Deutscher zu
werden.
Wie aber soll es zu einer vernünftigen Integrationspolitik kommen, wenn wir
nicht wissen, wer wir sind und was uns wichtig ist? Ausländer, die auf Dauer zu
uns kommen und hier bleiben wollen, müssen wissen, worauf sie sich einlassen.
Was heißt Integration? Eigentlich, daß die Zuwanderer im Laufe von zwei,
vielleicht drei Generationen so deutsch werden wie die, die immer Deutsche
gewesen sind. Dieses Ziel wagt niemand zu benennen. Aber wenn man weiß, daß die
Deutschen ein erhebliches demographisches Problem haben, dann ist
offensichtlich, welche entscheidende Bedeutung einer gelungenen, vollen
Integration zukommt.
Im vergangenen Jahr habe ich zeitweilig allen Menschen, die ich traf, immer die
gleiche Frage gestellt: "Wie stellen Sie sich Deutschland in 100 Jahren
vor?" Verblüffenderweise war die Antwort immer oder fast immer: "Dann
gibt es uns gar nicht mehr!" Das fand ich seltsam - und sehr
aufschlußreich. Es gab unter den Antwortenden im wesentlichen zwei Gruppen, die
sehr unterschiedlich argumentierten. Die Optimisten waren der Meinung, Deutschland
werde in Europa aufgehen. Am Beginn des 22. Jahrhunderts werde man den
Unterschied zwischen Franzosen, Italienern und Deutschen so gering empfinden
wie heute den zwischen Friesen, Sachsen und Bayern. Ich glaube das übrigens
nicht. Ich denke, daß die Nationen in ihrer kulturellen und geschichtlichen
Prägung sehr unterschiedlich bleiben werden. Im deutschen Verhältnis zu Polen
läßt sich ahnen, wie die massenhaften beiderseitigen Untaten im und nach dem
Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich Jahrhunderte brauchen werden, bis alle Wunden
verheilt sind und das Verhältnis wirklich zur Ruhe kommen kann.
Die zweite Gruppe der von mir Befragten waren Pessimisten. Sie waren überzeugt,
daß die Deutschen in einer ungeregelten Zuwanderung in die Minderheit geraten,
in einer zunehmend fremdbestimmten, nicht integrierten, nicht eingedeutschten
Umgebung verblassen werden. Das macht Angst.
Die Politiker aller Parteien in Deutschland sind groß geworden in Zeiten
wachsenden, für dauerhaft gehaltenen Wohlstands - zunächst realen, dann
eingebildeten Wohlstands. Sie sind Verteilungspolitiker, haben jahrzehntelang
durch wachsende Versprechungen die Zustimmung der Bürger zur Demokratie
erkauft. Heute haben wir eine umgekehrte Situation. Jetzt müssen wir Zumutungen
statt Zuteilungen unter die Leute bringen. Das setzt eine andere politische
Sprache voraus. Man muß Zuversicht verbreiten, indem man sich historisch
erinnert, frühere Krisen benennt und darauf hinweist, wie diese damaligen,
teilweise großen Krisen erfolgreich gemeistert worden sind. Wenn das die
Deutschen damals geschafft haben, dürfen sie heute zuversichtlich sein, die
Probleme auch diesmal erfolgreich zu lösen.
Nehmen wir das Bild, mit dem ich begonnen habe. Stellen wir uns Deutschland als
eine Person vor, die in großen Schwierigkeiten steckt und unser aller Hilfe und
Beistand braucht, um ihr Schicksal zu wenden. Nur wenn wir Deutschland als die
gemeinsame Verantwortung aller begreifen, wird sich die Zukunft des Landes
sichern lassen. Ich bin überzeugt, daß Deutschland seine Würde und
Selbstachtung zurückgewinnen muß - ohne je die Untaten der jüngeren
Vergangenheit zu bagatellisieren oder gar zu vergessen.
Wahrscheinlich sind wir während langer Phasen der deutschen Geschichte das
wichtigste Volk unseres Kontinents gewesen. Wir werden auch weiterhin für den
Fortgang der europäischen Einigung entscheidend bleiben. Vor 100 Jahren haben
wir uns unbeliebt gemacht mit unserer Kraftmeierei. Heute ist es unsere
Schwäche, die Europa bedroht. Dafür werden wir keinen Dank ernten.
Ich möchte mit einem emotionalen Appell schließen: Es lebe die Republik, es
lebe Deutschland!
©-Vermerk: Die Welt
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