Erschienen in Ausgabe: No 57 (11/2010) | Letzte Änderung: 25.10.10 |
von Heike Geilen
„Eines Tages muss ich das alles mal
auseinanderfieseln (...) dann schreibe ich diese Geschichte auf.
Als ich das zu ihm sage, zum jungen Kermeur, ich
erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen war ich sicher, er würde stumm
bleiben wie immer, gleichgültig meinen allzu vagen Sätzen gegenüber, doch
stattdessen, noch während er sich eine Zigarette ansteckte und während er den
ersten Rauch wieder ausstieß, schaute er mich an wie ein seltenes Tier, und
dann lachte er los, als wollte er am Lachen ersticken, dieses Lachen aus
tiefster Tiefe, in dem sich sein Atem und dieser gelbliche Rauch mischten, den
er zugleich ausstieß, ja, er lachte lange, ohne aufhören zu können. Dann wurde
er wieder ernst, betrachtete die Bücherregale an allen Wänden und sagte
schließlich: Aber kein Schwein interessiert sich für Familiengeschichten.“
Wiederholend, erklärend,
scheinbar endlose Einschübe, eine schnörkellose Handlungsführung, sparsame
Beschreibungen und eine lapidare Sprache, das zeichnet die stilistische Finesse
und virtuose Darstellungsform des französischen Autors aus. Doch Tanguy Viel
vermag gerade durch seine Verknappungen und Verdichtungen Räumlichkeiten Tiefe
und Plastizität zu geben sowie immer wieder Überraschungsmomente zu erzeugen.
Aus einem langsamen Strudel aus beinahe ungeschickt beendeten, merkwürdig
ausstaffierten und verschachtelten Sätzen, entfaltet sich ein "unendlicher Parcours aus Bildern,
Gedanken und Rastlosigkeiten, die alle miteinander einen zusammenhängenden
Bericht ergeben.", wie es schon in seinem Vorgänger „Unverdächtig“ zu
lesen war.
Angelegt sind die 140 Seiten
als eine Art kommentierte Inhaltsangabe vergangener Geschehnisse. Der mit sich
Zwiesprache haltende Ich-Erzählers Louis, der über seine Familie einen Roman
geschrieben hat, fährt mit diesem im Gepäck von Paris nach Brest, um eben jene
zu besuchen. Kermeur, der verschlagene Sohn der Putzfrau seiner Großmutter,
spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Vor allem geht es um Geld. So wie
die eine - Louis‘ Großmutter - durch einen glückliche Zufall zu einem enormen
Vermögen kommt, verschwindet im gleichen Atemzug eine nicht minder große Summe
aus der Kasse des lokalen Fußballvereins. Dies wird dem Vizepräsidenten -
Louis‘ Vater - zur Last gelegt und er ist gezwungen mit seiner Familie Brest zu
verlassen. Nur der siebzehnjährige Louis bleibt im Hause seiner Großmutter
wohnen. Und genau dort heckt eben jener Kermeur mit ihm einen perfiden Plan
aus.
Homo homini lupus - Der
Mensch ist des Menschen Wolf (Plautus).
Neid, Intrigen und
Missgunst, vor allem in der eigenen Familie, sowie Heuchelei, Betrug und
Erpressung sind einmal mehr Tanguy Viels literarisches Thema. Vor allem die
Mutter des Ich-Erzählers, eine kalte, hysterische und stets den guten Ruf
wahrende Frau, kommt am wenigsten gut weg. „Paris - Brest“ ist in gewissem Sinn
eine Familiengeschichte; besser jedoch: eine Abrechnung mit Louis‘ Familie,
verpackt in einer kriminalen Humoreske, die gleichzeitig als fein beobachtete
Gesellschaftsstudie fungiert.
Obwohl eine erdrückende
Schwere über dem autobiografisch gefärbten Buch liegt, schafft es der
französische Autor immer wieder mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie,
die vollständige Sezierung seiner Protagonisten zu verhindern und die düstere
Stimmung durch bewusstes Konterkarieren zu unterlaufen.
„Vielleicht, wenn der junge Kermeur an dem Abend
damals nicht so gelacht hätte, wäre die Idee für immer aus meinem Kopf
verschwunden oder wäre immerhin nicht ein paar Monate später so heftig, so
unumgänglich wieder hochgekommen. Monate später, als ich mich an meinen Pariser
Schreibtisch setzte, um meinen Familienroman zu schreiben, da hatte ich dieses
Lachen in den Ohren, das Lachen des jungen Kermeur, und mit diesem Lachen kamen
meine Sätze, kam der Ton des Buchs und die Farbe des Buchs, mit der
Vorstellung, jemand würde meine Sätze mit einem hämischen Lachen übertönen.
Dieses Lachen habe ich in meinem Familienroman häufig erwähnt, denn der junge
Kermeur ist der Einzige, der nicht zur Familie gehört und trotzdem einen
wichtigen Platz in meinem Buch einnimmt. Und dann sprach ich weiter:
Kein Schwein interessiert sich für
Familiengeschichten.“
Ein traditioneller
Familienroman ist „Paris - Brest“ mit Sicherheit nicht, eher eine Parodie auf
selbigen. Hinzu kommt die Raffinesse des Erzählens im Erzählen, ein Roman im
Roman, ganz im Sinne eines anderen großen Franzosen - Marcel Proust.
Tanguy
Viel
Paris - Brest
Aus dem Französischen von Hinrich
Schmidt-Henkel
Verlag
Klaus Wagenbach, Berlin (August 2010)
144
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3803132347
ISBN-13:
978-3803132345
Preis:
16,90 EURO
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