Erschienen in Ausgabe: No 57 (11/2010) | Letzte Änderung: 25.10.10 |
von Shanto Trdic
„Gott
(gepriesen sei Er!) befiehlt, sich auf
Ihn
(gelobt sei Er!) zu verlassen, die Demokratie
befiehlt,
sich auf das Volk zu verlassen. Kann
man
die Gottlosigkeit weiter treiben?
Und
als eine weitere Gottlosigkeit werden diese
Gesetze im Namen des Volkes erlassen…“
nach Ayman al Zawahiri
„Wir
wollen Rechtsstaat und Gesetzmäßigkeit
bewahren,
wenn sie auch unvollkommen sind.“
Alfred Grosser
Es
ist an der Zeit, einmal gründlich und mit gebotener Nüchternheit über einen
Begriff nachzudenken, der mittlerweile so inflationär, oberflächlich und
konform verwendet wird, dass die eigentliche Problematik, die er birgt,
klammheimlich hinter der mutwillig geblähten Fassade zu verschwinden droht. Über
Integration wird derzeit so unvermittelt wie unverhohlen schwadroniert,
schamlos wie selbstverständlich, unverbindlich und unschuldig, ausdauernd bis
ausufernd; stets und ständig. Das Wort ist in aller Munde und noch die kleinste
publizistische Abhandlung kann nicht mehr ohne auskommen, will sie auch nur in
Ansätzen ernst genommen werden. Aber genau hier liegt das Problem: diese begriffliche
Vereinbarung wird selbst gar nicht ernst genommen, wird gebraucht, als hantiere
man mit einer Tube Alleskleber, die schon sämtliche inhaltliche Einzelteile binden,
halten mag. Sie ist in summa zu einem lockeren Allgemeinplatz verkommen, dessen
Bedeutung sich von selbst ergibt und über den zwar vielfältige Meinungen und
Bewertungen im Umlauf sind, die aber im Kern immer konsensfähig bleiben und auf
dasselbe hinaus laufen. Natürlich divergieren die Vorstellungen hinsichtlich
Umsetzung und Sicherung dessen, was mit Integration gemeint ist und erreicht
werden soll; die europäische Denktradition garantiert, das gerade hier
gestritten, geredet – gerungen wird. Das ist gut so und bedarf keiner weiteren
Hinterfragung. Nur wird im Sturm solcher Gefechte völlig übersehen, dass man es
mit einer Begrifflichkeit zu tun hat, die selbst auf schwankendem Grund steht, das
abendländische Denken einer peinlichen Zäsur unterwirft und im Ergebnis die
Fundamente kritisch-rationaler Identität zur Disposition stellt. Wir bemerken
das in aller Regel gar nicht mehr. Es ist uns längst in Fleisch und Blut
übergegangen: alles muss man irgendwie regeln können, auf vernünftige und
überzeugende Weise; jedes Problem wird nach gründlicher Analyse angepacktund dann unter bestimmten Auspizien gelöst,
geläutert – geklärt. Salopp formuliert: Integration ist schwierig, kann aber,
irgendwie, gemacht werden. Das ist eine
schlüssige, indes verkürzte, vielleicht gar irrige Annahme; gerade, wenn wir
uns über die Eingliederung unterschiedlicher muslimischer Bekenntnisgruppen
ernsthaft Gedanken machen wollen. Die übliche Sichtweise, das gängige Szenario
in diesem Zusammenhang: es gibt Schwierigkeiten, aber die kann man mit sinnvollen
Mitteln einhegen oder überwinden, divergierende Ansätze lassen sich
differenziert ausdiskutieren und
Spannungen mittels Aussprache mildern oder, guten Willen vorausgesetzt, friedlich
aus dem Wege räumen, und der Weg selbst ist zwar lang und nicht geradlinig,
führt aber, macht man alles richtig, zum gewünschten Ziel. Ein in diesem
Zusammenhang gängiger, beliebter Ansatz besagt, das es nur darauf ankäme,
frühzeitig Weichen zu stellen und Akzente zu setzen, zu fördern und zu fordern und
das mit einer insgesamt zähen aber befriedigend verlaufenen Integration das
Problem hinreichend erledigt sei. Ein Trugschluss. Ganz im Gegenteil ist eine
gelungene Integration – sie mag tiefgreifend oder nur oberflächlich erfolgt
sein – kein Garant für ein fortgesetzt friedliches, im gegenseitigen
Einverständnis ablaufendes Miteinander. Wenn das so einfach wäre, dann hätte
es, zum Beispiel, keinen 11. September geben müssen. Würden die Attentäter noch
leben, sie setzten gewiss alles daran, es in die große, weite Welt hinauszuschreien:
der Kampf hat erst begonnen, wir werden siegen – es gibt keinen Kompromiss. Dabei
verlief die Sozialisation dieser Verschwörer relativ glatt, sie litten keine
Not, der familiäre Rahmen bot das übliche, bildungsbürgerliche Polster und dies
hätte doch eigentlich garantieren müssen, das die jungen Leute ihre Kritik den
Grenzen zivilrechtlicher Normen unterwerfen. Sie entschieden sich anders. Der
normale Verstand kann und will so etwas nicht nachvollziehen und sucht dennoch,
aus Instinkt, nach Gründen, die irgendwie erklären sollen, was durch nichts mehr
zu entschuldigen ist. Die Attentate vom 11. September sind weniger Beweis, mehr
Zuspitzung zugrunde liegender Tatbestände: wo muslimisches Selbstverständnis,
gleich welcher Tradition, auf westliche Standards trifft, bleibt häufig ein
Zwiespalt, ein Abgrund, eine Kluft bestehen. Der suizidale Killer – Dschihad
ist vielleicht nur eine besonders rigorose, aus Verbitterung und Selbstzweifeln
genährte Form der kulturellen Selbstbehauptung, die auf Erschütterungen der
eigenen Identität hindeutet; eine rabiate, schwer zu greifende Form der Verwirklichung,
Folge einer existenziell erlittenen Verunsicherung, die das Problem im Ergebnis
besonders brennscharf focussiert. Banal gesprochen: man mag eine Generation mehr
oder weniger erfolgreich integrieren; das garantiert keineswegs, das nicht
schon die Nachzügler eingeschlagene Bahnen wieder verlassen und anderweitig
ernst machen – gleichwie.
Es
gibt nicht den Islam; gewiss. Aber es
kommt immer wieder zu Spannungen und Eruptionen durch und mit ihm; sowohl in der
interkulturellen Auseinandersetzung als auch zwischen den divergierenden muslimischen
Bekenntnissen selbst. Aus europäischer Perspektive muss erlaubt sein zu fragen:
kann eine monolithische, strikt Offenbarungseidliche Verkündung wie der Islam
dem kontinentalen Kulturleben angeglichen werden, indem man ihn etwa zu einem
Euro – Islam herunter kocht? Letzteres ist ein typisches Professorenkonstrukt
und man merkt seinem Erfinder, dem Politologen Tibi, mit jeder klugen Zeile den
akademischen Hintergrund an; genauer: den Willen zum Diskurs, auf dem seine
Theorie fußt, ohne wirklich zu stehen. Kann es denn tatsächlich der letzte
Wunsch und Wille dieser stolzen, gebieterischen Religion sein, im
abendländischen Selbstverständnis auf zu gehen, eben: europäisch zu werden? Darf man das ungeschaffene Wort des
Einzigen, Ewigen einer säkularen, strikt areligiösen Wirklichkeit anpassen, die
in zweieinhalb Jahrtausenden mühsam und nicht ohne Rückschritte zu sich selbst
fand, der eigenen Fesseln langsam ledig? Das europäische Denken hat sich unter
gehörigen Wehen auf den heutigen Stand gebracht und dabei vornehmlich aus
eigenen, vielfältig sprudelnden Quellen geschöpft. Es macht überhaupt einen
Unterschied, ob im Zuge kultureller Evolution auf verwandte Traditionen zurück gegriffen
wird oder nicht. Wir vergessen das gern und möchten fest daran glauben, das
unser eigenes, ungebrochen dynamisches Selbstverständnis allen Stürmen trotzen
werde und einen gewissen Modellcharakter habe, durchlässig und federnd genug,
um von selbst zu überzeugen. Wie kommt es dann, dass die Söhne (und auch
Töchter) angepasster, befriedeter Muslime den vorgefundenen Rahmen rechtstaatlicher
Ordnung verlassen (mal mehr, mal weniger, oft absolut) und jenen bärtigen Vorbetern
und Verkündern Folge leisten, die ihrerseits einem archaischen, über alle
Zweifel erhabenen Ideal huldigen? Sie mögen Ausnahmen sein oder einer beachtlichen
Minderheit angehören, die breite Masse der nach Europa eingewanderten Muslime
wird ohnehin beständig wachsen und zunehmend selbstbewusster ihre eigenen
kulturellen Gebräuche praktizieren, die entweder neben den europäischen
Lebensmustern her laufen oder, was unlängst geschieht, mit diesen kollidieren
und entsprechenden Aufruhr verursachen. Das ist unvermeidlich. Niemand wird
bestreiten, dass der eine oder andere Konsens möglich ist, dennoch kann nicht
ausbleiben, dass es weiterhin zu erheblichen Reibungen kommt und zusätzliche Konflikte
entstehen. Menschen muslimischen Glaubens können sich anpassen oder auch nicht,
im Verborgenen agieren oder selbstbewusst an der Oberfläche, Kompromisse
eingehen oder strikt abwinken, lavieren oder lamentieren: dies alles geschieht in
verwirrender Gleichzeitigkeit und zeitigt Folgen, die zur Stunde niemand ernsthaft
abwägen kann. Der Prozess wird sie und auch uns verändern und auf seine Weise
nicht zum Stillstand kommen und keiner derer, die da miteinander ringen wird
wissen, was kommende Geschlechter zusätzlich umtreibt; sie mögen Reformer oder
Traditionalisten, Zuschauer oder Akteure, Mitläufer oder Strategen sein; Mittelwege
einschlagen oder zusätzliche Freiheiten einfordern, Unterschiede machen oder
selbige selbstbewusst einebnen. Und dabei oft genug zwischen die Fronten
geraten. Das alles vollzieht sich vor unser aller Ohnmachts Augen; das Drama
ist eröffnet und nimmt an Fahrt auf. Die Idee, dass Geschichte geradlinig,
zielstrebig und aufsteigend erfolgt, entpuppt sich gerade hier als ein Mythos,
der täglich an der widerspenstigen Wirklichkeit zerschellt. Zurzeit ist alles
im Fluss. Anders gesprochen: ein unruhiger Pendelschlag beherrscht das
Geschehen, sein gnadenloses Auf und Ab wird den Lauf der Dinge zusätzlich
beschleunigen. -
Ist
das alles so schwer zu begreifen? In Wahrheit tun wir uns nur schwer, es als
Fatum auch wirklich zu akzeptieren; wir können, wollen nicht. Und wir dürfen
auch gar nicht. Das ist ein Umstand, der die Problematik endgültig aus dem
aufgeklärt-rationalen Rahmen herauskatapultiert und in eine andere, ebenfalls
europäisch fundierte Betrachtungsweise zwingt, die uns Menschen des 21.
Jahrhunderts fremd geworden ist, jedoch den älteren, Leidgeplagten Semestern
des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufgrund eigener Erfahrungen noch lange gegenwärtig
blieb: ins Tragische. Deutlich wird das etwa, wenn man heute das Verhältnis zwischen
Türken und Deutschen prüft und im Lichte einer fast 50jährigen wechselseitigen Entwicklung
zu bilanzieren versucht. Die Geschichte des türkischen Staates ist hier
zusätzlich aufschlussreich und kann Zusammenhänge, die wir gerne im Dunkeln
beließen, erhellen; grell und scharfkantig genug.
II.
„Es gibt nur einen echten und
vernünftigen Orden –
den der Zivilisation. Um ein ganzer Mann zu
sein,
muss man sich nach dessen
Regeln richten.“
Kemal Pascha, genannt Atatürk
„
Gott sei Dank sind wir Anhänger der Scharia.“
Recep Tayyib Erdogan
Am Anfang ging es nicht um Integration oder Assimilation,
nicht um Bereicherung, Anpassung oder Emanzipation, nicht ums Kopftuch oder die
Scharia; es ging, wie billig, bloß ums Geld. Als die Bundesrepublik Deutschland
im Herbst des Jahres 1961 mit der türkischen Republik ein Abkommen zur zeitlich
begrenzten Anwerbung von Arbeitskräften abschloss, war dies hauptsächlich auf
Drängen Ankaras erfolgt. Durch die erhofften Geldüberweisungen der sogenannten Gastarbeiter
sollte das bedrohliche Handelsbilanzdefizit des türkischen Staates kompensiert
werden. Die damals Verantwortlichen auf türkischer Seite glaubten, dass von den
Heimkehrern, nunmehr mit modernen deutschen Produktionstechniken vertraut, positive
Impulse ausgehen würden, die zur Effizienzsteigerung der heimischen Industrie
beitrügen. Es ist heute en vogue, der deutschen Seite Kurzsichtigkeit vorzuwerfen
und Versäumnisse im Umgang mit den schlichten, damals noch linkisch bis scheu
auftretenden Orientalen anzuprangern. Dabei wird vergessen, dass die
verantwortlichen Politiker dem Abkommen anfangs eher skeptisch gegenüberstanden.
Der damalige Arbeitsminister Blank lehnte es zunächst ab und begründete dies
unter anderem mit der zu großen kulturell-religiösen Distanz, die seiner
Meinung nach zu Konflikten führten könne. Aber die BRD war in Zeiten bipolarer
Verhärtung kein wirklich souveräner Staat und am Ende gab das strategische
Kalkül der USA den Ausschlag: Washington wünschte einen starken, militärisch
verlässlichen Partner als Brückenkopf wider die Sowjetunion. Die Türkei konnte
aufatmen und erwartete, dass die eigenen hohen Arbeitslosenzahlen, durch überproportionales
Bevölkerungswachstum verursacht, wieder fielen. Die meist unqualifizierten, aus
Bildungsfernen Schichten stammenden Arbeitskräfte waren in dem nun folgenden
‚Spiel’ eine Art Konkursmasse, ökonomisch bequem verwertbar und nur unter den
Vorzeichen merkantiler Überlegungen überhaupt von Belang. Im Unterschied zu
Heute war eine Anwerbung ausschließlich für Unverheiratete vorgesehen und ein
Familiennachzug bzw. die Zusammenführung ganzer Sippen wurde explizit
ausgeschlossen. Man wollte diese Leute auch so zügig wie möglich wieder los
werden, die Obergrenze für einen Aufenthalt lag bei 2 Jahren. Bis dahin durften
sie die Drecksarbeit erledigen, d. h. solche Stellen besetzen, für die sich bei
gegebenem Lohniveau nur sehr wenige deutsche Arbeitskräfte bewarben, etwa in
der Leder-, oder Textilindustrie, die aufgrund struktureller Zwänge gerade eine
Senkung der Arbeitskosten forcierte. Natürlich konnte mit Menschen, die in
solche Produktionsbereiche geparkt wurden, keinerlei Innovationsschub
bewerkstelligt werden. Sie waren irgendwann auch nicht mehr von sonderlichem
Interesse für die Republik: die Anwerbung türkischer Wanderarbeiter ging nach
der ersten deutschen Rezession der Jahre 66/67 deutlich zurück und der Ölkrise
73 folgte ein totaler Anwerbestopp. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich annähernd
800.000 Türken in Deutschland. Heinz Kühn, ehemaligerMinisterpräsident Nordrhein Westfalens, wurde fünf Jahre später
erster Ausländerbeauftragter der Bundesregierung und fand den Mut, offen auszusprechen,
was bis dahin niemanden sonderlichinteressiert
hatte: hier waren Menschen gekommen, die bleiben würden, folglich musste man sich
irgendwie, um sie kümmern. Seitdem ist viel Wasser den Rhein heruntergeflossen.
Die ersten derer, die damals kamen, sind heute längst im Rentenalter oder schon
tot, und ihre Kinder, Enkel und Urenkel gehen eigene Wege, von denen niemand
sagen kann, in welche Richtungen sie im einzelnen führen werden.
Die Türkei ist fester Bestandteil der islamischen Welt,
nimmt hier aber eine echte Sonderstellung ein, was nicht zuletzt auf die
tollkühnen Reformbemühungen Kemal Paschas zurückzuführen ist, der sie als Staat
überhaupt erst ermöglichte und seinem Volk eine zivilisatorische Rosskur von
beispielloser Tragweite und Konsequenz verordnete, ohne indes auf verwandte
Überlieferungen oder Ansätze zurückgreifen zu können. Manchmal frage ich mich,
ob man die erste Generation türkischer Gastarbeiter nicht hätte ‚kriegen’
können, wenn man sie nur ausdauernd und nachdrücklich genug nach dem Vorbild Atatürks
‚angepackt’ hätte, der in der gesamten Türkei immer noch wie ein Heiliger
verehrt wird und als wohl glühendster Verehrer und Vollstrecker des
europäischen Modells gelten kann. Nach Atatürk gab es überhaupt nur eine
einzige Zivilisation, eben die europäische. So fremd dieser Ansatz in seinem
eigenen Land auch geblieben sein mag, so oberflächlich und rudimentär im
Vollzug, bei uns hätte man ihm exemplarisch Geltung verschaffen können, aber
wem lag damals schon daran, irgendwelche anatolische Wanderarbeiter für eine
säkulare, freie Gesellschaftsordnung zu begeistern? Man überließ diese Leute
mehr oder weniger sich selbst, und ein im Laufe der Jahrzehnte zunehmend
freizügiger gestaltetes Gemeinwesen schaffte hierzulande wie auch im übrigen
Westeuropa jenes gesellschaftliche Vakuum, das den Nachzüglern aus einem
zutiefst muslimisch geprägten und quasi diktatorisch geführten Land die
Möglichkeit eröffnete, eigene Traditionen und Bräuche immer selbstbewusster,
selbstverständlicher, zum Teil wohl auch exzessiver zu erinnern und entsprechend
zu pflegen. Atatürks Tragik bestand auch darin, das er derlei Umtrieben nur
einen strikt autoritären, straff geführten Apparat entgegenhalten konnte und
durch Verbote und Maßregeln (etwa, was das Tragen des Kopftuches betrifft) gewisse
Tendenzen im Keim erstickte. Diskurse fanden nicht statt, nur Belehrungen, die
das jeweilige Diktat unmissverständlich kommentierten und jede Abweichung
eliminierten. Er soll ein von Melancholien geplagter, zutiefst einsamer und dem
Alkohol verfallener Mensch gewesen sein, dieser stolze, starke Mann; ein Tribun,
der zum Schluss an seinem gewaltigen Unterfangen gezweifelt haben mag, bevor
er, keine sechzig Jahre alt, verstarb, ohne sein revolutionäres Werk nachhaltig
vollenden zu können. Das große, in der islamischen Welt beispiellose Experiment
hat indes Eruptionen gezeitigt, die dem eigenen Volk den Anschluss an eine
dynamische Moderne verschaffte, aber das Alte und Zähe, die wirkungsmächtigen
Wurzeln hat auch der große Reformer nicht kappen können. Hat sich das türkische
Volk insgesamt schon vom Schock seiner ‚Umerziehung von Oben’ erholt? Atatürk
reformierte mit dem Dampfhammer in einem Land, das der demokratischen
Traditionen entbehrte, und die emanzipatorischen Ansätze wurden allesamt
verordnet, nicht erkämpft; auch und gerade die Befreiung der Frau. Das Werk
dieses Gewaltmenschen hat unumkehrbare Folgen gezeitigt und ist ganz gewiss
noch nicht einmal in Ansätzen verdaut, verinnerlicht worden. Wie auch? Ein
Umstand, der schon auf die nächste Tragik hindeutet: bisher haben Militär und
Justiz, beide eher zweifelhaft in ihrer rechtsstaatlichen Justierung, jedes
Abweichen vom kemalistischen Dogma rechtzeitig im Keim erstickt. Neuerdings
werden deren Befugnisse und Spielräume strikt beschnitten, was ironischerweise
durch eine Volksabstimmung ermöglicht wurde. Vielleicht erhofft sich der
jetzige Staatschef der Türkei auf diesem Wege die Vollendung eines Projektes,
dessen Verlauf er freimütig auf einer Wahlkundgebung verkündete:“ Die
Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die
Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln
unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Der New York Times gegenüber
verknappte Erdogan diese Aussage und stieg vom Zug auf die Straßenbahn um.
Demokratie sei nämlich wie diese Straßenbahn: „Wenn du an deiner Haltestelle
angekommen bist, steigst du aus.“ Es entscheide jeder selbst, was er von
solchen Äußerungen zu halten habe, aber unseren Spitzenpolitikern möchte ich die
Aussage eines türkischen Schülers empfehlen, der mir im Anschluss an jene Rede
Erdogans anlässlich seines Deutschlandbesuches 2008 mit einem süss-sauren Lächeln
versicherte: „Der verarscht euch doch nur, merkt ihr das gar nicht?“
III.
„Nur in der Bewegung, so
schmerzlich sie sei, ist Leben.“
Jacob Burckhardt
„Fortschritt besteht
wesentlich darin, fortschreiten zu wollen.“
Seneca
..das Drama
ist eröffnet, seine Rollen sind verteilt, die Handlung wird zum Selbstläufer
und imPublikum regt sich erster, handfester Unmut: das Stück (oder ist
es eine Posse?) entfaltet kontroverse Kräfte und kann nicht mehr umgeschrieben
werden. Bald, so steht zu fürchten, wird es keinen mehr auf den Rängen halten…
…so weit ist
es noch nicht; nicht ganz. Unsere Situation gleicht der Nervosität beteiligter Personengruppen
im Zuge einer eher ungeordnet einberufenen Generalprobe, die zwar in vertrauter
Umgebung statt findet, inmitten altbekannter Requisiten, doch im vollen
Bewusstsein einer Premiere, von der alle weiteren Vorstellungen abhängen
werden. Mehr noch: das Stück selbst ist weitgehend in dichten Nebel gehüllt,
man weiß nur wenig über den zu gestaltenden Stoff, dessen Sprengkraft schon wie
ein Hauch von Schwarzpulver in der Luft hängt. Noch der letzte Statist ahnt die
Bedeutung des Werkes, begreift langsam und eher instinktiv, worum es geht und
das auch er in den Sog folgender Ereignisse mit einbezogen wird…
Die Einwanderung unterschiedlicher muslimischer
Volksgruppen in den mittel-, nord-, und westeuropäischen Teil des Kontinents
ist ein völlig neuartiges Phänomen und stellt die Gesellschaften jeweils
betroffener Staaten vor Herausforderungen, deren Bewältigung aus dem Ruder zu
laufen droht, da auf keinerlei verlässliche Erfahrungswerte zurückgegriffen
werden kann. Hier prallen divergierende Weltanschauungen, Mentalitäten und
Selbstverständnisse zunehmend ungebremst aufeinander und dieses Mal sind die
Spielregeln ganz andere als noch vor 1400 Jahren, als der Islam, als eruptive
Erweckung gerade erst in Erscheinung getreten, in schneller Folge ganze
Erdteile seinem Diktum unterwarf, bevor er langsam erstarrte, während von
Europa aus der Rest der Welt mit Beginn der Entdeckungen in einen gigantischen
zivilisatorischen Sog gerissen wurde, der unendliches Leid verursachte und
dennoch Grundlagen schuf, die noch heute in allen Teilen der Welt Gültigkeit
besitzen. Es nützt nichts: auf die eine oder andere Weise ist fast jede Kultur
davon berührt worden, im Guten wie im Schlechten. Der Islam bildet hier
keineswegs eine Ausnahme. Schon im Mittelalter setzten sich muslimische
Gelehrte mit den antiken Vorläufern westlichen Selbstverständnisses intensiv
auseinander und noch im vergangenen Jahrhundert schworen Staatsmänner von
Format auf genuin westliche Gesellschaftsentwürfe, die sie ihren Untertanen in gewohnt
resoluter Manier auf zwangen. Aber die Atatürk und Nasser, Ben Bella oder Mossadegh
haben ihre weitgesteckten, ehrgeizigen Entwürfe nicht in eine feste, verlässliche,
vor allem: überzeugende Form gießen können. Es hat keine wirkliche Fusion
muselmanischer und abendländischer Werte stattgefunden, anstelle umfassender
gegenseitiger Befruchtung ist es jenseits des Kontinents allenfalls zu einer
oberflächlichen Bestäubung gekommen. Durch die islamischen Gesellschaften in
und außerhalb Europas scheint ein Riss, eine Wunde zu gehen, und es steht zu
vermuten, dass Balsam und Linderung zunehmend aus der altbewährten Hausküche
kommen werden. Weite Teile der Bevölkerung entdecken ihren Glauben neu; auch
und gerade in den europäischen Aufnahmeländern. Heute zeigt sich, im Ergebnis,
ein äußerst grelles, je nach der Herkunft der eingewanderten Gruppen
vielschichtiges und verwirrendes Bild, das den Kontinent auf lange Sicht zu
zerreißen droht.
Es ist schon daran erinnert worden, dass unzählige Spielarten
islamischen Glaubens miteinander konkurrieren; die divergierenden Konfessionen sind
einander mehr oder weniger spinnefeind. Ihre Angehörigen sind auf ganz
unterschiedliche Art und Weise mit der Moderne, mit westlicher Lebensart
verbunden, aber kaum verquickt und geben insgesamt ein vieldeutiges, mitunter verzerrtes
Bild ab. Es muss gestattet sein zu fragen: wie soll ein einträgliches Auskommen
gestaltet werden, wenn schon innerhalb des dar al islam selbiges fortlaufend
durch beteiligte Bekenntnisgruppen verunmöglicht wird? Das kann, entwicklungsgeschichtlich,
kaum verwundern, ist der Islam doch eine religiöse Offenbarung, die mit mehr
als einem halben Jahrtausend ‚Verspätung’ auf der Weltbühne erschien und ihre
‚Religionskriege’ noch ausficht, während sie auf dem Kontinent gottlob schon
der Historie zugerechnet werden können. Wir sind hier auch kaum befugt,
überheblich zu tun; im Gegenteil. Wer hat der Menschheit zwei bluttriefende Weltkriege
eingebrockt? Das Problem liegt ohnehin woanders. Wenn Europa heute als weitgehend
befriedet gelten darf (das war auch dringend an der Zeit), so hat es sich damit
nicht aus der Geschichte selbst und ihren unerbittlichen Sachzwängen
verabschiedet. Wie wir im zweiten Kapitel sahen war der einheimischen deutschen
Bevölkerung zunächst relativ gleichgültig, wer da aus den Metropolenghettos und
der anatolischen Peripherie in die Randbezirke eigener Ballungszentren
´zuwanderte´ und isoliert im eigenen Dunst vegetierte. Mit gehöriger Verspätung
und wütender Empörung nimmt die Mehrheitsgesellschaft nunmehr zur Kenntnis, dass
in jeweiligen Stadtteilen Parallelwelten entstanden sind, deren Angehörige sich
zunehmend abkoppeln und eigene Wege gehen. Diese ´Lebenswelten´ werden wohl
demnächst, durch demographische Entwicklungen begünstigt, zu echten autonomen
Regionen mutieren. Ist es so abwegig an zu nehmen, das die vor Ort
tonangebenden Würdenträger eines Tages den Schneid auf bringen werden,
entsprechende Sonderstatuten und ´Hoheitsrechte´ einzufordern? Auf diese Weise
ist in der Region Kosovo, durch serbische Gräueltaten zusätzlich beschleunigt,
ein eigener Staat entstanden, von dem Kenner behaupten, er sei gar keiner, sondern
eher eine Mafia, die sich ihren Staat
hält. In jenem Winkel würde das Hauen und Stechen übrigens umgehend von vorne
los gehen, hielte nicht eine ansehnliche Präsenz ausländischer Truppen die
Kontrahenten auf Abstand. Hierzulande schüttelt man nach wie vor ungläubig den
Kopf, wird man allabendlich mit den rabiaten Erscheinungen asymmetrischer
Auseinandersetzungen konfrontiert. Vielleicht dämmert in dem einen oder anderen
Kopf bereits, dass uns etwas Ähnliches auch noch blühen könnte. Statt einer
Angleichung unterschiedlicher Auffassungen begünstigte das, was bislang unter
Integration verstanden wurde, nur eine weitere Zuspitzung der Verhältnisse;
statt Verwandlung (im zivilrechtlichen Sinne) droht eine Verfestigung traditionell
muslimischer Lebensentwürfe, die mit rechtstaatlichen Normen schwer in Einklang
zu bringen sind. Diejenigen, die dauernd der Aufnahme des türkischen Staates in
die europäischen Union das Wort reden sollen uns einmal erklären, warum in der
Kurdenfrage ein einträgliches Auskommen so unverändert unmöglich scheint und
was denn, nebenbei bemerkt, vom türkischen Staat überhaupt übrig bleiben soll,
räumte man den Kurden endlich eine echte, volle Souveränität ein. Wie will
Deutschland dem Anströmen von möglicherweise 10 – 15 Millionen türkischen
Staatsbürgern begegnen, dem eine Vollmitgliedschaft unweigerlich nach sich
zöge? Wie soll das gehen?
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, jemand wie Thilo
Sarrazin schüre Argwohn und Ressentiment. Er spiegelt lediglich derlei
Befindlichkeiten und davon kann sich im Grunde jeder überzeugen, der das
unvoreingenommene Gespräch mit Bürgern unterschiedlicher Klassen nicht scheut.
Machen wir uns doch nichts vor: in den europäischen Bevölkerungen arbeitet unterschwellig
ein stetes, dumpf darbendes Unbehagen, das unvermittelt in echte Pogromstimmung umschlagen kann, wie
sie den Jugendbanden in den südfranzösischen Ghettos längst traurige
Selbstverständlichkeit geworden ist. Die Mehrheitsgesellschaft, mittlerweile
strikt säkular gestimmt, weltlich durch und durch, hat als einzig verbliebenen
Konsens den bequemen, reibungslosen Konsum für sich abboniert; das ist eine
lose Klammer, die (noch) alles zusammen hält. Wie sieht es auf der anderen
Seite aus? Die verteidigt zäh und mitunter verschlagen ihre kulturelle
Substanz, schaukelt aber andererseits zwischen den Verheißungen einer westlich
gestimmten Moderne und eigenen Überlieferungen nervös hin und her,
gleichermaßen infiziert wie unter Quarantäne stehend, sich zögerlich öffnend
und doch ängstlich abwehrend, im Grunde schon voll in die abendländische
Dialektik involviert, manchen Lastern längst verfallen, eigenen Verheißungen
entfremdet und doch immer wieder in die alte, die angestammte Umlaufbahn zurück
strauchelnd.
Als Lehrer bin ich in relativ kurzer Zeit an
unterschiedlichen Schulformen tätig gewesen und kann nur bestätigen: vom beratungs-,
und maßnahmenresistenten Intensivtäter bis hin zum fleißig an sich und seinen
Möglichkeiten arbeitenden Lernschüler, vom ‚Kopftuchmädchen’ zur unverhüllt
auftretenden, selbstbewusst agierenden ‚Emanze’ – es gibt sie alle, und jedes Kind
prägt auf seine Weise das Gesamtbild. Es stimmt nicht, dass alle männlichen
türkischen Jugendlichen Rabauken, Kleinkriminelle und Obermachos sind; die sind
allerdings die Lautesten, Lärmendsten. Kopftuch tragende Mädchen sind (noch) in
der (bald wohl beachtlichen) Minderheit, aber selbst da gibt es Nuancen in der
Selbstwahrnehmung und hinsichtlich der familiären Sozialisation, die in aller
Regel unbeachtet, unbemerkt bleiben. Es istund bleibt wichtig, gerade
hier das Individuum im Blick zu behalten und entsprechend zu würdigen. Man muss
den SchülerInnen hartnäckig vermitteln: die Freiheit des Einzelnen hat Vorrang
– nicht die Knute des Kollektivs. Und daraus leiten sich wiederum Pflichten ab;
das eine geht nicht ohne das andere.
Ich habe zu kurdischen und/oder türkischen
SchülerInnen eigentlich immer ein gutes, meist freundschaftliches Verhältnis
entwickeln können, auch den schwierigen Kandidaten gegenüber,die allerdings
durch abwegige ‚Kuschelpädagogik’ nur noch mehr in ihrer unseligen Rolle
bestärkt werden. Ich bin überzeugt, dass auch in der einen oder anderen türkischen
‚Unterschichtfamilie’ die Dinge im Fluss sind und der Sprung in eine
bürgerliche Mittellage möglich ist und versucht wird. Wer allerdings behauptet,
Muslime würden in Sachen Bildung oder Integration benachteiligt, verdreht die
Fakten und verkennt gleichzeitig die Bedeutung verpflichtender Eigenanteile.
Als mein Vater seinerzeit nach Deutschland kam, hat ihm niemand einen Sprachkurs
oder sonstige, heute gängige Unterstützung angeboten; er kam auch ohne
Rundumbetreuung aus. Er musste. Ich übrigens auch. Wenn heute Funktionäre wie
Kenan Kolat gebetsmühlenartig Chancengleichheit anmahnen, ist das nichts als bequeme
Rhetorik. Ganz im Gegenteil werden etwa in Schulen die Problemkinder aus
kurdischen oder türkischen Familien auf fast schon groteske Art und Weise
sozialpädagogisch ‚dauerbetreut’ während SchülerInnen, die ebenfalls der
Förderung bedürfen (etwa die Stillen, Gehemmten, eher Unauffälligen) zunehmend unterzugehen
drohen, weil der jeweilige Fachlehrer im Umgang mit den ‚Pflegefällen’ bereits voll
eingespannt ist. Sieht so Chancengleichheit aus? Unterschiede werden auch
gemacht, wo es um Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geht. Es ist eine
traurige, gern totgeschwiegene Tatsache, das ein latenter Antisemitismus an
Schulen mit hohen muslimischen Anteilen mittlerweile zum traurigen Alltag
gehört und Schimpfwörter wie ‚du Jude’ oder ‚Opfer’ gehäuft gebraucht werden,
ohne das dies entsprechende Konsequenzen zeitigen würde. Der
Gedenkstättentourismus wird in bewährter Manier abgespult, eine lockere und
unverbindliche Pflichtübung, während derlei bedenkliche Tendenzen eher achselzuckend
hingenommen werden. Und wenn ein Schüler, der ständig die eigene Ehre gefährdet
sieht gleichzeitig seine MitschülerInnen mit übelster Vulgärsprache heruntermacht
und zusätzlich die Fäuste schwingt, dann sind nicht zuletzt die Eltern dieses ‚Bürschchens’
in der Pflicht, die aber an den jeweiligen Sprechtagen gern mit Abwesenheit
glänzen und, im Zweifel, den älteren Bruder oder die junge Tante vorschieben.
Ich habe oft genug erlebt, das der jeweilige ‚Problemschüler’ vor Ort dem Vater
oder der Mutter die eigenen Missetaten ins Türkische übersetzen musste, weil
die Eltern der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Der kann denen natürlich
von Adam bis Eva alles Mögliche erzählt haben. Peinlich genug, so was. Um an
diesem Punkt möglichen Missverständnissen gleich vorzubeugen: ich will mit solchen
Negativbeispielen nicht abschrecken oder hetzen; es ließen sich ohnehin etliche
mehr anfügen. Es geht mir vornehmlich darum, Probleme offen an zu sprechen,
weil selbige sonst nicht gelöst werden können.
Noch einmal zu den Funktionären und Imamen, deren
Rolle eher eine zwiespältige, wenig hilfreiche ist. Das die Mehrheit der ihnen
anvertrauten Muslime bereitwillig dem tradierten Diktum folgen statt einer
abstrakten, auf zähe, kleinschrittige Diskurse angewiesenen res publica, kann
schwerlich verwundern. Allein: wem nützt das was? Die Situation ist ohnehin
ärgerlich: Verbände und Vereine bedienen sich und kassieren Gelder, während der
Steuerzahler für Bruchlandungen einer gescheiterten Integration blechen darf,
die oft aus einer hartnäckigen Verweigerungshaltung resultiert. Wenn ein
türkisches Mädchen sich den archaischen Riten der Sippe verweigert und auf ihre
Weise ernst macht mit Integration, wird im ungünstigsten Fall eine wahre
Kostenlawine losgetreten: von der Rundumüberwachung über die gesonderte
häusliche Betreuung bis hin zur Verschaffung einer neuen Identität muss alles
stimmen. So wird Mut zur Freiheit und Selbstbestimmung eher bestraft und endet
in der Isolation, und die zahlreichen, im übrigen ebenfalls widerstreitenden
Verbände schweigen zu derlei Vorgängen, während sie die Äußerungen eines ehemaligen
Finanzsenators umgehend in Rage versetzen. Dabei kann es, um beim Beispiel zu
bleiben, ja nur die Frau selbst sein, die sich befreit. Wer denn, wenn nicht
Sie, kann hier die entscheidenden Weichen stellen? Wir können doch nicht
restlos alles, was bei uns in einem langen, komplizierten Prozess auf den Weg
gebracht wurde verordnen, verschreiben und verabreichen (und entsprechend nachfinanzieren).
Auch dieser Umstand birgt eine gewisse Tragik: unterlassen wir die begleitende ‚Förderhilfe’,
wird das zarte Pflänzchen vom wuchernden Gestrüpp vorgestriger Werte gleich
wieder erstickt, gewähren wir sie, werden doch nur artifizielle, tönerne
Fundamente gelegt. Und das Katz und Maus Spiel geht in die nächste Runde.
Ich bekenne freimütig: eine erschöpfende Integration
muslimischer Bevölkerungsteile will mir insgesamt illusionär vorkommen.
Versuchen muss man sie trotzdem, erzwingen kann man sie kaum. Der Zwiespalt
bleibt bestehen, das Wagnis insgesamt Ergebnisoffen. Vielleicht stimmt ja, was
Bertrand Russell fand; als Pädagoge will ich, wenigstens im bescheidenen Rahmen
eigener Möglichkeiten, seinen Worten folgen und entsprechend handeln: „Weil
moderne Erziehung so selten von großer Hoffnung beseelt ist, wird so selten ein
großes Resultat erzielt.“
Große Worte; gewiss. Sie bedürfen wiederum großer
Taten, um überhaupt Großes vollbringen zu können. Mag sein, das wir damit doch nur
auf Sand bauen; aber vielleicht streuen wir damit auch Sand ins Getriebe, was
emanzipatorischen Ansätzen seit je eigen war. Bleibt zu hoffen, dass die
entstehenden Kosten nicht den Ertrag gefährden und das Wagnis nicht zur Woge
mutiert, die am Ende alles mit sich fort spült.
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