Erschienen in Ausgabe: No. 35 (1/2009) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
von Constantin Graf von Hoensbroech
Anfang 1996 führte der
damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar als „Gedenktag für die
Opfer des Nationalsozialismus“ ein. 1945 war an diesem Tag das
Vernichtungslager Auschwitz von Soldaten der Roten Armee befreit worden.
Constantin Graf von Hoensbroech sprach anlässlich des Gedenktags mit dem
Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln. Jaron Engelmayer, vor 32 Jahren in Zürich
geboren und dort aufgewachsen, steht seit fünf Monaten der ältesten jüdischen
Gemeinde nördlich der Alpen sowie heute einer der zahlenmäßig größten jüdischen
Gemeinden in Deutschland mit rund 5000 Mitgliedern vor.
Sie sind als Schweizer über Israel und Aachen
nach Köln gekommen, ein ungewöhnlicher Weg in gerade einmal 32 Jahren...
Ich bin
in Zürich aufgewachsen, und da gab es kaum Kontakte und eigentlich auch kein
Interesse am deutschen Judentum. Deutschland war jüdisches Niemandsland. Bis zu
meinem Abitur hatte ich , außer über die Israelitische Kultusgemeinde München,
kaum Kenntnis von jüdischen Gemeinden in Deutschland. Heute hat Deutschland die
drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Westeuropa. Das Verständnis für das
deutsche Judentum musste bei mir erst einmal reifen. Der Gedanke, in
Deutschland zu arbeiten, hat sich bei mir erst in den Jahren während meiner
Ausbildung nahe bei Jerusalem konkretisiert.
Wie schätzen Sie die Situation
der jüdischen Gemeinden in Deutschland ein?
Grundsätzlich:
Die Gemeinden bestehen zu weit über 90 Prozent aus nicht praktizierenden Juden.
Zehn bis 15 Prozent der Gemeindemitglieder sind in der Regel die
„Alteingesessenen“, der Gemeindekern. Das sind meist Juden, die in den 50er -
70er Jahren aus Mittel- und Osteuropa nach Deutschland gekommen sind. Die
Mehrheit der Gemeindemitglieder besteht aus Menschen jüdischen Glaubens, die ab
Anfang der 90er Jahre bis etwa 2005 überwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion
eingewandert sind. Das Judentum in Deutschland ist das einzige außerhalb
Israels, das wächst. Das ist ein außergewöhnlicher, sehr spannender Prozess mit
großen Herausforderungen und Aufgaben. Aber auch mit der großen Chance, ein
positives Bild des Judentums allgemein und der eigenen jüdischen Identität im
Einzelnen zu vermitteln. Man kann vieles aufbauen, weil die Gemeindemitglieder
sich in der Regel bewusst für Deutschland und eine jüdische Gemeinde
hierzulande entschieden haben.
Sie
sprechen von Herausforderungen und meinen doch eher Probleme?
Natürlich
ist es so, dass die neuen Zuwanderer oftmals eine eigene Mentalität mitbringen,
von antisemitischen Erfahrungen in Zeiten des Kommunismus geprägt sind oder
auch ein eigenes Selbstverständnis ihrer jüdischen Identität haben. Und da
stößt man in der Tat in der praktischen Arbeit immer wieder an Grenzen.
Gibt
es so etwas wie Parallelgesellschaften durch die Zuwanderung?
Nein,
denn eine Parallelgesellschaft ist ja der bewusste Aufbau einer Gesellschaft
neben einer anderen. Dieses Phänomen gibt es bei uns nicht. Die erste
Generation, also die Älteren, bleiben beispielsweise in einem russisch
geprägten Lebensumfeld verhaftet, weil sie so aufgewachsen sind und darin das
Aufgehobensein im Vertrauten spüren. Bei der zweiten und dritten Generation
aber spüre ich deutlich die starke Bereitschaft, sich hier zu integrieren, zu
arbeiten und zu leben. Ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell viele
Jugendliche die deutsche Sprache erlernen.
Als eines der inneren Probleme
der jüdischen Gemeinde, nicht nur in Deutschland, wird oftmals der Streit
zwischen Orthodoxen und Liberalen benannt...
Der
Graben ist in der Tat nicht gering, weil das Verständnis darüber, ob und in wie
weit die Bereitschaft gehen soll, das Judentum der Moderne anzupassen, sehr
verschieden ist. Gleichwohl gibt es auch viel Verbindendes und Themen, die uns
einen. Als orthodoxer Rabbiner bin ich natürlich bemüht, das orthodoxe Judentum
zu vertreten. Ich bin aber auchder
Meinung, da unsere Gemeinde eine Einheitsgemeinde ist, es zu ihren Aufgaben
gehört, auf den Bedarf nach liberalen Tendenzen zu antworten. Dies soll jedoch
nicht dazu führen, dass die überwiegende Mehrheit des orthodoxen Judentums
darunter leidet.
Was
unternehmen Sie, um jüngere Menschen für die Gemeinde zu begeistern?
Durch
Kindergarten, Schule und andere Einrichtungen haben wir die Möglichkeit, die
Familien sehr früh anzusprechen und an die Gemeinde zu binden. Darüber hinaus
gilt es, unsere Feiern sehr erlebnisreich, sehr emotional zu gestalten.
Außerdem gibt es eine Fülle von Lerngruppen, Wochenendangeboten,
Gesprächskreisen und anderes mehr, um ein positives Bild der Gemeinde und damit
auch des Judentums zu vermitteln.
Ist
die dauerhafte Bindung an die Gemeinde und den jüdischen Glauben dadurch
gewährleistet?
Jugendliche
sind heute einer Fülle von Angeboten in ihrer Umwelt ausgesetzt, sodass sie oft
keinen Bedarf sehen, sich auch noch an ihre jüdische Gemeinde oder Identität zu
binden. Das ist die große Gefahr der jüdischen Gemeinschaften vor Ort, aber
eben auch für das Judentum insgesamt: das der Zusammenhalt nicht mehr
gewährleistet ist und das Judentum, seine Werte und Überzeugungen bei den Juden
selbst verloren gehen. Integration und Bindung an die Gemeinde sind
existenzielle Aufgaben für das Überleben der jüdischen Gemeinschaft.
Welche
Bedeutung kommt dem christlich-jüdischen Dialog zu?
Er
hilft natürlich zunächst einmal beiden Seiten, Verständnis füreinander zu
finden und Unterschiedliches nicht gleich als Trennendes zu erleben. Er kann
aber beiden Seiten auch helfen, sich über die eigene Wahrnehmung und die
eigenen Werte immer wieder bewusst zu werden und im ehrlichen Dialog und
Respekt zu erklären. Auch, wenn es dabei immer wieder zu Irritationen und
Missverständnissen kommt.
Nicht zuletzt hat der
christlich-jüdische Dialog einen großen Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur
geleistet.
Ich bin
sehr positiv überrascht über die vielfältige Erinnerungskultur in Deutschland.
Mit höchstem Interesse verfolge ich die Bemühungen Kölner Bürger und der Stadt,
an zentraler Stelle ein Haus und Museum der jüdischen Kultur zu errichten. Es
ist beachtlich, was in Deutschland von nicht-jüdischer Seite an bewusster
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, an persönlichem Engagement, an
Erinnerung an die Geschichte und ihren Lehren daraus geleistet wird. Da kann
Deutschland ein Vorreiter für andere Länder sein. Wenn vergessen wird, kann
auch schnell wieder geleugnet oder vertuscht werden. Dafür gibt es in
Deutschland ein weit verbreitetes Verständnis, während man einer solchen
Einsicht in vielen anderen Ländern immer noch mit Unverständnis gegenübersteht.
Haben
sich die Formen des Erinnerns bewährt, etwa zum 9. November oder 27. Januar?
Das
sind gute Möglichkeiten, um ein allgemeines Bewusstsein zu stärken und für die
Vergangenheit zu sensibilisieren. Aber solche Formen des Gedenkens und
Erinnerns dürfen nicht so ritualisiert werden, dass sie zur Hülle werden. Wir
müssen bestimmte Formen neu gestalten. Wir haben beispielsweise am 9. November
sehr erfolgreich erstmals verschiedene Schulprojekte in die offizielle
Gedenkveranstaltung mit einbezogen.
Dennoch gibt es weiterhin
Antisemitismus und verbale Entgleisungen, auch von Personen, von denen man es
nicht erwartet hätte...
Es gibt
immer wieder unhaltbare Vergleicheund
gefährliche Banalisierungen. Vieles davon ist, hoffentlich, einfach unüberlegt
und dumm. In dem einen oder anderen Fall basiert eine solche verbale
Entgleisung möglicherweise aber doch auf irgendeinem antijüdischen Reflex.
Wie wichtig sind Erklärungen
des Deutschen Bundestages oder etwa des Landtags von Nordrhein-Westfalen, in
denen der Antisemitismus verurteilt wird?
Das
sind sehr wertvolle Zeichen. Wir fühlen uns grundsätzlich durch die Politik
bestärkt, sowohl durch die Gesetzgebung als auch durch die handelnden Personen.
Der Staat steht hinter der jüdischen Gemeinschaft, das ist ein gutes und
sicheres Gefühl...
...aber
längst noch keine Normalität?
Es gibt
ja leider immer noch einige Verrückte, vor denen wir geschützt werden müssen.
Erst wenn es die Gewissheit gibt, dass ich mich als Jude gefahrlos auf der
Straße bewegen kann und ganz selbstverständlich als Jude wahrgenommen werde,
ist das Normalität. In Deutschland wird man als Jude aber oft als etwas
Exotisches wahrgenommenund der normale
Umgang fokussiert sich dann nur auf Themen wie die Vergangenheit oder Nahost.
Wie
erleben Sie die aktuellen Debatten zu den Ereignissen in Israel und Palästina?
Kritik an der Politik anderer,
auch an Israel, muss möglich sein. Aber diese Kritik muss auf der klaren
Kenntnis der Fakten basieren. Dazu gehört auch, dass man, wenn man das Existenzrecht
Israels anerkennt, Israel auch das Recht auf Selbstverteidigung zubilligt.Wir sind selbst ja auch selbstkritisch und
beunruhigt über die aktuellen Entwicklungen. Es tut uns genauso weh wie den
Betroffenen, den Beobachtern des Konflikts oder auch Israel selbst, wenn es
Tote unter der Zivilbevölkerung gibt. Keiner weiß, was da eigentlich genau
passiert, aber viele meinen es, zu wissen. Bilder werden bewusst eingesetzt und
propagandistisch missbraucht. Demonstrationen gegen Israel werden schnell von Menschenrechtsaktivisten
angeführt oder, und das bereitet mir viel mehr Sorge. Da wird dann außer Acht
gelassen, dass Israel acht Jahre lang auf dem eigenen Gebiet bedroht und
beschossen worden ist und sich nun wehrt. Und da werden dann mehr oder weniger
offen Sympathien für eine Organisation transportiert, die selbst von den
Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuft wird.
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