Erschienen in Ausgabe: No 60 (2/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
„Ich weiß, dass ich am Scheideweg stehe.
Egal, welchen Weg ich einschlage, es wird komplizierter werden.“ Große
Worte in Ketil Bjørnstads neuem Roman, die auch gern wirksam medial eingesetzt
werden, um „schon immer prophezeite“ Veränderungen heraufbeschwören. Da geht es
um den Klimawandel, auf anderer Ebene um innen-, aber auch außenpolitische
Entscheidungen. Allerdings spricht sie hier der 19-jährige Protagonist und
außerordentlich begabte und hoffnungsvolle Pianisteneleve Aksel Vinding aus.
„Vielleicht muss man Umwege gehen, um die
einfachsten Dinge zu verstehen.“ Auch diese Worte stammen von Aksel, der,
obwohl noch jung an Jahren, schon einige persönliche Tiefschläge einstecken
musste: Die alkoholkranke Mutter ertrank beim Baden, Anja, seine Freundin,
gleichfalls eine äußerst talentierte Klavierschülerin, hielt dem Erfolgsdruck
nicht stand und starb an Magersucht. Die anschließende Liaison mit deren
Mutter, der 17 Jahre älteren Marianne Skoog, deren Ehemann er wurde, endete
ebenfalls abrupt, als diese sich - obwohl schwanger von ihm - im Keller des
gemeinsamen Hauses erhängte.
Mit
„Die Frau im Tal“ vollendet der norwegische Schriftsteller seine Trilogie, die
2006 mit "Vindings Spiel" und 2009 mit „Der Fluss“ das Leben des
jungen Klaviervirtuosen nachzeichnet. Offensichtlich enthält sie viel
Autobiografisches und dessen Hauptfigur trägt unverkennbar die Züge des Autors.
Ketil Bjørnstad, der neben seiner erfolgreichen literarischen Karriere
gleichfalls Pianist und Komponist ist, hat lange Jahre gescheut, seine
Erfahrungen als Musiker in seine Bücher zu integrieren und zum Thema zu machen.
"Ich wollte Musik und Literatur
auseinanderhalten, damit es nach außen nicht wirkt, als verzettelte ich
mich!", erläutert er in einem Interview. Doch inzwischen, mit über
fünfzig, sehe er das entspannter.
Der
Roman knüpft nahtlos da an, wo "Der Fluss" endet. Sommer 1971: Aksel
hat nach dem Tos seiner Frau keinen Lebenswillen mehr und stürzt sich in den
Fluss. Ein Angler zieht den bereits bewusstlos im Wasser treibenden Körper an
Land und rettet dem jungen Mann das Leben. Obwohl bereits für eine große
Tournee durch Europa vorgesehen, auf der er als frisch gebackener Debütant mit
Brahms‘ B-Dur Konzert als jüngster Interpret brillieren soll, lehnt er ab und
zieht sich in den hohen Norden zurück. Er will „dieses gewaltige Land erfassen, dessen Atem (...) spüren“ und
gleichzeitig Sergej Rachmaninows 2. Klavierkonzert einstudieren. Genau dieses
bedeutete im Kompositionsprozess des russischen Künstlers einen Höhepunkt und
nahm eine besondere Stellung in seiner Biografie ein. Es beendete eine
dreijährige Schaffenskrise und markierte gleichzeitig den Durchbruch vom
genialen Talent zum Komponisten von Weltgeltung. Er widmete es dem bekannten
russischen Psychiater Dr. Nikolai Dahl, der dem Alkoholkranken und schwer
depressiven Rachmaninow seine Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit
zurückgab, seinen übermäßigen Alkoholkonsum beendete und ihm insgesamt neue
Lust aufs Komponieren verschaffte.
In
Ketil Bjørnstads Roman erhält dieses Klavierkonzert, mit seinem ständigen
Wechsel von zwei
grundsätzlichen Gestaltungsebenen - stark rhythmisierte, oft düstere
Klänge sowie fließende, liedhafte Melodien - eine tragende Rolle. Der Duktus
des Buches weist diese Züge gleichfalls auf. Die Bandbreite musikalischer
Emotionen beim Genuss der kompositorischen Meisterleistung - von zart bis
schwärmerisch-hymnisch - darf mit ruhigem Gewissen auch auf das literarische
Werk übertragen werden. Die emotionalen Blitzlichter setzt Bjørnstad erneut in
Gestalt einer Frau, in die sich Aksel verliebt. Keine Geringere als die vier
Jahre jüngere Schwester von Marianne Skoog übernimmt diesen Part. Der junge
Mann beginnt ein spannungsgeladenes Verhältnis mit der verheirateten Sigrun,
vereint in ihrem jeweils ungeklärten Verhältnis zur alles andere als
problemfreien Vergangenheit.
Die
Erzählung zieht den Leser in einen magischen Sog, dem er sich, einmal begonnen,
nicht mehr entziehen kann. Fragen werden aufgeworfen: Wie kann man mit Trauer
und Verzweiflung umgehen? Wie definiert man Glück? „In der Welt der Musik ist es meistens das Leiden, das Glück
hervorruft“, stellt Aksel fest. Kann Glück Kunst hervorbringen? Sehnen wir
uns nach einem Sinn? Muss man von Zeit zu Zeit Grenzen überschreiten, Regeln übertreten
und unerwartete Situationen riskieren? Lauert irgendwo im Grunde eines jeden
Lebens vielleicht gar das Grauen? Und immer wieder der verrückte und störende
Drang nach Liebe, der letztendlich in einem dramatischen Finale kumuliert.
„Um eine schreckliche Geschichte zu
erzählen, ohne die Schönheit zu vergessen. Besteht darin nicht die Hauptaufgabe
der Kunst?“, sinniert der Aksel Vinding. Mit kurzen klaren Sätzen erzeugt
der Autor, ähnlich einem virtuos eingespielten Musikstück, eine
"undefinierbare Innigkeit im Ausdruck", Schönheit und ein
unvergleichlich hohes Reflexionsniveau, ja, farbige Töne im Kopf. Lothar Schneider,
der Übersetzer aus dem Norwegischen, hat diese „literarische Musik“ dem
deutschsprachigen Leser ohne Verluste zugänglich gemacht.
Fazit:
Ketil
Bjørnstad ist mit "Die Frau im Tal" ein dichter und intensiver, ein
faszinierender, die Sinne berauschender und fesselnder Roman gelungen. Auf der
einen Seite enthält er spannungsgeladene Momente voller Tragik, auf der anderen
tiefsinnige Passagen, in denen Aksel Vinding über sich und das Leben sinniert.
Ein ständiger Wechsel zwischen Trauer und hoffnungsvoller Sehnsucht, der das
zerrissene Seelenleben des 19-jährigen Klaviervirtuosen großartig wiedergibt
und die Macht der Musik einfängt.
Auch
wenn es allein gelesen werden kann, so erschließt sich die wirkliche Tiefe der
Handlung allerdings erst in Einheit aller drei Bücher (1. Teil: Vindings Spiel,
2. Teil: Der Fluss, 3. Teil: Die Frau im Tal)
Ketil
Bjørnstad
Die Frau im Tal
Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider
Titel der Originalausgabe: Damen i dalen
Insel
Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig (September 2010)
335
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
345817477X
ISBN-13:
978-3458174776
Preis:
22,90 EURO
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