Erschienen in Ausgabe: No 58 (12/2010) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Stefan Groß
Daß der Ruhm ihm nicht unwichtig
gewesen war, daraus hat Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, geboren am 9. September 1828, nie einen Hehl gemacht. Und ruhmreich war
sein Leben, von den Anfängen im Krimkrieg bis hin zu den erfüllten Tagen auf
seinem Gut Jasnaja Poljana. Bereits mit seinen literarischen Skizzen, den
„Sewastopoler Erzählungen“ öffnete sich für ihn die Tür zum Erfolg. Von Moskau
bis ins tiefe Sibirien hinein laß man seine Schriften fortan, vergötterte ihn,
den Adligen mit sozialistischen Anschauungen und zuhöchst menschlichen Gefühlen,
ihn, der dem Denken Rousseaus sich zutiefst gegenüber verpflichtet wußte, der
aus dem Geist der wahren Pädagogik heraus seine Bauern und ihre Kinder zu
würdigen Bürgern formen und frommen wollte.
Und 100 Jahre nach seinem Tod, am
20. November 1910, ist sein Ruhm nicht verblaßt, in allen Feuilletons
würdevolle Erinnerungen an einen, der die abendländische Literatur um neue
Maßstäbe erweiterte. Sein Gut bei Tula, sein Jasnaja Poljana, ist heute
zum Nationalheiligtum Rußlands geworden, eine Pilgerstätte ohnegleichen, in der
die Ikone der Weltliteratur – jenseits von jedem politischen Trubel – gefeiert
wird. Und es sind Werke wie die Novelle „Der Tod des Iwan Iljitsch“, das Drama
„Die Macht der Finsternis“, die ergreifende Geschichte „Wieviel Erde braucht
der Mensch?“ von 1885, die nicht nur James Joyce bewogen haben, von großer
Literatur zu sprechen. Man könnte hinzufügen: Tolstoi war das, was man heutzutage ein Medienereignis nennen würde,
nicht nur Repräsentant des feinen russischen Adels, sondern ein
Sozialrevolutionär avant la lettre. Vor allem war er aber
eins, einer der größten Dichter aller Zeiten, vielleicht nur noch mit Homer
vergleichbar.
In seinen wohl berühmtesten Roman „Anna Karenina“, der in den Jahren 1873
bis 1878 in der Epoche des russischen Realismus entstanden war, und maßgeblich
von Ehe und Moral in der adligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts
handelte, spiegelt er nicht nur die großen Sinnfragen des Lebens, die
Gottesfrage, die Frage nach dem Selbstmord, das Sein einer sinnvoll-absurden
Existenz, die später einer ganzen Philosophie ihren Namen geben wird, dem
Existentialismus, sondern es ist immer wieder der sich darin abzeichnende
Realismus, der die Leser unterschiedlichster Couleur in ihren Bann zog. Auch Madame
Bovary von Gustave Flaubert, Effi Briest und L'Adultera von Theodor
Fontane waren diesem Realismus verpflichtet, waren Gesellschaftsspiegel einer
in sich erkrankten Gesellschaft, deren Ethos fragwürdig und brüchig geworden
war, die mehr für den Schein denn für das Sein – mit all seinen Verquickungen,
Irrungen und Wirrungen – votierten. Und darüber hinaus gilt Tolstois Roman „Anna
Karenina“ zugleich noch als künstlerisch vollkommenster, da er in aller
Vielseitigkeit die moralische Welt- und Werteanschauung des Schriftstellers breitgefächert
präsentierte.
Bereits in „Krieg und Frieden“, fast zehn Jahre vor "Anna Karenina“
erschienen, 18868/69, sowie in seinen „Sewastopoler Erzählungen“ ist immer
wieder jene innerste Sehnsucht zu finden, von der Tolstoi im wirklichen Leben
nur träumen konnte, die stets gesuchte und idealisierte Einheit von tiefer Sehnsucht
und Wirklichkeit. Und auch „Krieg und Frieden“ ist eine fast perfekte Reflexion
auf die damaligen sozialen Verhältnisse, auf die Vielzahl gesellschaftlicher Probleme,
auch hier stehen immer wieder die sozialen Unterschiede zwischen Adel und
Geldadel, zwischen ehelicher und unehelicher Geburt im Mittelpunkt des
Geschehens.
Und immer gelang es Tolstoi, nicht um die Ereignisse reflexiv zu kreisen,
sondern die Ereignisse in eine Sprache zu kleiden, die eindringlich war und ist,
die jeden Leser angeht, weil sie das Leben geschrieben hatte, weil sie die
Wirklichkeit desselben in aller Klarheit zum Ausdruck brachte. Dies ist nicht
zuletzt das Geheimnis seines künstlerischen Schaffens - seine kraftvolle und
wirkmächtige Sprache.
Letztendlich ist Tolstoi dem sogenannten Anna-Karenina-Prinzip selbst erlegen, nach dem mehrere Faktoren oder Bedingungen erfüllt sein
müssen, damit eine Sache gelingt, während das Fehlen eines einzelnen Faktors zum Scheitern oder
Ausschluß führt, denn auf einer Zugfahrt im Oktober 1910, bis dahin war er glücklich, erfolgreich, Vater von acht Kindern und einer Frau, die sich um seine Werke aus tiefstem Herzen kümmerte, erkrankte der Dichter überraschend so schwer, daß er an den Folgen einer Lungenentzündung starb.
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