Erschienen in Ausgabe: No 59 (1/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Martin Walser
Als ich meinen Computer fragte, wie oft Nietzsche bei mir
vorkomme, antwortete er: 732 Mal. Ich darauf: Das könnte mich interessieren.
Und er bediente mich bzw. mein Interesse.
Bald genug merkte ich, daß ich nie etwas über Nietzsche
gesagt oder geschrieben habe. Ich hatte nie eine Meinung über Nietzsche. Es war
immer ein begriffloser Umgang. Ich habe Nietzsche brauchen können. Geglaubt,
daß ich ihn brauchen könne. Wie das vor sich ging, ist hier noch einmal
festgehalten. Es waren Anrufungen. Bezeichnend ist schon, in wie verschiedenen
Problem-Augenblicken ich ihn angerufen habe. Zitiert auch, aber noch öfter
angerufen als zitiert. Ob im grob Politischen – die deutsche Teilung betreffend
– oder im verästelt Geistesgeschichtlichen – Thomas Manns Versuch, ihn für den
hauseigenen Ironiegebrauch zu mobilisieren –, es gab offenbar nichts, wofür ich
ihn nicht herbeschwor, eben anrief.
Aber auch meine Romanfiguren kommen nicht ohne ihn aus. Die
Fabrikantengattin Blomich im Roman Halbzeit
sowenig wie der ganz in Nietzsche-Frequenzen lebende und leidende Lehrer Helmut
Hahn im Fliehenden Pferd und in der Brandung. Unwillkürlich sehe ich jetzt,
daß es für mich keine Grenze der Nietzsche-Anwendung geben konnte. Aber das
weiß jeder, der ihn dauerhaft liest, daß Nietzsche von nichts unberührt blieb.
Und jede Berührung produzierte bei ihm ein Genauigkeitswunder. Deshalb darf man
schamlos gestehen, daß er in unserer Sprache die mächtigste Verführung ist. Daß
er dir in unzähligen Problem-Sekunden erschien, hat dazu geführt, daß du
sozusagen dein Leben mit ihm verbracht hast.
Ich halte hier fest, was ich mit ihm anfing, wenn ich
glaubte, ihn brauchen zu können. Um zu zeigen, was ich jeweils habe anfangen
können mit Nietzsche, muß ich die Situationen, in denen ich ihn brauchen konnte,
wiedererstehen lassen. Und zwar in den Texten, in die er hineinwirkte. Von 1957
bis heute. Unwillkürlich ergibt sich so eine Art Problem-Anthologie.
Es ist wohl verständlich, daß in dieser Sammlung von
Nietzsche anrufenden Situationen die Verehrung maßgebend ist. Und, wenn das
verständlich werden könnte, die Dankbarkeit.
Auszug: Über die
Schüchternheit
Je schüchterner einer ist, um so mehr setzen sich weniger
Schüchterne gegen ihn durch. Er verhilft also anderen zu Erfolgserlebnissen.
Und darf sich besser vorkommen als die, die sich ihm gegenüber durchsetzen.
Das ist die ins Durchsetz- und Konkurrenzwesen eingebaute Trostmoral. Ein
schwacher Trost, darf man sagen, sich moralisch besser vorzukommen. Schöner zu
sein, innen und außen, das wäre nämlich sein Ziel. Und das ist ganz sicher das
Gegenteil des Schönheitswettbewerbs, aus dem die Miss Universum hervorgeht. Der
Schüchterne hat, glaubt er glühend, Schönheits-Chancen. Er ist mindestens so
ehrgeizig wie der Durchsetzungstüchtige. Aber er will nicht über einen anderen
triumphieren. Er will nicht der Allerbeste sein. Der Beste schon, aber nicht
der Allerbeste. Er will vielleicht sogar, daß es keinen Allerbesten geben darf.
Er ist wahrscheinlich erzdemokratisch gesinnt. Ostrakismos hieß es in
Griechenland, Scherbengericht: einmal im Jahr stimmte die Bevölkerung ab, ob
einer für zehn Jahre verbannt werden sollte, weil er eine Publicity hatte, die
gegen die Freiheit des Gemeinwesens gewendet werden konnte. Weder Ehre noch
Vermögen war davon betroffen. Nur jetzt fort mit ihm. Weil er sich so
durchgesetzt hatte, daß er als der Allerbeste angesehen sein wollte. Also der
Antischüchterne schlechthin. Fort mit ihm. Der Altphilologe Nietzsche bewahrt
uns ein Beispiel, wie diese erzdemokratische Praxis in Ephesus funktionierte.
Ein gewisser Hermodor wurde verbannt mit der Begründung: „Unter uns soll
niemand der Beste sein; ist jemand es aber, so sei er anderswo und bei anderen.“
Und Nietzsche kommentiert weise genug: „Denn weshalb soll niemand der Beste
sein? Weil damit der Wettkampf versiegen würde und der ewige Lebensgrund des
hellenistischen Staates gefährdet wäre ... Das ist der Kern der hellenistischen
Wettkampfvorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre
Gefahren, sie begehrt als Schutzmittel gegen das Genie – ein zweites Genie.“
Für Genie können wir heute Star einsetzen. Der Star ist der Antischüchterne
schlechthin. Er kann sich alles erlauben, also erlaubt er sich alles. So
erfüllt er die Sehnsucht von Millionen Menschen, die sich auch gern alles
erlauben möchten, aber sie schaffen’s halt nicht.
Martin Walser, „Nietzsche lebenslänglich“
Copyrigth © 2010 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
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