Erschienen in Ausgabe: No. 20 (2/2003) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
Volker Braun und Alfred Döblin umkreisen den Alexanderplatz - Gedanken zu einem Vergleich
von Stephan Lüttich
„Literatur
ist komprimiertes Leben“, so pflegte mein Deutschlehrer auf dem
Gymnasium zu sagen und so lautet ein intellektueller Gemeinplatz.
Aber etwas Wahres ist sicher daran und dieses um so mehr in einer
Zeit, in der andere traditionelle Formen, die Aussagen über das
Leben machen – die Philosophien, die Ideologien und schließlich
auch die Theologien – an Bedeutung und vor allem an
Glaubwürdigkeit verlieren.
Erzählende
Formen der Literatur, des Films und auch andere künstlerische
Ausdrucksformen gewinnen an Relevanz für Darstellung und Deutung
des menschlichen Lebens, seiner Licht- und Schattenseiten. Die
Erfahrung der Protagonisten spiegeln nicht nur die Erfahrungen des
Autors, sondern auch seine Deutungsmuster wider, die er den Lesern
vorstellt, ohne wie ein Philosoph, Agitator oder Missionar um jeden
Preis überzeugen zu wollen.
Es
scheint heute für jede Form kritischen Denkens lohnend zu sein,
sich mit Literatur und anderen Formen künstlerischen Ausdrucks
auseinanderzusetzen, um Zugänge zu zeitgenössischen
Lebenserfahrungen und Deutungen zu gewinnen, sie wahrzunehmen und so
einen neuen Blick auf die eigenen Fragen und Deutungsansätze zu
gewinnen.
Die
vorliegende kleine Arbeit will versuchen, vor diesem Hintergrund
einen Blick auf einen zeitgenössischen literarischen Text von
Volker Braun zu werfen und ihn mit einem wesentlich älteren
Werk, Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“,
zu vergleichen.1
„Wir
sind gescheitert, hurrah.“
Die
1995 erstmals erschienene Erzählung „Der Wendehals“2
des Büchnerpreisträgers Volker Braun erzählt den Weg
zweier Figuren durch das Berlin der Nachwendezeit. Die „Unterhaltung“
zwischen Ich und Er wird eingerahmt von verschiedenen kurzen
Episoden, die einzelne Aspekte des Inhaltes vertiefen. „Der
Wendehals“ ist vielleicht kein „Wenderoman“. Sicher
aber kann er als Auseinandersetzung des linken Dichters Braun mit dem
Ende der DDR gelesen werden, der ihr trotz aller Konflikte mit dem
real existierenden Sozialismus in „nicht angenommener, weil zu
hellsichtiger Liebe“3
treu blieb.
Thema
der Erzählung ist zum einen das Scheitern des großen
Entwurfes, den die DDR verwirklichen wollte und an dessen Möglichkeit
Braun nicht aufgehört hatte, zu glauben. Gleichzeitig ist der
„Wendehals“ aber auch der Bericht über das Scheitern
des „neuen“ Systems der Bundesrepublik, das den Menschen
ebensowenig gerecht wird. Dargestellt und gespiegelt wird dieses
große Scheitern am persönlichen Scheitern der beiden
Figuren der „Unterhaltung“. Ich ist ein arbeitsloser
Intellektueller, ein entlassener „Weltanschauer“ (29)4
der seine Beschäftigung innerhalb des staatlichen
Kulturapparates nach der Wende verloren hat. Es ist vielleicht etwas
zu verwegen, hinter Ich eine „satirisch verfremdete Inkarnation
des Autors“5
zu vermuten, aber ohne Zweifel steht der Autor dem Ich näher als
seinem Gegenüber Er, dem Wendehals. Er ist Schaber, der
ehemalige Vorgesetzte von Ich, der es geschafft hat, sich durch die
Überprüfungskommissionen der Nachwendezeit zu retten. Eine
Seilschaft hat ihn mitgezogen und er ist ins Kaufmännische
gewechselt.
Braun
schildert in einer Verschränkung von Dialog, Monolog und wenigen
erklärenden Prosaabschnitten den Weg der beiden Figuren durch
Berlin und hinaus aufs Land. Der Weg beginnt mit einem unerwarteten
Zusammentreffen der beiden auf dem Alexanderplatz. Sicher nicht
zufällig gerade auf diesem Platz, der gefüllt mit
„unabsehbaren Massen“ der „Raum der Möglichkeiten“
(136) war, wo das Ende der DDR seinen Anfang nahm.
Der
Autor begleitet Ich und Er von dieser Begegnung am Vormittag bis zum
Morgengrauen des folgenden Tages. Die Vorführung und Entwertung
der Errungenschaften der bundesrepublikanischen Einheit zieht sich
wie ein Leitmotiv durch die Erzählung. Besonderes Augenmerk legt
der Autor auf die Macht der Korruption, die vom Wohlstand ausgeht,
auf die zerstörerische Kraft des Konsums. Deutlich wird dies zum
Beispiel, wenn Er beim Besuch eines Kaufhauses einen Ladendiebstahl
begeht (vgl. 47),6
wenn Er bei einem opulenten Mittagessen so viel ißt, daß
er sich noch am Tisch erbrechen muß (vgl. 52), wenn die an der
Oranienburger Straße (!) wie Pilze aus dem Boden schießenden
„neuen Firmen“ als „Huren“ bezeichnet werden
(vgl. 73f.) oder wenn das „reine Geschäft“ als etwas
„Heiliges“ „gepredigt“ wird (109). Mit dem
Blick von der Gertraudenbrücke auf die Leuchtreklamen des
westlichen Berlins formuliert Er das Credo des Konsumismus: „Je
mehr ich haben, machen, sein kann […], desto besser will es
mir gehen!“ (85).
Eine
Folge dieser Haltung des „Mehr“ der Unersättlichkeit
ist die Gewalt der Enttäuschten, derer, die nicht am Überfluß
marktwirtschaftlichen Wohlstandes teilhaben können. Immer wieder
kommt es zu Szenen der Gewalt: einer Schlägerei mit Obdachlosen
vor einem Kaufhaus am Alexanderplatz (vgl. 42) und einer sich
vorbereitenden ausländerfeindlichen Aktion in der
Plattenbausiedlung Hellersdorf, die ironischerweise als
Baseball-Spiel geschildert wird (vgl. 95ff).
Der
ganze Verlauf der Erzählung ist von einer düsteren
Atmosphäre gekennzeichnet. Die beiden Figuren sind nicht Herren
ihrer Handlungen, sondern lassen sich treiben: vom Alexanderplatz
durch die Straßen Ost-Berlins in einen Hinterhof, bis ihre
Odyssee schließlich im Morgengrauen auf einem Spargelfeld in
Brandenburg endet. Allenthalben läßt sich die
Gebrochenheit spüren, die die Existenz der beiden kennzeichnet.
Das wird schon in formalen Elementen deutlich: die „Unterhaltung“
wird immer wieder von Monologen und Prosaabschnitten unterbrochen.
Auch das Verhältnis von Ich und Er ist keine wirkliche
kommunikative, personale Beziehung.7
Es findet kein Dialog statt, sondern die beiden sind eher so etwas
wie Reflexionsflächen oder Resonanzkörper, an denen sich
der andere jeweils spiegeln kann: je nach seiner Stimmungslage redet
z.B. Er das Ich mit ganz unterschiedlichen Titeln an.8
Aber
die düstere Stimmung und die kritischen Aussagen, die Braun in
den Streifzug durch das „geeinte“ Berlin verwebt,
verdecken nicht die unverhohlene Kritik, die der Autor auch an den
Verhältnissen der DDR übt, des „Ungetüm[s], das
[…] schließlich an sich selbst zugrunde ging“9.
Schon der DDR-Bürger Braun war kritischer Dichter und Denker und
hatte immer wieder auf Probleme des „real existierenden
Sozialismus“ hingewiesen. Im Hinterhof seines Wohnhauses zeigt
Er dem Ich seine Bibliothek der marxistisch-leninistischen Klassiker,
die er nie gelesen hat und die nun auf dem Müllhaufen der
Geschichte landen (vgl. 59-64). Während Er – aus
Opportunismus – nun die marxistische Lehre als grundfalsch
ablehnt (vgl. 88), sieht Ich das Problem differenzierter und leiht
hier wohl seinem Autor die Stimme: „Der Kommunismus ist
moralisch überlegen, aber praktisch darunter. Dem Buchstaben
nach eine Wohltat, in der Tat ein Verbrechen“ (113). Die
praktische Verwirklichung des Sozialismus durch opportunistische
Funktionäre wie Er ist das Problem und der eigentliche Grund für
das Scheitern des sozialistischen Entwurfs.
Für
die Figuren des „Wendehals“ gibt es keine festen
Orientierungspunkte mehr. Die Wörter haben ihre klare Bedeutung
verloren, Begriffe lösen sich auf: die Losung „Volk“
ist keine Lösung mehr, „wir müssen uns lösen“
(35); Werbung ist, was man erwirbt,
der Unterhalt ist die Unterhaltung (vgl. 40); die Regierung ist eine
Besetzung, eine Besitzung, eine Besatzung (vgl. 53) die
Weltverbesserer werden zu Weltvergesserern (vgl. 113) und die Ware
ist das Wahre (vgl. 115).
Im
letzten Teil der Erzählung tauchen ganz unvermittelt Bruchstücke
christlicher, d.h. biblischer Tradition auf, die aber in ihrem Sinn
vollkommen entstellt werden: „Wer Ohren hat zu sehen, der wird
schmecken.“ (118; vgl. Mt 11,15; 13,9.43 etc.) oder „In
meine Hände befehle ich meinen Geist.“ (119; vgl. Ps 31,6;
Luk 23,46). Sie stehen für Überbleibsel einer Tradition,
die weder zum Sozialismus noch zur westlichen Konsum- und
Erlebnisgesellschaft gehört, die aber jede prägende oder
deutende Kraft verloren hat.
Die
„Meinung zum Ganzen nicht gefragt“ (69) und keine
Philosophie kann der Wirklichkeit einen Sinn geben. Deshalb kann auch
Spargel eine Philosophie sein (vgl. 114). Die einzig mögliche
Reaktion auf die Sinnlosigkeit der Existenz scheint das Handeln in
einer Haltung des „Trotzdestonichts“10
zu sein: „Der Wendehals“ endet mit einem
Spargelverkaufsevent auf dem Acker, das Er organisiert und das Spaß
und Unterhalt, das heißt Unterhaltung bringt. „Also. Red
keine Romane, laß uns leben“ (114). Ich widerspricht
dieser Haltung nicht, die Erzählung endet aber mit einem
nachdenklichen, wenn auch gelassenen „Wenigerdestonichts“
(124) aus seinem Mund.
„Trotzdestonichts
oder Der Wendehals“ scheint in vielerlei Hinsicht ein typisches
Beispiel der Postmoderne zu sein, deren wesentliches Merkmal wohl der
totale Pluralismus in seiner Fragmentarietät und die Abwesenheit
jeder Möglichkeit zu letztgültigen Aussagen ist. Schon
rein formal betrachtet treffen diese Kriterien auf die „Unterhaltung“
Volker Brauns zu: kein Roman, kein Drama, kein Versepos, wohl aber
ein Werk, das epische, dramatische und lyrische Stilformen verwendet,
sie ineinander verschränkt ohne sie gegeneinander auszuspielen.
Auch die Handlung verbindet die unterschiedlichsten Stränge und
Meinungen; selbst die Figuren scheinen nicht mit sich selbst
übereinzustimmen, sondern schillern in den verschiedensten
Farben – man denke nur an die verschiedenen Titel, mit denen
Ich während der „Unterhaltung“ angesprochen wird.
Natürlich werden bestimmte Meinungen und politische Lehren
kritisch dargestellt, aber im letzten ist keine Wahrheitsaussage
möglich, weil alles relativ ist: „Opportunismus ist ein
Menschenrecht“ (112).
Auch
wenn in der Wehmütigkeit, mit der Braun die Unmöglichkeit,
den Sozialismus zu leben feststellt, eine gewisse Sehnsucht nach
festen Bezugspunkten mitschwingt, so ist die Wirklichkeit doch eine
andere. Braun findet ein Bild, um die Relativität jeder Aussage,
die mit einem Wahrheitsanspruch auftritt, auszudrücken: der
Paternosteraufzug im ehemaligen Dienstgebäude der Akademie der
Wissenschaften, in der Er als Direktor gearbeitet hat, wird für
den Wendehals zum Katheder: der Fahrstuhl wird zum Lehrstuhl. Und wie
sich der Paternosteraufzug vom Keller unter das Dach und wieder
zurück bewegt, so „verteilt sich der Sinn der [Lehr-] Rede
auf die Etagen“ (vgl. 91).
„Es
ist ein Schnitter, der heißt Tod.“
Auch
der 1929 veröffentlichte Roman „Berlin Alexanderplatz“11
von Alfred Döblin erzählt die Geschichte eines Scheiterns.
Er erzählt das Scheitern des Hilfsarbeiters Franz Biberkopf,
der, aus dem Gefängnis entlassen, den Vorsatz faßt,
„anständig“ zu sein und in diesem Vorsatz scheitert.
Zunächst
scheint der entlassene Strafgefangene, der im Affekt seine
Lebensgefährtin erschlagen hatte, auf dem rechten Weg zu sein:
als Hausierer und Zeitungsverkäufer fristet er ein bescheidenes
aber ganz zufriedenes Dasein in den Vierteln um den Ostberliner
Alexanderplatz. Ein erster großer Bruch in seinem neuen Leben
tritt ein, als ihn ein Freund, Otto Lüders, betrügt, indem
er eine Witwe, die Franz zufällig kennengelernt hat und von der
er sich finanzielle Hilfe erhofft, erpreßt und so Franz‘
Vertrauen mißbraucht. Er verschwindet für einige Zeit.
Nach
einiger Zeit fängt sich Franz und beginnt wieder mit dem
Zeitungshandel. Zu einer schicksalhaften Begegnung kommt es, als er
Reinhold kennenlernt. Die Figur des Reinhold, die das weitere
Geschehen des Romans entscheidend mitbestimmen wird, kann als
Antitypos zu Franz, vielleicht sogar als sein „böser
Geist“12
verstanden werden. Hat sich dieser geschworen, anständig zu
bleiben, kümmert sich Reinhold nicht um irgendwelche moralischen
Kategorien, sondern läßt sich ausschließlich von
seinen Gefühlen bestimmen – zum Ende des Romans wird aus
Reinhold fast so etwas wie eine Inkarnation des Bösen
schlechthin.
Über
Reinhold gerät Franz an eine Gruppe von Einbrechern. Gegen
seinen Willen nehmen diese ihn zu einem nächtlichen Einbruch
mit. Als er, verzweifelt über die negative Wendung, fliehen
will, stößt ihn Reinhold aus dem fahrenden Fluchtauto und
Franz wird überfahren. Bei diesem Unfall verliert er einen Arm,
überlebt aber durch das Engagement von Freunden.
Auch
nach diesem zweiten Schlag steht Franz wieder auf und „hebt
gegen die dunkle Macht die Faust“ (215). Wieder nimmt das
Geschehen eine positive Wendung. Er lernt eine junge Frau kennen,
Emilie, die sich selbst lieber Sonja nennt (wer würde sich nicht
an die Gefährtin Raskolnikows in Dostojewskis „Schuld und
Sühne“ erinnert fühlen) und von Franz als Mieze
angesprochen wird. Zwischen beiden entwickelt sich eine intensive
Liebesbeziehung, die sich nicht davon stören läßt,
daß Mieze als Prostituierte Geld verdient, um den invaliden
Franz zu unterstützen. Als Franz wieder in das Einbruchsgeschäft
einsteigt, um seiner Invalidenexistenz durch Handeln einen Sinn zu
geben, bereitet sich der letzte und endgültige Schlag gegen ihn
vor. Reinhold, der Franz schaden möchte, versucht Mieze zu
verführen und ermordet sie, als sie sich ihm verweigert.
Franz
zerbricht an der Nachricht vom gewaltsamen Tod seiner Geliebten:
nachdem er zunächst verzweifelt versucht, Rache an Reinhold zu
nehmen, stellt er sich der Polizei, die ihn selbst des Mordes
verdächtigt. Er wird wegen seiner Verwirrung in ein Irrenhaus
eingeliefert, verweigert sich jeder Nahrung und ist dem Hungertod
nahe.
In
der ausführlich geschilderten Erfahrung des nahenden Todes
wendet sich das Schicksal des Franz: er wird wieder gesund und kehrt
an den Alexanderplatz zurück, wo er – vom Vorwurf des
Mordes freigesprochen – als Hilfsportier zu arbeiten beginnt.
Dies
ist die äußere Handlung des Romans. Döblin beschreibt
das Schicksal des Franz Biberkopf auf dem Hintergrund einer virtuosen
sprachlichen Collagetechnik: oft ist „Berlin Alexanderplatz“
als erster deutschsprachiger Großstadtroman bezeichnet worden.
Die Stadt Berlin wird nicht beschrieben, sondern sie beschreibt sich
selbst: „Hier redet alles, die Großstadt, die Häuser,
die Litfaßsäulen, die Polizeiprotokolle, sogar die
Statistik redet hier“13.
In die Handlung sind immer wieder Werbetexte, Statistiken und
Zeitungsannoncen eingefügt: die Vielschichtigkeit,
Gegensätzlichkeit, die Geschwindigkeit und Farbigkeit der Stadt
wird nicht einfach dargestellt, sondern entsteht beim Lesen dieses
Romans. Die Macht, die Franz letztlich zerbricht, ist eben diese
Stadt, deren Anforderungen er mit seinem Vorsatz der Anständigkeit
nicht genügen kann. Überleben kann in der Großstadt
nur, wer Geld hat, um Wohnung, Brot und ab und zu eine „Molle“
Bier zu bezahlen: „Er hat aller Welt und sich geschworen,
anständig zu bleiben. Und solange er Geld hatte, blieb er
anständig“ (45). Die zahlreichen essayistischen Einschübe,
Erklärungen des auktorialen Erzählers und die in Berliner
Dialekt formulierten Dialoge und zahlreichen inneren Monologe haben
dazu geführt, daß Döblins „Alexanderplatz“
immer wieder in die Nähe von Joyce’s „Ulysses“
gerückt wurden.
Neben
den zahlreichen Versatzstücken, die erzähltechnisch dazu
dienen, die schillernde Wirklichkeit der schwer faßbaren
Großstadt zu schildern, gibt es in Döblins Roman auch
zahlreiche Fragmente, die nicht unmittelbar diese beschreibende
Funktion haben, sondern vielmehr Deutungselemente sind, die das
Geschehen kommentieren und bestimmte Entwicklungen andeuten oder
vorausnehmen. Zum einen sind es Beschreibungen der Vorgänge auf
dem großen Berliner Schlachthof:14
die Metapher des Hammers, mit dem die Schlachttiere betäubt
werden, taucht in den Vorreden der einzelnen Bücher (vgl. 215,
301, 355) immer wieder auf, um das Schicksal des Franz zu deuten.
Die
weitaus meisten dieser Deutungselemente stammen aber aus der
biblischen Tradition. Es sind verfremdete Zitate oder Nacherzählungen
biblischer Passagen, vor allem aus dem Buch Hiob (vgl. 143-146,
379f), dem Propheten Jeremia (vgl. 197f, 211f) und der Apokalypse des
Johannes (vgl. 237, 253, 291, 385, 443). Döblin nimmt Teile der
biblischen Tradition auf, die mit ihrer je eigenen Aussage das
Geschehen des Romans kommentieren. Die häufige Zitierung des
apokalyptischen Motivs der Hure Babylon zum Beispiel rückt die
Stadt Berlin in die Nähe des in der Offenbarung des Johannes als
menschenmordenden Ungeheuers verurteilten Roms. Döblin nimmt die
biblischen Texte in ihrer jeweiligen Aussageabsicht ernst, verbiegt
sie nicht, sondern läßt sie als gleichsam objektive
Interpreten des Geschehens auftreten – durch die Auswahl und
die Stellung der biblischen Zitate und Anspielungen übt der
Autor aber einen erheblichen Einfluß auf die Aussage der
biblischen Einschübe aus.
Ein
weiteres Deutungselement, dem in seiner Häufigkeit15
die Bedeutung eines Leitmotivs zukommt, stammt ebenfalls aus dem
Kontext der christlichen Tradition. Es handelt sich um das Zitat des
alten Liedes „Da ist ein Schnitter, der heißt Tod“16.
Das Lied, von dem stets nur Teile der ersten Strophe zitiert werden,
entwirft ein grundsätzlich positives Bild vom Tod, der zwar mit
unausweichlicher Notwendigkeit kommt, der aber den Sterbenden „In
den himmlischen Garten / Auf den wir alle warten“ versetzt.
Dieses
religiöse Deutungselement verdichtet sich gegen Ende des Romans
zu einer Art Mysterienspiel. Der Tod tritt an das Sterbebett des
Franz Biberkopf und stellt ihm verschiedene Personen seines Lebens
vor Augen – ähnliche Verdichtungen waren im Verlauf des
Romans in kurzen Dialogen des Franz mit Satan (vgl. 162) oder Gott
(265) angedeutet worden. In der Auseinandersetzung mit seiner
Vergangenheit, die ihm vom Tod vor Augen gestellt wird, erkennt Franz
seine eigenen Fehler und die Fehler der anderen. Und Franz ergibt
sich, alles was er „hat“, was ihn ausmacht und „wirft
sich hin. Er hält nichts zurück“ (441). In dieser
Bewegung des sich Ergebens, sich Hingebens an den Tod ergibt sich
eine erstaunliche Wendung. In der Begegnung mit dem Tod stirbt Franz
Biberkopf und liegt gleichzeitig als „neuer Mensch“, dem
eine „andere Welt“ geschenkt ist, in seinem Krankenbett.
Keine Auferstehung, wohl aber ein Durchgang durch den Tod, der Franz
begegnet als der „Schnitter“, den er „nit
fürchtet“17.
Der
Großstadtroman Döblins, der mit seiner Collagentechnik
einer der Wegbereiter der literarischen Moderne war, hat nicht nur
wegen seines „metaphysischen Schlusses“18,
sondern auch wegen des ständige Anklingens biblischer und
anderer christlicher Motive, die das Geschehen kommentieren und
Deutungshilfen anbieten, eine klar ausgeprägte religiöse
Note.
„…si
parva licet componere magnis.“ (Vergil, Georgica)
Der
Vergleich, das Neben- und Gegeneinanderlesen zweier literarischer
Texte ist immer ein schwieriges Unterfangen, vor allem wenn sie
zeitlich so weit auseinanderliegen wie Brauns „Wendehals“
(1995) und Döblins „Alexanderplatz“ (1929). Spannend
ist der Versuch eines solchen Vergleiches aber dennoch oder
vielleicht auch gerade deshalb.
Überraschend
sind die frappierenden inhaltlichen und formalen Parallelen der
beiden Werke. Nicht nur der Schauplatz, das östliche Berlin mit
dem Alexanderplatz, von dem aus die Handlung ihren Lauf nimmt, ist
derselbe. Zentrales Thema ist in beiden Romanen das Scheitern und der
Versuch des Umgehens mit diesem Scheitern: bei Braun das Scheitern
der DDR und das persönliche Scheitern von mit der DDR eng
verbundenen Menschen, bei Döblin das Scheitern des kleinen
Mannes, der sich vorgenommen hat, anständig zu leben, dem es
aber nicht gelingt, diesen Vorsatz im komplexen Milieu der Großstadt
zu verwirklichen. In beiden Werken werden die Protagonisten von den
verschiedensten Wechselfällen durch die Stadt, hinaus in die
Provinz und wieder zurück in die Stadt getrieben und in beiden
Fällen hat die Macht des Geldes und die Korruption durch seinen
Besitz oder durch das Verlangen danach nicht unwesentlichen Einfluß
auf das Geschehen.
Die
Protagonisten sind sowohl bei Braun wie auch bei Döblin
Identifikationsfiguren: Ich und Er zeigen Züge, in denen sich
viele Menschen der ehemaligen DDR erkennen können, denen die
Wende auf ähnliche Weise einen Teil ihrer sozialen und geistigen
Existenzgrundlage genommen hat und zu denen in bestimmter Hinsicht
auch der Autor selbst gehört. Und auch Franz Biberkopf ist eine
Identifikationsfigur, freilich auf subtilere Weise als im
„Wendehals“: nicht die „Außenansicht“
der Figur des Hilfsarbeiters, der erst zum Zuhälter, dann zum
Dieb wird, lädt Döblins bürgerliche Leser zur
Identifikation ein, sondern vielmehr seine „Entschlossenheit,
anständig zu sein, […sein] Bedürfnis, mehr vom Leben
zu bekommen als ein Butterbrot, […sein] Scheitern.“19
Franz Biberkopf ist „eine zwar extreme, doch zugleich
exemplarische Figur“20.
Auch
in der formalen Perspektive gleichen sich der „Wendehals“
und „Berlin Alexanderplatz“ auf vielfältige Weise.
Beide Werke sind in einer Art Collagetechnik gestaltet, spielen mit
verschiedenen Stilformen, enthalten innere Monologe und lassen sich
im letzten keinem literarischen Genus eindeutig zuordnen.
Zwei
Autoren ganz unterschiedlicher zeitlicher, sozialer und
weltanschaulicher Kontexte haben sich mit dem gleichen urmenschlichen
Thema des Scheiterns beschäftigt. Auf den ersten Blick scheinen
beide Werke auch ein ähnliches Ende zu haben: die Hauptfiguren
sind auf sich selbst zurückgeworfen und es bleibt ihnen kaum
mehr übrig, als sich – trotzig oder still-ergeben –
dem Lauf der Dinge zu fügen. Die Ideale – seien sie real
existierender Sozialismus oder bürgerliche Anständigkeit –
sind enttäuscht, aber die gescheiterten Träger der Ideale
finden ihr Auskommen.
Und
dennoch: die Werke Brauns und Döblins unterscheiden sich durch
mehr als bloß die Wahl einer anderen „Tonart“ der
Erzählung. Der Weg der Protagonisten und vor allem der Weg des
Autors mit seinen Protagonisten ist in beiden Werken ein völlig
anderer. Im „Wendehals“ werden Ich und Er ziellos vom
Alexanderplatz durch Berlin getrieben. Sie haben kaum Einfluß
auf den Verlauf ihres Weges, sondern scheinen der Macht des Zufalls,
den Weisungen der neuen Verantwortlichen in der Kulturpolitik und den
Regeln des freien Marktes hilflos ausgeliefert zu sein. Es gibt weder
für die Handelnden selbst noch für den Erzähler eine
relevante Deutungsinstanz: der Rückgriff auf traditionelle
ideologische Interpretationsmuster ist sinnlos geworden, die Deutung
mit den Gesetzen des Marktes wird abgelehnt und die Hilfe
traditioneller religiöser Deutungen hat keine Kraft mehr und
wird ins Lächerliche gezogen. Einziger Ausweg der relativen
Selbstbehauptung ist das widerspenstige „Trotzdestonichts“
des Titels, das aber in der Schlußbemerkung von Ich zu einem
gelassenen „Wenigerdestonichts“ (124) abgemildert und in
der letzten der rahmenden Erzählungen als triviales „Lebe,
so gut du kannst“ (147) ausbuchstabiert wird.
Franz
Biberkopf erlebt sich ähnlich wie Ich und Er als von Kräften
bestimmt, die über ihn hinausgehen, und gegen die er sich nicht
zur Wehr setzen kann. Anders als bei den Protagonisten des
„Wendehals“ erfährt Franz diese Kräfte aber
nicht nur als weltimmanente Faktoren, sondern durchaus als
transzendente Schicksalsmacht, die in der Person des Reinhold eine
quasi-inkarnatorische Realität gewinnt. Und auch ganz
unmittelbar macht Franz die Erfahrung der personhaften
Schicksalsmacht: im Gespräch mit Satan (162), mit Gott (265) und
in der Begegnung mit dem Tod gegen Ende des Romans. Auch der
auktoriale Erzähler begleitet deutend und kommentierend den Weg
des Franz Biberkopf; der Jude Döblin, der 1941 zum Katholizismus
konvertierte, greift dabei immer wieder auf biblisch-christliche
Traditionen zurück. Dabei werden diese Traditionsstücke
nicht im Sinne einer zwingenden, notwendigen und einzig richtigen
Deutung oktroyiert, sondern als Motive angeführt und mit dem
Handlungsstrang verwoben. Auch wenn Gott nicht hilft, nicht helfen
will, seine Hilfe wenigstens nicht erfahrbar ist, so ist er doch
anwesend: nicht umsonst wird gerade diese Botschaft des Buches Hiob
in „Berlin Alexanderplatz“ oft zitiert.
Vielleicht
kann der Entwurf Döblins, der die pluriforme Realität des
Berlins der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts wahr- und
ernstnimmt und gleichzeitig die biblisch-christliche Tradition als
Deutungsmöglichkeit einführt, ohne sie dem Leser aufzwingen
zu wollen, ein Hinweis darauf sein, wie ein Denken, das sich der
christlichen Überlieferung verpflichtet weiß, heute mit
der von Volker Braun geschilderten Realität umgehen kann. Das
Fehlen einer Wirklichkeit, die sinnvolle Deutungshilfe leisten kann,
ist für unsere Zeit – nicht nur in der ehemaligen DDR –
wohl typisch. Aufgabe des Denkens könnte in diesem
säkularisierten und säkularistischen Umfeld sein, die
Antworten der biblischen Tradition als Möglichkeiten der
sinnvollen Interpretation vorzustellen und die Zeitgenossen so
herauszufordern, sich mit den christlichen Deutungsmustern
auseinanderzusetzen. Die alten Geschichten können ihre
sprachliche und deutende Kraft auch in einem fremden Umfeld
entfalten, wie Döblin in seinem Roman auf meisterhafte Weise
vorgeführt hat – die Literatur ist nicht nur
„komprimiertes Leben“, sondern kann auch einen wertvollen
Beitrag zu dessen Deutung leisten.
1
Die Anregung zu diesem Vergleich verdanke ich P. Dr. Elmar Salmann
OSB.
2
V. Braun, Der Wendehals. Eine Unterhaltung, Frankfurt a. M. 1995.
Die um eine Episode erweiterte Taschenbuchausgabe erschien 2000
unter dem Titel „Trotzdestonichts oder Der Wendehals“
ebenfalls in Frankfurt a. M.
3
S. Brandt, Einmal ich, einmal er, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 14.VI.1995.
4
Alle folgenden Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die
Taschenbuchausgabe: V. Braun, Trotzdestonichts, Frankfurt a. M.
2000.
5
Brandt.
6
Ironischerweise stiehlt er nur ein Paket Würfelzucker.
7
Dies wird formal schon durch den unpersönlichen
Ich-Er-Gegensatz betont.
8
Z.B. „Herr Kurator“ (34), „Herr Vorsitzender“
(35), „Herr Kapitän“ (44), „Herr Inspizient“
(49), „Eminenz“ (!; 51) etc.
9
Brandt.
10
Bemerkenswert ist, daß Braun den Titel der Erzählung für
die Taschenbuchausgabe 2000 von „Der Wendehals“ in
„Trotzdestonichts“ geändert hat und so diese
Haltung zu betonen scheint.
11
Die Seitenangaben beziehen sich alle auf A. Döblin, Berlin
Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, Frankfurt a. M.
1999.
12
M. Reich-Ranicki, Unser Biberkopf und seine Mieze, in: Nachprüfung.
Über deutsche Schriftsteller von gestern, München 71999,
149-157, 152.
13
D. Forte, Ein Nachwort, in: A. Döblin, 431-490, 483.
14
Vgl. 136-142, 146-148, 224, 351ff.
15
Vgl. 184, 227f, 241, 270, 345, 352, 371, 383.
16
Das wohl aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
stammende Lied wurde von A. v. Arnim und C. Brentano in ihre
Liedersammlung „Des Knabens Wunderhorn“ aufgenommen.
17
Vgl. die letzte, hoffnungsvolle Strophe des Liedes aus „Des
Knabens Wunderhorn“.
18
Reich-Ranicki, 150.
19
Ebd., 149.
20
Ebd.
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