Erschienen in Ausgabe: No 59 (1/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
Das Streben nach unbedingter Enthüllung scheint an seinen eigenen Maßstäben zu scheitern.
von Tobias Fresenius
WikiLeaks hat ein turbulentes Jahr hinter sich. Erst 2006
gegründet, ist man vier Jahre später mit der Veröffentlichung als geheim
eingestufter Dateien von US-Einsätzen in Afghanistan und Irak zu einer
internationalen Medien-Institution geworden. Seitdem stehen WikiLeaks und deren
Spiritus Rector, der Australier Julian Assange, im Rampenlicht der
Weltöffentlichkeit. Während die Befürworter von WikiLeaks eine neue Macht der
Masse sehen und ein Mehr an Transparenz bejubeln, kritisieren die Gegner die
Struktur von WikiLeaks und warnen vor den Gefahren dieses Lecks für die
legitimen Interessen von Staaten. Die lebhafte Debatte in Print- und
Onlinemedien über WikiLeaks zeigt, dass Assange offenbar einen Nerv getroffen
hat. WikiLeaks scheint ein Testfall dafür zu sein, wie heute die Macht zwischen
Staat und der anonymen Internet-Gemeinde verteilt ist.
Struktur und Funktionsweise
WikiLeaks ist eine Seite für Whistleblower (englisch:
„Informanten“). Optisch kommt sie schlicht, ja fast unspektakulär daher: eine
einfache textlastige HTMLSeite in Blau, Grau und Schwarz. Sie ähnelt damit
nicht nur im Namen dem Online-Lexikon Wikipedia. Beide haben aber nichts
miteinander zu tun und sind unabhängig voneinander. Dennoch ist die
Namensähnlichkeit kein Zufall, soll sie doch auf eine vergleichbare
weltverbessernde Grundidee deuten. Auf der langen Startseite von WikiLeaks
findet man die neuesten „geleakten“ Dokumente, sortiert nach Ländern, sowie ein
Archiv. Ganz nach den Prinzipien des Web 2.0 kann jeder, der möchte,
partizipieren und selbst Dokumente hochladen.
Hier enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten mit
Facebook und Co. Anders als bei anderen sozialen Medien wird die Anonymität des
Nutzers durch eine spezielle Software gewährleistet, indem Stammdaten und der
Standort des Computers getarnt werden. Zudem wird das hochgeladene Material
zunächst geprüft, gesichtet und teilweise redaktionell bearbeitet, sodass bis
zur Veröffentlichung manchmal Monate vergehen. Und schließlich geht es auf
WikiLeaks nicht um die Banalitäten des Alltags, sondern um oftmals brisante
Informationen.
WikiLeaks definiert sich selbst als
„Open-Source-Nachrichtendienst“, der „unethisches Verhalten in Regierungen und
Unternehmen“ aufdecken will. Der ehemalige Sprecher von WikiLeaks, Daniel
Domscheit-Berg alias Daniel Schmitt, erläuterte in einem Interview mit Spiegel-Online
die Ziele: „Es ging uns immer darum, Korruption und Missbrauch von Macht
aufzudecken. Im Kleinen wie im Großen.“ Mit den veröffentlichten Dokumenten
will WikiLeaks die öffentliche Meinung verändern und auch die von Menschen mit
politischem Einfluss. „Wir sind wie Anwälte. Wir vertreten die Interessen
anonymer Tippgeber und bringen ihre Informationen vor das Gericht der
Öffentlichkeit“, so Julian Assange, der in WikiLeaks auch eine Art neuen
Journalismus sieht, der die ungleiche Machtverteilung zwischen Lesern und
Journalisten beendet. Der Leser könne nun dank der auf WikiLeaks angebotenen
Dokumente Informationen selbstständig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen.
Denn, so wieder Domscheit-Berg: „Mündige Bürger brauchen alle Informationen, um
wirklich Entscheidungen treffen zu können.“
Nach eigenen Angaben ist WikiLeaks von chinesischen
Dissidenten, Journalisten und Technikern ins Leben gerufen worden. Über die
Gründer ist ebenso wenig bekannt wie darüber, wie viele Helfer Julian Assange
neben Domscheit-Berg beschäftigt. Angeblich sind es fünf Vollzeitkräfte und zwischen
achthundert und tausend unabhängige Experten, die optional für Verifizierungs-
oder Programmieraufgaben hinzugezogen werden
können. Ob die Datenflut, mit der WikiLeaks sich seit
2010 konfrontiert sieht, damit bewältigt werden kann, bleibt wie so vieles bei
WikiLeaks im Unklaren. Immerhin, so die Berechnung der US-amerikanischen
Zeitung The Nation, habe WikiLeaks seit 2007 mehr Scoops abgeschöpft als
die Washington Post, das Aufdeckermedium schlechthin, in dreißig Jahren.
Derzeit erhält WikiLeaks dreißig neue Dokumente am Tag,also knapp elftausend im Jahr. Das Zitat von
Billy Graham auf der WikiLeaks-Seite „Courage is contagious – Mut ist
ansteckend“ scheint sich also zu bewahrheiten.
Zur Veröffentlichung aufgenommen werden uneingeschränkt
alle geheimen, zensierten oder auf sonstige Weise in ihrer Veröffentlichung
beschränkten Dokumente, die von politischem, diplomatischem oder ethischem
Interesse sind. Beispiele, die in Deutschland populär wurden, sind die
abgefangenen Pagernachrichten des 11. September, die Toll-Collect-Verträge oder
die Planungsdokumente der Loveparade 2010. Das erste Dokument veröffentlichte
WikiLeaks im Dezember 2006: eine interne Anweisung des somalischen
Rebellenführers Sheikh Hassan Dahir Aweys. Darin wurde zur Exekution hochrangiger
somalischer Offizieller aufgerufen, für den Mord sollten Kriminelle angeheuert
werden. Die Echtheit des Dokuments konnte allerdings nie verifiziert werden.
Heute arbeitet man genauer, ist doch das größte Kapital von WikiLeaks die
eigene Glaubwürdigkeit: Alle Inhalte werden daher vor ihrer Veröffentlichung
nach dem Mehraugenprinzip unabhängig und ohne Kenntnis zunächst voneinander
geprüft und anschließend von Investigativjournalisten untersucht. Hauptaugenmerk
liegt dabei auf der Authentizität, dem Motiv und der Gelegenheit. Offenbar ist
dieses Vorgehen erfolgreich. Bis heute hat WikiLeaks noch kein Dokument
gezeigt, das als Fälschung nachgewiesen werden konnte. Man kann erahnen,
welchem Druck sich die Verantwortlichen von WikiLeaks ausgesetzt sehen, dürften
die „Bloßgestellten“ doch wenig glücklich über die Veröffentlichungen sein.
Nicht ohne Grund haben Länder wie China, Russland, Simbabwe und Thailand den
Zugang zu der Seite gesperrt.
Daher tut WikiLeaks alles Erdenkliche, um seine
Informanten wie auch seine Infrastruktur zu schützen. Früher reichte es aus,
dass Assange seine Disketten in einem Bienenstock versteckte, heute umschifft
er geschickt die netzpolitischen nationalstaatlichen Hürden und profitiert so
vom Fehlen international verbindlicher Regeln. Für Christian Christensen,
Dozent für Medien- und Kommunikationsforschung an der Universität Uppsala,
pickt WikiLeaks „sich gewissermaßen genau die Regeln heraus, die für den
digitalen Enthüllungsjournalismus von Vorteil sind“.
Internationale Spielräume
So ist es kein Zufall, dass die Webseite von WikiLeaks
vom schwedischen Provider „Bahnhof“ gehostet wird. Dessen Server liegen gut
dreißig Meter unter der Erde Stockholms in einem ehemaligen Atombunker und
können im Notfall von zwei U-Boot-Generatoren mit Strom versorgt werden. Für
Assanges Wahl mindestens genauso wichtig war aber zum einen, dass Schweden sich
gegen die von der EU vorgesehene Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung
erfolgreich sträubt.Zum anderen, dass hier Journalisten zum Schutz ihrer
Informanten gesetzlich verpflichtet sind.
Die Daten von WikiLeaks selbst sind auf mehr als zwanzig
Servern weltweit gestreut, unter anderem in Belgien. Hier gelten strenge
Quellenschutzgesetze. WikiLeaks betreibt Hunderte Domainnamen und verschleiert
mit großem Aufwand und modernsten Werkzeugen seinen Kommunikationsverkehr. In
Island wiederum ist Assange die treibende Kraft hinter der „Islandic Modern
Media Initiative“. Dieses Gesetzespaket wurde eigens ersonnen, um das Land zu
einer Zuflucht für investigative Journalisten und zu einer Hochburg der
Meinungsfreiheit zu machen.
Ähnlich global und raffiniert funktioniert die
Finanzierung von WikiLeaks. Assange, der sich in seiner Zeit als Hacker den
Namen „mendax“ (lateinisch „lügnerisch“) gab, hat ein nicht mehr zu
durchschauendes Netzwerk aufgebaut, an dem selbst das Wall Street Journal verzweifelte
und es schlichtweg als „ausgeklügelt“ bezeichnete. Klar ist nur, dass Assange
auf Spenden über die Webseite und persönliche Kontakte angewiesen ist, um
allein die laufenden Kosten für den Betrieb von WikiLeaks in Höhe von
zweihunderttausend US-Dollar zu decken. Die Geldflüsse werden über ein
komplexes System geleitet, um die Anonymität der Spender zu wahren. In
Australien ist WikiLeaks als Bibliothek registriert, in Frankreich als
Stiftung, in Schweden als Zeitung, in den USA gibt es zwei steuerbefreite
Wohltätigkeitsorganisationen. Eine Schlüsselrolle kommt der deutschen
Wau-Holland-Stiftung zu. Die gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Berlin, die dem
Chaos Computer Club nahesteht, verwaltet das Geld.
Scheitern an eigenen Wertmaßstäben
Während Assange nimmermüde betont, all diese Tricks und
Nebelkerzen seien notwendig, weil man in den Fokus von zahlreichen
Geheimdiensten geraten sei, die WikiLeaks vernichten wollten, gerät der
engagierte Einsatz für mehr Transparenz in krassen Widerspruch zu der eigenen
Öffentlichkeitsarbeit. Mittlerweile gilt WikiLeaks nicht nur für das
Online-Magazin Slate als „undurchsichtige abgeschottete Organisation”.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis mit Wikileakileaks.org eine Whistleblower-Seite
vor Kurzem online ging, die die Geheimnisse von WikiLeaks offenlegen will.
Viele Fragen stehen im Raum: Wer darf bei WikiLeaks mitmachen, wer entscheidet,
welche Dokumente veröffentlicht werden? Wer sind die Geldgeber? Wer
kontrolliert die selbst ernannten Chefaufklärer? Assange sollte schleunigst
antworten. Wer Regierungen zu Transparenz zwingen will, der muss bereit sein,
über die Kriterien seiner eigenen Arbeit ebenfalls Rechenschaft abzulegen.
Andernfalls dürfte das Projekt zunehmend in Konflikt mit den eigenen
Wertmaßstäben – Neutralität, Unabhängigkeit, Transparenz und Gleichbehandlung –
geraten.
Nachdem sich WikiLeaks und Domscheit-Berg im September
2010 getrennt hatten, kritisierte der ehemalige Sprecher die Ungleichbehandlung
von Dokumenten. Man agiere diskriminierend, wenn Dinge, die nur lokal von
Bedeutung seien, nicht mehr genauso bearbeitet würden wie umfangreiche
Dokumente, die national oder sogar international wichtig seien. Im Interview
mit Spiegel Online sagte er: „Wir versprechen allen unseren Quellen, ihr
Material zu publizieren. Zuletzt haben wir uns allerdings nur auf die großen
Themen konzentriert und praktisch alle Ressourcen darauf verwendet.“ WikiLeaks
scheint in den „Sog einer Aufmerksamkeitsökonomie“ geraten zu sein, die
zulasten der postulierten Neutralität geht. Ein Grund hierfür ist, dass das
Publikum zwar sehr enthusiastisch ist, aber nicht wirklich in die Arbeit
eingebunden wird. Es ist nur mit ständig neuen Enthüllungen bei der Stange zu
halten. Hier setzt ein Teufelskreis ein, der sich durch die Abhängigkeit von
Spendengeldern noch verschärft. Die Federation of American Scientists lehnte
konsequenterweise WikiLeaks’ Einladung, dem Beirat beizutreten, ab. Es fehle an
verantwortlicher redaktioneller Kontrolle. Weder sei sichergestellt, dass „der
gute Geschmack“ gewahrt bleibe, noch dass die veröffentlichten Dokumente nicht
zu einem Akt der Aggression oder einer Aufwiegelung zur Gewalt führten.
„Informationsvandalismus“ wirft deswegen der
amerikanische Wissenschaftler Steven Aftergood WikiLeaks vor. Das Streben nach
unbedingter Wahrheit mag auf den ersten Blick konsequent und ehrenwert sein, es
ignoriert aber zugleich die Folgen des eigenen Handelns. Schnell ist man selbst
zum Spielball in der politischen Auseinandersetzung geworden, wenn man sich wie
WikiLeaks zum Richter über Schuld und Unschuld aufschwingt.
Afghan War Diary
So ein Vorgehen birgt Gefahren. Das wurde im Spätsommer
2010 deutlich, als WikiLeaks unter dem Titel „Afghan War Diary“ rund
neunzigtausend Einsatzberichte von US-Soldaten und Geheimdienstmitarbeitern aus
den Jahren 2004 bis 2009 online stellte.
Auch wenn diese nur wenige neue Details, etwa über
Pakistan, die Raketengefahr für Flugzeuge und das Ausmaß gezielter Tötungen,
enthalten und zumeist Papier gewordene banale Routine darstellen, so bestätigen
sie doch, was man geahnt und befürchtet hatte. Mithilfe dieses „Schatzes“ (Spiegel
Online) verwandelt sich vorläufiges in definitives Wissen.
Das Unaussprechliche wird ausgesprochen und ist dabei
authentisch, weil es in der Sprache der Soldaten verfasst wurde. Das „Afghan
War Diary“ untermauert die Befürchtungen über den Zustand des Landes und des
Einsatzes und ist ein Beleg für das Ausmaß der Resignation. Es zeigt, dass
gewaltsame Aktionen sehr viel häufiger sind, als das Militär zugibt oder die
Medien berichten. Einsichten, Strukturen und Zusammenhänge eines Krieges, der
seit bald neun Jahren geführt wird, werden erkennbar.
Assange bezeichnete die Veröffentlichung in einer
Pressemitteilung als bedeutendes Archiv, das die Wahrheit zutage fördert und zu
einem tieferen Verständnis der Geschehnisse führen wird. „Wir wollen helfen,
die historische Aufzeichnung zu vervollständigen und alles aufzudecken, was wichtig
für die Menschheit ist, aber sonst nicht in die offizielle Aufzeichnung
einfließt“, ergänzt Domscheit-Berg.
Wie schon bei anderen Veröffentlichungen zuvor wurde das
Material schlampig bearbeitet, mit lebensgefährlichen Konsequenzen. Denn das
„Afghan War Diary“ enthält entgegen anderen Ankündigungen sehr wohl die
lesbaren Namen von Hintermännern, zivilen Unterstützern und Zuträgern der
NATO-Streitkräfte. Diese Personen sind nun enttarnt und müssen die Rache der
Taliban fürchten. Doch selbst wenn niemand zu Schaden kommt, die Basis –
nämlich das Vertrauen – für eine Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst ist
nachhaltig zerstört. Zukünftig dürfte der Westen noch weniger „Augen und Ohren“
am Hindukusch haben. Erstmalig ist das Netz damit zu einer Gefahr für Krieg
führende Nationen geworden, die auf geheime Informationen angewiesen sind.
Geheimnis als Merkmal politischer Institutionen
Geheime Informationen entscheiden über Erfolg oder
Misserfolg in einem Konflikt. Nicht immer muss öffentliches Licht gesünder als
die Dunkelheit von Geheimnissen sein. Das Geheimnis ist nicht nur Mittel,
sondern auch Merkmal politischer Institutionen. Sie sind darauf angewiesen.
Institutionen, die über ein Wissen verfügen, zu dem nicht jeder Zugang hat,
verfügen über Macht. Das bedeutet umgekehrt, dass Institutionen entmachtet
werden, wenn man ihre Geheimnisse bricht. Während Immanuel Kant das
Verschwinden strategischer Geheimnisse als die Voraussetzung eines dauerhaften
Weltfriedens begriffen hat, verdankt der Rechtsstaat seinen Aufstieg aber
gerade der erfolgreichen Monopolisierung des politischen Geheimnisses.
Dazu gehört der verantwortliche, rechtlich geregelte und
gerichtlich überprüfbare Umgang mit Geheimnissen, ihrer kontrollierten
Offenlegung und Bewahrung. Man darf bezweifeln, dass dieses Monopol bei
WikiLeaks besser aufgehoben ist, wenn nun nicht mehr Regierungen entscheiden,
was öffentlich gemacht wird, sondern die Leakers. Frei nach Heinrich Heine, der
in seinem Epos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ feststellte: „Die Freiheit der
Information und Meinung ist die natürliche Feindin des Prinzips Ruhe und
Ordnung“, dürfen Regierungen Geheimnisse haben, sie brauchen sie, um ihren
Bürgern Schutz zu bieten.
Enthüllungsjournalismus 2.0?
Die Veröffentlichung des „Afghan War Diary“ hat auch eine
breite Debatte über die Rolle und die Zukunft des Journalismus ausgelöst.
Anhänger von WikiLeaks sehen im technischen Fortschritt und dem Web 2.0
Multiplikatoren einer umfassenden Pressefreiheit. Zwar ermöglicht es die „erste
staatenlose Newsorganisation der Welt“ – so der New Yorker Journalismusforscher
Jay Rosen – dem Leser, sich unabhängig von den Medien mittels Exklusivquellen
über bestimmte Sachverhalte zu informieren.
WikiLeaks wäre dann die logische Antwort einer
medienkompetenten Zivilgesellschaft auf die Informationsarbeit von denen
unterstellt wird, sie würden oftmals bewusst desinformieren.
Zu Recht wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,
dass von jeher investigativer Journalismus
ohne Informanten nicht möglich wäre. Was John Wilkes 1770 mit „geheimen“, da
verbotenen, Berichten aus dem britischen Parlament begann, machte in
Deutschland das Bundesverfassungsgericht mit dem Spiegel-Urteil 1966 und
im Cicero-Urteil 2007 deutlich: Whistleblowing ist ein legitimes
und notwendiges journalistisches Instrument der Informationsbeschaffung. Doch
ob, wie Tracy Schmidt vom Time Magazine frohlockt, WikiLeaks ähnliche
Bedeutung erlangen kann wie der Freedom of Information Act, muss
offenbleiben. Vielmehr scheint es ein Mythos zu sein, dass der ungefilterte Zugang
zu Informationen automatisch demokratischen Wandel hervorbringt. Informationen und
Technologie sind nur dann von Nutzen, wenn sie verantwortungsvoll nutzbar
gemacht werden.
Das hat auch Assange erkannt. Bei der Veröffentlichung des
„Diary“ griff er auf die Kompetenz des altehrwürdigen Journalismus zurück. Er
gewährte dem Spiegel, der New York Times und dem Guardian einen
exklusiven Einblick in die Dokumente, die sich mit großen Titelgeschichten revanchierten.
Es braucht offenbar die traditionellen Medien, um überhaupt
angemessen rezipiert werden zu können und die gewünschte
Aufmerksamkeit auszulösen. Erst recht, weil manche Storys schlichtweg zu groß
sind, um überhaupt angemessen rezipiert werden zu können und eine entsprechende
Reaktion auszulösen. Die über neunzigtausend Dokumente zählen zweifellos dazu.
Hätte man diese direkt online gestellt, wäre jede Resonanz ebenso überhastet
wie chaotisch und ungenau ausgefallen. Es bedarf der Einordnung und der
Redaktion. Gerade sensible Informationen müssen von verantwortungsvollen Journalisten
gesichtet werden, die, anders als WikiLeaks, sich dabei an journalistische
Regeln, etwa den Schutz der Persönlichkeitsrechte oder Fragen des
Urheberrechts, halten.
Die Medienpartnerschaft mit den großen drei (Spiegel,
Guardian, New York Times) war daher sicher der schlaueste Coup, den
WikiLeaks bisher landen konnte. Schon denkt Assange, der als selbstherrlich
gilt, laut darüber nach, brisante Informationen vorab an höchstbietende
Medienpartner zu verkaufen. Das würde darauf
hinauslaufen, dass sich WikiLeaks zunehmend auf große, aufsehenerregende Veröffentlichungen
konzentrierte. Diese Entwicklung wird offenbar nicht von allen beteiligten
Personen bei WikiLeaks mitgetragen. Dem Projekt droht die Spaltung, auch weil
sich Assange trotz der gegen ihn von der schwedischen Staatsanwaltschaft im
August 2010 erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe nicht zurückziehen will.
WikiLeaks hat es geschafft, Whistleblowing populär
zu machen. WikiLeaks kann dann ein hilfreiches Instrument sein, wenn es seinen
eigenen Ansprüchen und Wertmaßstäben zukünftig gerecht wird und sich
professionalisiert. Bei aller Gefahr, der sich Julian Assange ausgesetzt zu
glauben scheint, Geheimniskrämerei ist kein fruchtbarer Boden für Transparenz.
Es braucht eine leistungsfähige Infrastruktur und eine vielköpfige Mitarbeiterschaft.
WikiLeaks darf nicht nur dem journalistischen Coup hinterherrennen, sondern
muss sich auf seine Wurzeln besinnen. Das bedeutet, dass alle Dokumente gleich
zu behandeln sind und
jede bewusste Wertung von Material vermieden werden muss.
Wenn das gelingt, kann WikiLeaks die Presseberichterstattung um die ein oder
andere wertvolle Zusatzinformation anreichern, niemals aber ersetzen.
C-Vermerk: in: Die Politische Meinung, Freiheit Online?,
November 2010, 55. Jahrgang, S. 30-35.
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