Erschienen in Ausgabe: No 60 (2/2011) | Letzte Änderung: 26.02.11 |
von Max Weber
Einleitung
Der Vortrag, den ich auf Ihren Wunsch zu halten habe, wird Sie nach
verschiedenen Richtungen notwendig enttäuschen. In einer Rede über Politik als
Beruf werden Sie unwillkürlich eine Stellungnahme zu aktuellen Tagesfragen
erwarten. Das wird aber nur in einer rein formalen Art am Schlusse geschehen
anlässlich bestimmter Fragen der Bedeutung des politischen Tuns innerhalb der
gesamten Lebensführung. Ganz ausgeschaltet werden müssen dagegen in dem
heutigen Vortrag alle Fragen, die sich darauf beziehen: welche Politik man
treiben, welche Inhalte, heißt das, man seinem politischen Tun geben soll. Denn
das hat mit der allgemeinen Frage: was Politik als Beruf ist und bedeuten kann,
nichts zu tun. – Damit zur Sache!
Was verstehen wir unter Politik? Der Begriff ist außerordentlich weit und
umfasst jede Art selbständig leitender Tätigkeit. Man spricht von der
Devisenpolitik der Banken, von der Diskontpolitik der Reichsbank, von der
Politik einer Gewerkschaft in einem Streik, man kann sprechen von der Schulpolitik
einer Stadt- oder Dorfgemeinde, von der Politik eines Vereinsvorstandes bei
dessen Leitung, ja schließlich von der Politik einer klugen Frau, die ihren
Mann zu lenken trachtet. Ein derartig weiter Begriff liegt unseren
Betrachtungen vom heutigen Abend natürlich nicht zugrunde. Wir wollen heute
darunter nur verstehen: die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines
politischen Verbandes, heute also: eines Staates.
Was ist nun aber vom Standpunkt der soziologischen Betrachtung aus ein
»politischer« Verband? Was ist: ein »Staat«? Auch er lässt sich soziologisch
nicht definieren aus dem Inhalt dessen, was er tut. Es gibt fast keine Aufgabe,
die nicht ein politischer Verband hier und da in die Hand genommen hätte,
andererseits auch keine, von der man sagen könnte, dass sie jederzeit,
vollends: dass sie immer ausschließlich denjenigen Verbänden, die man als
politische, heute: als Staaten, bezeichnet, oder welche geschichtlich die
Vorfahren des modernen Staates waren, eigen gewesen wäre. Man kann vielmehr den
modernen Staat soziologisch letztlich nur definieren aus einem spezifischen
Mittel, das ihm, wie jedem politischen Verband, eignet: der physischen
Gewaltsamkeit. »Jeder Staat wird auf Gewalt gegründet«, sagte seinerzeit
TROTZKIJ in Brest-Litowsk. Das ist in der Tat richtig. Wenn nur soziale Gebilde
beständen, denen die Gewaltsamkeit als Mittel unbekannt wäre, dann würde der
Begriff »Staat« fortgefallen sein, dann wäre eingetreten, was man in diesem
besonderen Sinne des Wortes als »Anarchie« bezeichnen würde. Gewaltsamkeit ist
natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates: – davon ist
keine Rede –, wohl aber: das ihm spezifische. Gerade heute ist die Beziehung
des Staates zur Gewaltsamkeit besonders intim. In der Vergangenheit haben die
verschiedensten Verbände – von der Sippe angefangen – physische Gewaltsamkeit
als ganz normales Mittel gekannt. Heute dagegen werden wir sagen müssen: Staat
ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten
Gebietes – dies: das »Gebiet« gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer
physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der
Gegenwart Spezifische ist: dass man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen
das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur so weit zuschreibt, als der Staat
sie von ihrer Seite zulässt: er gilt als alleinige Quelle des »Rechts« auf
Gewaltsamkeit.
Politik, Herrschaftsformen
»Politik« würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach
Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb
eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.
Das entspricht im wesentlichen ja auch dem Sprachgebrauch. Wenn man von
einer Frage sagt: sie sei eine »politische« Frage, von einem Minister oder
Beamten: er sei ein »politischer« Beamter, von einem Entschluss: er sei
»politisch« bedingt, so ist damit immer gemeint: Machtverteilungs-,
Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen sind maßgebend für die
Antwort auf jene Frage oder bedingen diesen Entschluss oder bestimmen die
Tätigkeitssphäre des betreffenden Beamten. – Wer Politik treibt, erstrebt
Macht: Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele (idealer oder
egoistischer), – oder Macht »um ihrer selbst willen«: um das Prestigegefühl,
das sie gibt, zu genießen.
Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen
Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen)
Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.
Damit er bestehe, müssen sich also die beherrschten Menschen der beanspruchten
Autorität der jeweils herrschenden fügen. Wann und warum tun sie das? Auf
welche inneren Rechtfertigungsgründe und auf welche äußeren Mittel stützt sich
diese Herrschaft?
Es gibt der inneren Rechtfertigungen, also: der Legitimitätsgründe einer
Herrschaft – um mit ihnen zu beginnen – im Prinzip drei*. Einmal die Autorität
des »ewig Gestrigen«: der durch unvordenkliche Geltung und gewohnheitsmäßige
Einstellung auf ihre Innehaltung geheiligten Sitte: »traditionale« Herrschaft,
wie sie der Patriarch und der Patrimonialfürst alten Schlages übten. Dann: die
Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma), die ganz
persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum
oder anderen Führereigenschaften eines einzelnen: »charismatische« Herrschaft,
wie sie der Prophet oder – auf dem Gebiet des Politischen – der gekorene
Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische
Parteiführer ausüben. Endlich: Herrschaft kraft »Legalität«, kraft des Glaubens
an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln
begründeten sachlichen »Kompetenz«, also: der Einstellung auf Gehorsam in der
Erfüllung satzungsmäßiger Pflichten: eine Herrschaft, wie sie der moderne
»Staatsdiener« und alle jene Träger von Macht ausüben, die ihm in dieser
Hinsicht ähneln. – Es versteht sich, dass in der Realität höchst massive Motive
der Furcht und der Hoffnung – Furcht vor der Rache magischer Mächte oder des
Machthabers, Hoffnung auf jenseitigen oder diesseitigen Lohn – und daneben
Interessen verschiedenster Art die Fügsamkeit bedingen. Davon sogleich. Aber
wenn man nach den »Legitimitäts«gründen dieser Fügsamkeit fragt, dann
allerdings stößt man auf diese drei »reinen« Typen. Und diese
Legitimitätsvorstellungen und ihre innere Begründung sind für die Struktur der
Herrschaft von sehr erheblicher Bedeutung. Die reinen Typen finden sich
freilich in der Wirklichkeit selten. Aber es kann heute auf die höchst
verwickelten Abwandlungen, Übergänge und Kombinationen dieser reinen Typen
nicht eingegangen werden: das gehört zu den Problemen der »allgemeinen
Staatslehre«.
Uns interessiert hier vor allem der zweite von jenen Typen: die Herrschaft
kraft Hingabe der Gehorchenden an das rein persönliche »Charisma« des
»Führers«. Denn hier wurzelt der Gedanke des Berufs in seiner höchsten
Ausprägung. Die Hingabe an das Charisma des Propheten oder des Führers im
Kriege oder des ganz großen Demagogen in der Ekklesia oder im Parlament
bedeutet ja, dass er persönlich als der innerlich »berufene« Leiter der
Menschen gilt, dass diese sich ihm nicht kraft Sitte oder Satzung fügen,
sondern weil sie an ihn glauben. Er selbst zwar lebt seiner Sache, »trachtet
nach seinem Werk«, wenn er mehr ist als ein enger und eitler Emporkömmling des
Augenblicks. Seiner Person und ihren Qualitäten aber gilt die Hingabe seines
Anhanges: der Jüngerschaft, der Gefolgschaft, der ganz persönlichen
Parteigängerschaft. In den beiden in der Vergangenheit wichtigsten Figuren: des
Magiers und Propheten einerseits, des gekorenen Kriegsfürsten, Bandenführers,
Kondottiere andererseits, ist das Führertum in allen Gebieten und historischen
Epochen aufgetreten. Dem Okzident eigentümlich ist aber, was uns näher angeht:
das politische Führertum in der Gestalt zuerst des freien »Demagogen«, der auf
dem Boden des nur dem Abendland, vor allem der mittelländischen Kultur, eigenen
Stadtstaates, und dann des parlamentarischen »Parteiführers«, der auf dem Boden
des ebenfalls nur im Abendland bodenständigen Verfassungsstaates gewachsen ist.
Diese Politiker kraft »Berufes« in des Wortes eigentlichster Bedeutung sind
nun aber natürlich nirgends die allein maßgebenden Figuren im Getriebe des
politischen Machtkampfes. Höchst entscheidend ist vielmehr die Art der
Hilfsmittel, die ihnen zur Verfügung stehen. Wie fangen die politisch
herrschenden Gewalten es an, sich in ihrer Herrschaft zu behaupten? Die Frage
gilt für jede Art von Herrschaft, also auch für die politische Herrschaft in
allen ihren Formen: für die traditionale ebenso wie für die legale und die
charismatische.
Verwaltung
Jeder Herrschaftsbetrieb, welcher kontinuierliche Verwaltung erheischt,
braucht einerseits die Einstellung menschlichen Handelns auf den Gehorsam
gegenüber jenen Herren, welche Träger der legitimen Gewalt zu sein
beanspruchen, und andererseits, vermittels dieses Gehorsams, die Verfügung über
diejenigen Sachgüter, welche gegebenenfalls zur Durchführung der physischen
Gewaltanwendung erforderlich sind: den personalen Verwaltungsstab und die
sachlichen Verwaltungsmittel.
Der Verwaltungsstab, der den politischen Herrschaftsbetrieb wie jeden
anderen Betrieb in seiner äußeren Erscheinung darstellt, ist nun natürlich
nicht nur durch jene Legitimitätsvorstellung, von der eben die Rede war, an den
Gehorsam gegenüber dem Gewalthaber gekettet. Sondern durch zwei Mittel, welche
an das persönliche Interesse appellieren: materielles Entgelt und soziale Ehre.
Lehen der Vasallen, Pfründen der Patrimonialbeamten, Gehalt der modernen
Staatsdiener, – Ritterehre, ständische Privilegien, Beamtenehre bilden den
Lohn, und die Angst, sie zu verlieren, die letzte entscheidende Grundlage für
die Solidarität des Verwaltungsstabes mit dem Gewalthaber. Auch für die
charismatische Führerherrschaft gilt das: Kriegsehre und Beute für die
kriegerische, die »spoils«: Ausbeutung der Beherrschten durch Ämtermonopol,
politisch bedingte Profite und Eitelkeitsprämien für die demagogische
Gefolgschaft.
Zur Aufrechterhaltung jeder gewaltsamen Herrschaft bedarf es gewisser
materieller äußerer Sachgüter, ganz wie bei einem wirtschaftlichen Betrieb.
Alle Staatsordnungen lassen sich nun danach gliedern, ob sie auf dem Prinzip
beruhen, dass jener Stab von Menschen: – Beamte oder wer sie sonst sein mögen
–, auf deren Gehorsam der Gewalthaber muss rechnen können, im eigenen Besitze
der Verwaltungsmittel, mögen sie bestehen in Geld, Gebäuden, Kriegsmaterial,
Wagenparks, Pferden oder was sonst immer, sich befinden, oder ob der
Verwaltungsstab von den Verwaltungsmitteln »getrennt« ist, im gleichen Sinn,
wie heute der Angestellte und Proletarier innerhalb des kapitalistischen
Betriebes »getrennt« ist von den sachlichen Produktionsmitteln. Ob also der
Gewalthaber die Verwaltung in eigener von ihm organisierter Regie hat und durch
persönliche Diener oder angestellte Beamte oder persönliche Günstlinge und
Vertraute verwalten lässt, welche nicht Eigentümer: Besitzer zu eigenem Recht,
der sachlichen Betriebsmittel sind, sondern vom Herrn darin dirigiert werden,
oder ob das Gegenteil der Fall ist. Der Unterschied geht durch alle
Verwaltungsorganisationen der Vergangenheit hindurch.
Einen politischen Verband, bei dem die sachlichen Verwaltungsmittel ganz
oder teilweise in der Eigenmacht des abhängigen Verwaltungsstabes sich
befinden, wollen wir einen »ständisch« gegliederten Verband nennen. Der Vasall
z.B. im Lehnsverband bestritt die Verwaltung und Rechtspflege des ihm
verlehnten Bezirks aus eigener Tasche, equipierte und verproviantierte sich
selbst für den Krieg; seine Untervasallen taten das gleiche. Das hatte
natürlich Konsequenzen für die Machtstellung des Herrn, die nur auf dem
persönlichen Treubund und darauf ruhte, dass der Lehnsbesitz und die soziale
Ehre des Vasallen ihre »Legitimität« vom Herrn ableiteten.
Überall aber, bis in die frühesten politischen Bildungen zurück, finden wir
auch die eigene Regie des Herrn: durch persönlich von ihm Abhängige: Sklaven,
Hausbeamte, Dienstleute, persönliche »Günstlinge« und aus seinen Vorratskammern
mit Natural- und Gelddeputaten entlohnte Pfründner sucht er die Verwaltung in
eigene Hand zu bekommen, die Mittel aus eigener Tasche, aus Erträgnissen seines
Patrimoniums zu bestreiten, ein rein persönlich von ihm abhängiges, weil aus
seinen Speichern, Magazinen, Rüstkammern equipiertes und verproviantiertes Heer
zu schaffen. Während im »ständischen« Verband der Herr mit Hilfe einer
eigenständigen »Aristokratie« herrscht, also mit ihr die Herrschaft teilt,
stützt er sich hier entweder auf Haushörige oder auf Plebejer: besitzlose, der
eigenen sozialen Ehre entbehrende Schichten, die materiell gänzlich an ihn
gekettet sind und keinerlei konkurrierende eigene Macht unter den Füßen haben.
Alle Formen patriarchaler und patrimonialer Herrschaft, sultanistischer
Despotie und bürokratischer Staatsordnung gehören zu diesem Typus.
Insbesondere: die bürokratische Staatsordnung, also die, in ihrer rationalsten
Ausbildung, auch und gerade dem modernen Staat charakteristische. Überall kommt
die Entwicklung des modernen Staates dadurch in Fluss, dass von seiten des
Fürsten die Enteignung der neben ihm stehenden selbständigen »privaten« Träger
von Verwaltungsmacht: jener Eigenbesitzer von Verwaltungs- und
Kriegsbetriebsmitteln, Finanzbetriebsmitteln und politisch verwendbaren Gütern
aller Art, in die Wege geleitet wird. Der ganze Prozess ist eine vollständige
Parallele zu der Entwicklung des kapitalistischen Betriebs durch allmähliche
Enteignung der selbständigen Produzenten. Am Ende sehen wir, dass in dem
modernen Staat tatsächlich in einer einzigen Spitze die Verfügung über die
gesamten politischen Betriebsmittel zusammenläuft, kein einziger Beamter mehr
persönlicher Eigentümer des Geldes ist, das er verausgabt, oder der Gebäude,
Vorräte, Werkzeuge, Kriegsmaschinen, über die er verfügt. Vollständig
durchgeführt ist also im heutigen »Staat« – das ist ihm begriffswesentlich –
die »Trennung« des Verwaltungsstabes: der Verwaltungsbeamten und
Verwaltungsarbeiter, von den sachlichen Betriebsmitteln. Hier setzt nun die
allermodernste Entwicklung ein und versucht vor unseren Augen, die
Expropriation dieses Expropriateurs der politischen Mittel und damit der
politischen Macht in die Wege zu leiten. Das hat die Revolution wenigstens
insofern geleistet, als an die Stelle der gesatzten Obrigkeiten Führer getreten
sind, welche durch Usurpation oder Wahl sich in die Verfügungsgewalt über den
politischen Menschenstab und Sachgüterapparat gesetzt haben und ihre
Legitimität – einerlei mit wieviel Recht – vom Willen der Beherrschten
ableiten. Eine andere Frage ist, ob sie auf Grund dieses – wenigstens
scheinbaren – Erfolges mit Recht die Hoffnung hegen kann: auch die
Expropriation innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsbetriebe durchzuführen,
deren Leitung sich trotz weitgehender Analogien im Innersten nach ganz anderen
Gesetzen richtet als die politische Verwaltung. Dazu nehmen wir heute nicht
Stellung. Ich stelle für unsere Betrachtung nur das rein Begriffliche fest:
dass der moderne Staat ein anstaltsmäßiger Herrschaftsverband ist, der
innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der
Herrschaft zu monopolisieren mit Erfolg getrachtet hat und zu diesem Zweck die
sachlichen Betriebsmittel in der Hand seiner Leiter vereinigt, die sämtlichen
eigenberechtigten ständischen Funktionäre aber, die früher zu Eigenrecht
darüber verfügten, enteignet und sich selbst in seiner höchsten Spitze an deren
Stelle gesetzt hat.
Politik als Nebenberuf
Im Verlaufe dieses politischen Enteignungsprozesses nun, der in allen
Ländern der Erde mit wechselndem Erfolge spielte, sind, und zwar zuerst im
Dienste der Fürsten, die ersten Kategorien von »Berufspolitikern« in einem zweiten
Sinn aufgetreten, von Leuten, die nicht selbst Herren sein wollten, wie die
charismatischen Führer, sondern in den Dienst von politischen Herren
traten. Sie stellten sich in diesem Kampfe den Fürsten zur Verfügung und
machten aus der Besorgung von deren Politik einen materiellen Lebenserwerb
einerseits, einen ideellen Lebensinhalt andererseits. Wieder nur im
Okzident finden wir diese Art von Berufspolitikern auch im Dienst
anderer Mächte als nur der Fürsten. In der Vergangenheit waren sie deren
wichtigstes Macht- und politisches Expropriationsinstrument. Machen wir uns,
ehe wir näher auf sie eingehen, den Sachverhalt, den die Existenz solcher
»Berufspolitiker« darstellt, nach allen Seiten unzweideutig klar. Man kann
»Politik« treiben – also: die Machtverteilung zwischen und innerhalb
politischer Gebilde zu beeinflussen trachten – sowohl als
»Gelegenheits«politiker wie als nebenberuflicher oder hauptberuflicher
Politiker, genau wie beim ökonomischen Erwerb. »Gelegenheits«politiker sind wir
alle, wenn wir unseren Wahlzettel abgeben oder eine ähnliche Willensäußerung:
etwa Beifall oder Protest in einer »politischen« Versammlung, vollziehen, eine
»politische« Rede halten usw., – und bei vielen Menschen beschränkt sich ihre
ganze Beziehung zur Politik darauf. »Nebenberufliche« Politiker sind heute z.B.
alle jene Vertrauensmänner und Vorstände von parteipolitischen Vereinen, welche
diese Tätigkeit – wie es durchaus die Regel ist – nur im Bedarfsfalle ausüben
und weder materiell noch ideell in erster Linie daraus »ihr Leben
machen«. Ebenso jene Mitglieder von Staatsräten und ähnlichen
Beratungskörperschaften, die nur auf Anfordern in Funktion treten. Ebenso aber
auch ziemlich breite Schichten unserer Parlamentarier, die nur in Zeiten der
Session Politik treiben. In der Vergangenheit finden wir solche Schichten
namentlich unter den Ständen. »Stände« sollen uns heißen die eigenberechtigten
Besitzer militärischer oder für die Verwaltung wichtiger sachlicher
Betriebsmittel oder persönlicher Herrengewalten. Ein großer Teil von ihnen war
weit davon entfernt, sein Leben ganz oder auch nur vorzugsweise oder mehr als
gelegentlich in den Dienst der Politik zu stellen. Sie nützten vielmehr ihre
Herrenmacht im Interesse der Erzielung von Renten oder auch geradezu von Profit
und wurden politisch, im Dienst des politischen Verbandes, nur tätig, wenn der
Herr oder wenn ihre Standesgenossen dies besonders verlangten. Nicht anders
auch ein Teil jener Hilfskräfte, die der Fürst im Kampf um die Schaffung eines
politischen Eigenbetriebes, der nur ihm zur Verfügung stehen sollte, heranzog.
Die »Räte von Haus aus« und, noch weiter zurück, ein erheblicher Teil der in
der »Curia« und den anderen beratenden Körperschaften des Fürsten
zusammentretenden Ratgeber hatten diesen Charakter. Aber mit diesen nur
gelegentlichen oder nebenberuflichen Hilfskräften kam der Fürst natürlich nicht
aus. Er mußte sich einen Stab von ganz und ausschließlich seinem Dienst
gewidmeten, also hauptberuflichen, Hilfskräften zu schaffen suchen.
Davon, woher er diese nahm, hing zum sehr wesentlichen Teil die Struktur des
entstehenden dynastischen politischen Gebildes und nicht nur sie, sondern das
ganze Gepräge der betreffenden Kultur ab. Erst recht in die gleiche
Notwendigkeit versetzt waren diejenigen politischen Verbände, welche unter
völliger Beseitigung oder weitgehender Beschränkung der Fürstenmacht sich als
(sogenannte) »freie« Gemeinwesen politisch konstituierten, – »frei« nicht im
Sinne der Freiheit von gewaltsamer Herrschaft, sondern im Sinne von: Fehlen der
kraft Tradition legitimen (meist religiös geweihten) Fürstengewalt als
ausschließlicher Quelle aller Autorität. Sie haben geschichtlich ihre
Heimstätte durchaus im Okzident, und ihr Keim war: die Stadt als politischer
Verband, als welcher sie zuerst im mittelländischen Kulturkreis aufgetreten
ist. Wie sahen in all diesen Fällen die »hauptberuflichen« Politiker
aus?
Politik als Hauptberuf
Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder: man
lebt »für« die Politik, – oder aber: »von« der Politik. Der Gegensatz ist
keineswegs ein exklusiver. In aller Regel vielmehr tut man, mindestens ideell,
meist aber auch materiell, beides: wer »für« die Politik lebt, macht im
innerlichen Sinne »sein Leben daraus«: er genießt entweder den nackten Besitz
der Macht, die er ausübt, oder er speist sein inneres Gleichgewicht und
Selbstgefühl aus dem Bewusstsein, durch Dienst an einer »Sache« seinem Leben
einen Sinn zu verleihen. In diesem innerlichen Sinn lebt wohl jeder ernste
Mensch, der für eine Sache lebt, auch von dieser Sache. Die Unterscheidung
bezieht sich also auf eine viel massivere Seite des Sachverhaltes: auf die
ökonomische. »Von« der Politik als Beruf lebt, wer danach strebt, daraus eine
dauernde Einnahmequelle zu machen, – »für« die Politik der, bei dem dies nicht
der Fall ist. Damit jemand in diesem ökonomischen Sinn »für« die Politik leben
könne, müssen unter der Herrschaft der Privateigentumsordnung einige, wenn Sie
wollen, sehr triviale Voraussetzungen vorliegen: er muss – unter normalen
Verhältnissen – ökonomisch von den Einnahmen, welche die Politik ihm bringen
kann, unabhängig sein. Das heißt ganz einfach: er muss vermögend oder in einer
privaten Lebensstellung sein, welche ihm auskömmliche Einkünfte abwirft. So
steht es wenigstens unter normalen Verhältnissen. Zwar die Gefolgschaft des
Kriegsfürsten fragt ebensowenig nach den Bedingungen normaler Wirtschaft wie
die Gefolgschaft des revolutionären Helden der Straße. Beide leben von Beute,
Raub, Konfiskationen, Kontributionen, Aufdrängung von wertlosen
Zwangszahlungsmitteln: – was dem Wesen nach alles das gleiche ist. Aber das
sind notwendig außeralltägliche Erscheinungen: in der Alltagswirtschaft leistet
nur eigenes Vermögen diesen Dienst. Aber damit allein nicht genug: er muss
überdies wirtschaftlich »abkömmlich« sein, d.h. seine Einkünfte dürfen nicht
davon abhängen, dass er ständig persönlich seine Arbeitskraft und sein Denken
voll oder doch weit überwiegend in den Dienst ihres Erwerbes stellt. Abkömmlich
in diesem Sinn ist nun am unbedingtesten: der Rentner, derjenige also, der
vollkommen arbeitsloses Einkommen, sei es, wie die Grundherren der
Vergangenheit, die Großgrundbesitzer und die Standesherren der Gegenwart, aus
Grundrenten – in der Antike und im Mittelalter auch Sklaven- oder Hörigenrenten
–, sei es aus Wertpapieroder ähnlichen modernen Rentenquellen bezieht. Weder
der Arbeiter, noch – was sehr zu beachten ist – der Unternehmer, auch und
gerade der moderne Großunternehmer, ist in diesem Sinn abkömmlich. Denn auch
und gerade der Unternehmer – der gewerbliche sehr viel mehr als, bei dem
Saisoncharakter der Landwirtschaft, der landwirtschaftliche Unternehmer – ist
an seinen Betrieb gebunden und nicht abkömmlich. Es ist für ihn meist sehr
schwer, sich auch nur zeitweilig vertreten zu lassen. Ebensowenig ist dies z.B.
der Arzt, je hervorragender und beschäftigter er ist, desto weniger. Leichter
schon, aus rein betriebstechnischen Gründen, der Advokat, – der deshalb auch
als Berufspolitiker eine ungleich größere, oft eine geradezu beherrschende
Rolle gespielt hat. – Wir wollen diese Kasuistik nicht weiter verfolgen,
sondern wir machen uns einige Konsequenzen klar.
Die Leitung eines Staates oder einer Partei durch Leute, welche (im
ökonomischen Sinn des Wortes) ausschließlich für die Politik und nicht von der
Politik leben, bedeutet notwendig eine »plutokratische« Rekrutierung der
politisch führenden Schichten. Damit ist freilich nicht auch das Umgekehrte
gesagt: dass eine solche plutokratische Leitung auch zugleich bedeutete, dass
die politisch herrschende Schicht nicht auch »von« der Politik zu leben
trachtete, also ihre politische Herrschaft nicht auch für ihre privaten ökonomischen
Interessen auszunutzen pflegte. Davon ist natürlich gar keine Rede. Es hat
keine Schicht gegeben, die das nicht irgendwie getan hätte. Nur dies bedeutet
es: dass die Berufspolitiker nicht unmittelbar für ihre politische
Leistung Entgelt zu suchen genötigt sind, wie das jeder Mittellose schlechthin
in Anspruch nehmen muss. Und andererseits bedeutet es nicht etwa, dass
vermögenslose Politiker lediglich oder auch nur vornehmlich ihre
privatwirtschaftliche Versorgung durch die Politik im Auge hätten, nicht oder
doch nicht vornehmlich »an die Sache« dächten. Nichts wäre unrichtiger. Dem
vermögenden Mann ist die Sorge um die ökonomische »Sekurität« seiner Existenz
erfahrungsgemäß – bewusst oder unbewusst – ein Kardinalpunkt seiner ganzen
Lebensorientierung. Der ganz rücksichts- und voraussetzungslose politische
Idealismus findet sich, wenn nicht ausschließlich, so doch wenigstens gerade
bei den infolge ihrer Vermögenslosigkeit ganz außerhalb der an der Erhaltung
der ökonomischen Ordnung einer bestimmten Gesellschaft [interessierten Kreise]
stehenden Schichten: das gilt zumal in außeralltäglichen, also revolutionären,
Epochen. Sondern nur dies bedeutet es: dass eine nicht plutokratische
Rekrutierung der politischen Interessenten, der Führerschaft und ihrer Gefolgschaft,
an die selbstverständliche Voraussetzung gebunden ist, dass diesen
Interessenten aus dem Betrieb der Politik regelmäßige und verlässliche
Einnahmen zufließen. Die Politik kann entweder »ehrenamtlich« und dann von, wie
man zu sagen pflegt, »unabhängigen«, d.h. vermögenden Leuten, Rentnern vor
allem, geführt werden. Oder aber ihre Führung wird Vermögenslosen zugänglich
gemacht, und dann muss sie entgolten werden. Der von der Politik lebende
Berufspolitiker kann sein: reiner »Pfründner« oder besoldeter »Beamter«.
Entweder bezieht er dann Einnahmen aus Gebühren und Sporteln für bestimmte
Leistungen – Trinkgelder und Bestechungssummen sind nur eine regellose und
formell illegale Abart dieser Kategorie von Einkünften –, oder er bezieht ein
festes Naturaliendeputat oder Geldgehalt, oder beides nebeneinander. Er kann
den Charakter eines »Unternehmers« annehmen, wie der Kondottiere oder der
Amtspächter oder Amtskäufer der Vergangenheit oder wie der amerikanische Boss,
der seine Unkosten wie eine Kapitalanlage ansieht, die er durch Ausnutzung
seines Einflusses Ertrag bringen lässt. Oder er kann einen festen Lohn
beziehen, wie ein Redakteur oder Parteisekretär oder ein moderner Minister oder
politischer Beamter. In der Vergangenheit waren Lehen, Bodenschenkungen,
Pfründen aller Art, mit Entwicklung der Geldwirtschaft aber besonders
Sportelpfründen das typische Entgelt von Fürsten, siegreichen Eroberern oder
erfolgreichen Parteihäuptern für ihre Gefolgschaft; heute sind es Ämter aller
Art in Parteien, Zeitungen, Genossenschaften, Krankenkassen, Gemeinden und
Staaten, welche von den Parteiführern für treue Dienste vergeben werden. Alle
Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem
auch: um Ämterpatronage. Alle Kämpfe zwischen partikularistischen und
zentralistischen Bestrebungen in Deutschland drehen sich vor allem auch darum,
welche Gewalten, ob die Berliner oder die Münchener, Karlsruher, Dresdener, die
Ämterpatronage in der Hand haben. Zurücksetzungen in der Anteilnahme an den
Ämtern werden von Parteien schwerer empfunden als Zuwiderhandlungen gegen ihre
sachlichen Ziele. Ein parteipolitischer Präfektenschub in Frankreich galt immer
als eine größere Umwälzung und erregte mehr Lärm als eine Modifikation des
Regierungsprogramms, welches fast rein phraseologische Bedeutung hatte. Manche
Parteien, so namentlich die in Amerika, sind seit dem Schwinden der alten
Gegensätze über die Auslegung der Verfassung reine Stellenjägerparteien, welche
ihr sachliches Programm je nach den Chancen des Stimmenfangs abändern. In
Spanien wechselten bis in die letzten Jahre in Gestalt der von oben her
fabrizierten »Wahlen« die beiden großen Parteien in konventionell feststehendem
Turnus ab, um ihre Gefolgschaft in Ämtern zu versorgen. In den spanischen
Kolonialgebieten handelt es sich sowohl bei den sogenannten »Wahlen« wie den
sogenannten »Revolutionen« stets um die Staatskrippe, an der die Sieger
gefüttert zu werden wünschen. In der Schweiz repartieren die Parteien im Wege
des Proporzes die Ämter friedlich untereinander, und manche unserer
»revolutionären« Verfassungsentwürfe, so z.B. der erste für Baden aufgestellte,
wollte dies System auf die Ministerstellen ausdehnen und behandelte so den
Staat und seine Ämter als reine Pfründnerversorgungsanstalt. Vor allem die
Zentrumspartei begeisterte sich dafür und machte in Baden die proportionale
Verteilung der Ämter nach Konfessionen, also ohne Rücksicht auf die Leistung,
sogar zu einem Programmpunkt. Mit steigender Zahl der Ämter infolge der
allgemeinen Bürokratisierung und steigendem Begehr nach ihnen als einer Form
spezifisch gesicherter Versorgung steigt für alle Parteien diese Tendenz
und werden sie für ihre Gefolgschaft immer mehr Mittel zum Zweck, derart
versorgt zu werden.
Modernes Beamtentum
Dem steht nun aber gegenüber die Entwicklung des modernen Beamtentums zu
einer spezialistisch durch, langjährige Vorbildung fachgeschulten
hochqualifizierten geistigen Arbeiterschaft mit einer im Interesse der
Integrität hochentwickelten ständischen Ehre, ohne welche die Gefahr
furchtbarer Korruption und gemeinen Banausentums als Schicksal über uns
schweben und auch die rein technische Leistung des Staatsapparates bedrohen
würde, dessen Bedeutung für die Wirtschaft, zumal mit zunehmender
Sozialisierung, stetig gestiegen ist und weiter steigen wird. Die
Dilettantenverwaltung durch Beutepolitiker, welche in den Vereinigten Staaten
Hunderttausende von Beamten, bis zum Postboten hinunter, je nach dem Ausfall
der Präsidentenwahl, wechseln ließ und den lebenslänglichen Berufsbeamten nicht
kannte, ist längst durch die Civil Service Reform durchlöchert. Rein
technische, unabweisliche Bedürfnisse der Verwaltung bedingen diese
Entwicklung. In Europa ist das arbeitsteilige Fachbeamtentum in einer
Entwicklung von einem halben Jahrtausend allmählich entstanden. Die
italienischen Städte und Signorien machten den Anfang; von den Monarchien die
normannischen Erobererstaaten. Bei den Finanzen der Fürsten geschah der
entscheidende Schritt. Bei den Verwaltungsreformen des Kaisers MAX3 kann man
sehen, wie schwer selbst unter dem Druck der äußersten Not und Türkenherrschaft
es den Beamten gelang, auf diesem Gebiet, welches ja den Dilettantismus eines
Herrschers, der damals noch vor allem: ein Ritter war, am wenigsten vertrug,
den Fürsten zu depossedieren. Die Entwicklung der Kriegstechnik bedingte den
Fachoffizier, die Verfeinerung des Rechtsganges den geschulten Juristen. Auf
diesen drei Gebieten siegte das Fachbeamtentum in den entwickelteren Staaten
endgültig im 16. Jahrhundert. Damit war gleichzeitig mit dem Aufstieg des
Absolutismus des Fürsten gegenüber den Ständen die allmähliche Abdankung seiner
Selbstherrschaft an die Fachbeamten, durch die ihm jener Sieg über die Stände
erst ermöglicht wurde, eingeleitet.
Gleichzeitig mit dem Aufstieg des fachgeschulten Beamtentums vollzog sich
auch – wennschon in weit unmerklicheren Übergängen – die Entwicklung der
»leitenden Politiker «. Von jeher und in aller Welt hatte es,
selbstverständlich, solche tatsächlich maßgeblichen Berater der Fürsten gegeben.
Im Orient hat das Bedürfnis, den Sultan von der persönlichen Verantwortung für
den Erfolg der Regierung möglichst zu entlasten, die typische Figur des
»Großwesirs« geschaffen. Im Abendland wurde die Diplomatie, vor allem unter dem
Einfluss der in diplomatischen Fachkreisen mit leidenschaftlichem Eifer
gelesenen venezianischen Gesandtschaftsberichte, im Zeitalter KARLS v. – der
Zeit MACCHIAVELLIS – zuerst eine bewusst gepflegte Kunst, deren meist
humanistisch gebildete Adepten sich untereinander als eine geschulte Schicht
von Eingeweihten behandelten, ähnlich den humanistischen chinesischen
Staatsmännern der letzten Teilstaatenzeit. Die Notwendigkeit einer formell
einheitlichen Leitung der gesamten Politik, einschließlich der inneren, durch
einen führenden Staatsmann entstand endgültig und zwingend erst durch die
konstitutionelle Entwicklung. Bis dahin hatte es zwar selbstverständlich solche
Einzelpersönlichkeiten als Berater oder vielmehr – der Sache nach – Leiter der
Fürsten immer wieder gegeben. Aber die Organisation der Behörden war zunächst,
auch in den am weitesten vorgeschrittenen Staaten, andere Wege gegangen.
Kollegiale höchste Verwaltungsbehörden waren entstanden. Der Theorie und, in
allmählich abnehmendem Maße, der Tatsache nach tagten sie unter dem Vorsitz des
Fürsten persönlich, der die Entscheidung gab. Durch dieses kollegialische
System, welches zu Gutachten, Gegengutachten und motivierten Voten der Mehrheit
und Minderheit führte, und ferner dadurch, dass er neben den offiziellen
höchsten Behörden sich mit rein persönlichen Vertrauten – dem »Kabinett« –
umgab und durch diese seine Entscheidungen auf die Beschlüsse des Staatsrats –
oder wie die höchste Staatsbehörde sonst hieß – abgab, suchte der Fürst, der
zunehmend in die Lage eines Dilettanten geriet, dem unvermeidlich wachsenden
Gewicht der Fachschulung der Beamten sich zu entziehen und die oberste Leitung
in der Hand zu behalten: dieser latente Kampf zwischen dem Fachbeamtentum und
der Selbstherrschaft bestand überall. Erst gegenüber den Parlamenten und den
Machtaspirationen ihrer Parteiführer änderte sich die Lage. Sehr verschieden
gelagerte Bedingungen führten doch zu dem äußerlich gleichen Ergebnis. Freilich
mit gewissen Unterschieden. Wo immer die Dynastien reale Macht in der Hand
behielten – wie namentlich in Deutschland –, waren nun die Interessen des
Fürsten mit denen des Beamtentums solidarisch verknüpft gegen das Parlament und
seine Machtansprüche. Die Beamten hatten das Interesse daran, dass auch die
leitenden Stellen, also die Ministerposten, aus ihren Reihen besetzt, also
Gegenstände des Beamtenavancements wurden. Der Monarch seinerseits hatte das
Interesse daran, die Minister nach seinem Ermessen auch aus den Reihen der ihm
ergebenen Beamten ernennen zu können. Beide Teile aber waren daran
interessiert, dass die politische Leitung dem Parlament einheitlich und
geschlossen gegenübertrat, also: das Kollegialsystem durch einen einheitlichen
Kabinettchef ersetzt wurde. Der Monarch bedurfte überdies, schon um dem
Parteikampf und den Parteiangriffen rein formell enthoben zu bleiben, einer ihn
deckenden verantwortlichen, das heißt: dem Parlament Rede stehenden und ihm
entgegentretenden, mit den Parteien verhandelnden Einzelpersönlichkeit. Alle
diese Interessen wirkten hier zusammen in der gleichen Richtung: ein
einheitlich führender Beamtenminister entstand. Noch stärker wirkte in der
Richtung der Vereinheitlichung die Entwicklung der Parlamentsmacht da, wo sie –
wie in England – die Oberhand gegenüber dem Monarchen gewann. Hier entwickelte
sich das »Kabinett« mit dem einheitlichen Parlamentsführer, dem »Leader«, an
der Spitze, als ein Ausschuss der von den offiziellen Gesetzen ignorierten,
tatsächlich aber allein politisch entscheidenden Macht: der jeweils im Besitz
der Mehrheit befindlichen Partei. Die offiziellen kollegialen Körperschaften
waren eben als solche keine Organe der wirklich herrschenden Macht: der Partei,
und konnten also nicht Träger der wirklichen Regierung sein. Eine herrschende
Partei bedurfte vielmehr, um im Innern die Gewalt zu behaupten und nach außen
große Politik treiben zu können, eines schlagkräftigen, nur aus ihren wirklich
führenden Männern zusammengesetzten, vertraulich verhandelnden Organes: eben
des Kabinetts, der Öffentlichkeit, vor allem der parlamentarischen Öffentlichkeit
gegenüber aber eines für alle Entschließungen verantwortlichen Führers: des
Kabinettchefs. Dies englische System ist dann in Gestalt der parlamentarischen
Ministerien auf den Kontinent übernommen worden, und nur in Amerika und den von
da aus beeinflussten Demokratien wurde ihm ein ganz heterogenes System
gegenübergestellt, welches den erkorenen Führer der siegenden Partei durch
direkte Volkswahl an die Spitze des von ihm ernannten Beamtenapparates stellte
und ihn nur in Budget und Gesetzgebung an die Zustimmung des Parlaments band.
Die Entwicklung der Politik zu einem »Betrieb«, der eine Schulung im Kampf
um die Macht und in dessen Methoden erforderte, so wie sie das moderne
Parteiwesen entwickelte, bedingte nun die Scheidung der öffentlichen Funktionäre
in zwei, allerdings keineswegs schroff, aber doch deutlich geschiedene
Kategorien: Fachbeamte einerseits, »politische Beamte« andererseits. Die im
eigentlichen Wortsinn »politischen« Beamten sind äußerlich in der Regel daran
kenntlich, dass sie jederzeit beliebig versetzt und entlassen oder doch »zur
Disposition gestellt« werden können, wie die französischen Präfekten und die
ihnen gleichartigen Beamten anderer Länder, im schroffsten Gegensatz gegen die
»Unabhängigkeit« der Beamten mit richterlicher Funktion. In England gehören
jene Beamten dazu, die nach fester Konvention bei einem Wechsel der
Parlamentsmehrheit und also des Kabinetts aus den Ämtern scheiden. Besonders
diejenigen pflegen dahin zu rechnen, deren Kompetenz die Besorgung der allgemeinen
»inneren Verwaltung« umfasst; und der »politische« Bestandteil daran ist vor
allem die Aufgabe der Erhaltung der »Ordnung« im Lande, also: der bestehenden
Herrschaftsverhältnisse. In Preußen hatten diese Beamten nach dem
PUTTKAMERSCHEN Erlaß4, bei Vermeidung der Maßregelung, die Pflicht, »die
Politik der Regierung zu vertreten«, und wurden, ebenso wie in Frankreich die
Präfekten, als amtlicher Apparat zur Beeinflussung der Wahlen benutzt. Die
meisten »politischen« Beamten teilten zwar nach deutschem System – im Gegensatz
zu anderen Ländern – die Qualität aller anderen insofern, als die Erlangung
auch dieser Ämter an akademisches Studium, Fachprüfungen und einen bestimmten
Vorbereitungsdienst gebunden war. Dieses spezifische Merkmal des modernen
Fachbeamtentums fehlt bei uns nur den Chefs des politischen Apparates: den
Ministern. Preußischer Kultusminister konnte man schon unter dem alten Regime
sein, ohne selbst jemals eine höhere Unterrichtsanstalt besucht zu haben,
während man Vortragender Rat grundsätzlich nur auf Grund der vorgeschriebenen
Prüfungen werden konnte. Der fachgeschulte Dezernent und Vortragende Rat war
selbstverständlich – z.B. unter ALTHOFF im preußischen Unterrichtsministerium –
unendlich viel informierter über die eigentlichen technischen Probleme des
Faches als sein Chef. In England stand es damit nicht anders. Er war
infolgedessen auch für alle Alltagsbedürfnisse der Mächtigere. Das war auch
nichts an sich Widersinniges. Der Minister war eben der Repräsentant der politischen
Machtkonstellation, hatte deren politische Maßstäbe zu vertreten und an die
Vorschläge seiner [ihm] unterstellten Fachbeamten anzulegen oder ihnen die
entsprechenden Direktiven politischer Art zu geben.
Ganz ähnlich steht es ja in einem privaten Wirtschaftsbetrieb: der
eigentliche »Souverän«, die Aktionärversammlung, ist in der Betriebsführung
ebenso einflusslos wie ein von Fachbeamten regiertes »Volk«, und die für die
Politik des Betriebes ausschlaggebenden Persönlichkeiten, der von Banken
beherrschte »Aufsichtsrat«, geben nur die wirtschaftlichen Direktiven und lesen
die Persönlichkeiten für die Verwaltung aus, ohne aber selbst imstande zu sein,
den Betrieb technisch zu leiten. Insofern bedeutet auch die jetzige Struktur
des Revolutionsstaates, welcher absoluten Dilettanten, kraft ihrer Verfügung
über die Maschinengewehre, die Macht über die Verwaltung in die Hand gibt und
die fachgeschulten Beamten nur als ausführende Köpfe und Hände benutzen möchte,
keine grundsätzliche Neuerung. Die Schwierigkeiten dieses jetzigen Systems
liegen anderswo als darin, sollen uns aber heute nichts angehen. –
Berufspolitiker-Typen:
Kleriker, Literat, Hofadel, »gentry«
Wir fragen vielmehr nun nach der typischen Eigenart der Berufspolitiker,
sowohl der »Führer« wie ihrer Gefolgschaft. Sie hat gewechselt und ist auch
heute sehr verschieden.
»Berufspolitiker« haben sich in der Vergangenheit, wie wir sahen, im Kampf
der Fürsten mit den Ständen entwickelt im Dienst der ersteren. Sehen wir uns
ihre Haupttypen kurz an.
Gegen die Stände stützte sich der Fürst auf politisch verwertbare Schichten
nichtständischen Charakters. Dahin gehörten in Vorder- und Hinterindien, im
buddhistischen China und Japan und in der lamaistischen Mongolei ganz ebenso
wie in den christlichen Gebieten des Mittelalters zunächst: die Kleriker.
Technisch deshalb, weil sie schriftkundig waren. Überall ist der Import von
Brahmanen, buddhistischen Priestern, Lamas und die Verwendung von Bischöfen und
Priestern als politische Berater unter dem Gesichtspunkt erfolgt, schreibkundige
Verwaltungskräfte zu bekommen, die im Kampf des Kaisers oder Fürsten oder Khans
gegen die Aristokratie verwertet werden konnten. Der Kleriker, zumal der
zölibatäre Kleriker, stand außerhalb des Getriebes der normalen politischen und
ökonomischen Interessen und kam nicht in Versuchung, für seine Nachfahren
eigene politische Macht gegenüber seinem Herrn zu erstreben, wie es der
Lehnsmann tat. Er war von den Betriebsmitteln der fürstlichen Verwaltung durch
seine eigenen ständischen Qualitäten »getrennt«.
Ein zweite derartige Schicht waren die humanistisch gebildeten Literaten. Es
gab eine Zeit, wo man lateinische Reden und griechische Verse machen lernte zu
dem Zweck, politischer Berater und vor allen Dingen politischer
Denkschriftenverfasser eines Fürsten zu werden. Das war die Zeit der ersten
Blüte der Humanistenschulen und der fürstlichen Stiftungen von Professuren der
»Poetik«: bei uns eine schnell vorübergehende Epoche, die immerhin auf unser
Schulwesen nachhaltig eingewirkt hat, politisch freilich keine tieferen Folgen
hatte. Anders in Ostasien. Der chinesische Mandarin ist oder vielmehr: war
ursprünglich annähernd das, was der Humanist unserer Renaissancezeit war: ein
humanistisch an den Sprachdenkmälern der fernen Vergangenheit geschulter und
geprüfter Literat. Wenn Sie die Tagebücher des LI HUNG TSHANG lesen, finden
Sie, dass noch er am meisten stolz darauf ist, dass er Gedichte machte und ein
guter Kalligraph war. Diese Schicht mit ihren an der chinesischen Antike
entwickelten Konventionen hat das ganze Schicksal Chinas bestimmt, und ähnlich
wäre vielleicht unser Schicksal gewesen, wenn die Humanisten seinerzeit die
geringste Chance gehabt hätten, mit gleichem Erfolge sich durchzusetzen.
Die dritte Schicht war: der Hofadel. Nachdem es den Fürsten gelungen war,
den Adel in seiner ständischen politischen Macht zu enteignen, zogen sie ihn an
den Hof und verwendeten ihn im politischen und diplomatischen Dienst. Der
Umschwung unseres Erziehungswesens im 17. Jahrhundert war mit dadurch bedingt,
dass an Stelle der humanistischen Literaten hofadelige Berufspolitiker in den
Dienst der Fürsten traten.
Die vierte Kategorie war ein spezifisch englisches Gebilde; ein den
Kleinadel und das städtische Rentnertum umfassendes Patriziat, technisch
»gentry« genannt: – eine Schicht, die ursprünglich der Fürst gegen die Barone
heranzog und in den Besitz der Ämter des »selfgovernment« setzte, um später
zunehmend von ihr abhängig zu werden. Sie hielt sich im Besitz der sämtlichen
Ämter der lokalen Verwaltung, indem sie dieselben gratis übernahm im Interesse
ihrer eigenen sozialen Macht. Sie hat England vor der Bürokratisierung bewahrt,
die das Schicksal sämtlicher Kontinentalstaaten war.
Berufspolitiker-Typen:
Jurist, Advokat, Demagoge
Eine fünfte Schicht war dem Okzident, vor allem auf dem europäischen
Kontinent, eigentümlich und war für dessen ganze politische Struktur von
ausschlaggebender Bedeutung: die universitätsgeschulten Juristen. Die gewaltige
Nachwirkung des römischen Rechts, wie es der bürokratische spätrömische Staat
umgebildet hatte, tritt in nichts deutlicher hervor als darin: dass überall die
Revolutionierung des politischen Betriebs im Sinne der Entwicklung zum
rationalen Staat von geschulten Juristen getragen wurde. Auch in England,
obwohl dort die großen nationalen Juristenzünfte die Rezeption des römischen
Rechts hinderten. Man findet in keinem Gebiet der Erde dazu irgendeine
Analogie. Alle Ansätze rationalen juristischen Denkens in der indischen
Mîmâmsâ-Schule und alle Weiterpflege des antiken juristischen Denkens im Islâm
haben die Überwucherung des rationalen Rechtsdenkens durch theologische
Denkformen nicht hindern können. Vor allem wurde das Prozessverfahren nicht
voll rationalisiert. Das hat nur die Übernahme der antik römischen
Jurisprudenz, des Produkts eines aus dem Stadtstaat zur Weltherrschaft
aufsteigenden politischen Gebildes ganz einzigartigen Charakters, durch die
italienischen Juristen zuwege gebracht: der »Usus modernus« der
spätmittelalterlichen Pandektisten und Kanonisten, und die aus juristischem und
christlichem Denken geborenen und später säkularisierten Naturrechtstheorien.
Im italienischen Podestat, in den französischen Königsjuristen, welche die
formellen Mittel zur Untergrabung der Herrschaft der Seigneurs durch die
Königsmacht schufen, in den Kanonisten und naturrechtlich denkenden Theologen
des Konziliarismus, in den Hofjuristen und gelehrten Richtern der kontinentalen
Fürsten, in den niederländischen Naturrechtslehrern und den Monarchomachen, in
den englischen Kron- und den Parlamentsjuristen, in der Noblesse de Robe der
französischen Parlamente, endlich in den Advokaten der Revolutionszeit hat
dieser juristische Rationalismus seine großen Repräsentanten gehabt. Ohne ihn
ist das Entstehen des absoluten Staates so wenig denkbar wie die Revolution.
Wenn Sie die Remonstrationen der französischen Parlamente oder die Cahiers5 der
französischen Generalstände seit dem 16. Jahrhundert bis in das Jahr 1789
durchsehen, finden Sie überall: Juristengeist. Und wenn Sie die
Berufszugehörigkeit der Mitglieder des französischen Konvents durchmustern, so
finden Sie da – obwohl er nach gleichem Wahlrecht gewählt war – einen einzigen
Proletarier, sehr wenige bürgerliche Unternehmer, dagegen massenhaft Juristen
aller Art, ohne die der spezifische Geist, der diese radikalen Intellektuellen
und ihre Entwürfe beseelte, ganz undenkbar wäre. Der moderne Advokat und die
moderne Demokratie gehören seitdem schlechthin zusammen, – und Advokaten in
unserem Sinn, als ein selbständiger Stand, existieren wiederum nur im Okzident,
seit dem Mittelalter, wo sie aus dem »Fürsprech« des formalistischen
germanischen Prozessverfahrens unter dem Einfluss der Rationalisierung des
Prozesses sich entwickelten.
Die Bedeutung der Advokaten in der okzidentalen Politik seit dem Aufkommen
der Parteien ist nichts Zufälliges. Der politische Betrieb durch Parteien
bedeutet eben: Interessentenbetrieb, – wir werden bald sehen, was das besagen
will. Und eine Sache für Interessenten wirkungsvoll zu führen, ist das Handwerk
des geschulten Advokaten. Er ist darin – das hat uns die Überlegenheit der
feindlichen Propaganda lehren können – jedem »Beamten« überlegen. Gewiss kann
er eine durch logisch schwache Argumente gestützte, in diesem Sinn: »schlechte«
Sache dennoch siegreich, also technisch »gut«, führen. Aber auch nur er führt
eine durch logisch »starke« Argumente zu stützende, in diesem Sinn »gute« Sache
siegreich, also in diesem Sinn »gut«. Der Beamte als Politiker macht nur allzu
oft durch technisch »schlechte« Führung eine in jenem Sinn »gute« Sache zur
»schlechten«: das haben wir erleben müssen. Denn die heutige Politik wird nun
einmal in hervorragendem Maße in der Öffentlichkeit mit den Mitteln des
gesprochenen oder geschriebenen Wortes geführt. Dessen Wirkung abzuwägen, liegt
im eigentlichsten Aufgabenkreis des Advokaten, gar nicht aber des Fachbeamten,
der kein Demagoge ist und, seinem Zweck nach, sein soll, und wenn er es doch zu
werden unternimmt, ein sehr schlechter Demagoge zu werden pflegt.
Der echte Beamte – das ist für die Beurteilung unseres früheren Regimes
entscheidend – soll seinem eigentlichen Beruf nach nicht Politik treiben,
sondern: »verwalten«, unparteiisch vor allem, – auch für die sogenannten
»politischen« Verwaltungsbeamten gilt das, offiziell wenigstens, soweit nicht
die »Staatsräson«, d.h. die Lebensinteressen der herrschenden Ordnung, in Frage
stehen. Sine ira et studio, »ohne Zorn und Eingenommenheit« soll er seines
Amtes walten. Er soll also gerade das nicht tun, was der Politiker, der Führer
sowohl wie seine Gefolgschaft, immer und notwendig tun muss: kämpfen. Denn
Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium – sind das Element des
Politikers. Und vor allem: des politischen Führers. Dessen Handeln steht
unter einem ganz anderen, gerade entgegengesetzten Prinzip der Verantwortung,
als die des Beamten ist. Ehre des Beamten ist die Fähigkeit, wenn – trotz
seiner Vorstellungen – die ihm vorgesetzte Behörde auf einem ihm falsch
erscheinenden Befehl beharrt, ihn auf Verantwortung des Befehlenden
gewissenhaft und genau so auszuführen, als ob er seiner eigenen Überzeugung
entspräche: ohne diese im höchsten Sinn sittliche Disziplin und
Selbstverleugnung zerfiele der ganze Apparat. Ehre des politischen Führers,
also: des leitenden Staatsmannes, ist dagegen gerade die ausschließliche Eigenverantwortung
für das, was er tut, die er nicht ablehnen oder abwälzen kann und darf. Gerade
sittlich hochstehende Beamtennaturen sind schlechte, vor allem im politischen
Begriff des Wortes verantwortungslose und in diesem Sinn: sittlich tiefstehende
Politiker: – solche, wie wir sie leider in leitenden Stellungen immer wieder
gehabt haben: das ist es, was wir »Beamtenherrschaft« nennen; und es fällt
wahrlich kein Flecken auf die Ehre unseres Beamtentums, wenn wir das politisch,
vom Standpunkt des Erfolges aus gewertet, Falsche dieses Systems bloßlegen.
Aber kehren wir noch einmal zu den Typen der politischen Figuren zurück.
Der »Demagoge« ist seit dem Verfassungsstaat und vollends seit der
Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident. Der unangenehme
Beigeschmack des Wortes darf nicht vergessen lassen, dass nicht KLEON, sondern
PERIKLES der erste war, der diesen Namen trug. Amtlos oder mit dem – im
Gegensatz zu den durchs Los besetzten Ämtern der antiken Demokratie – einzigen
Wahlamt: dem des Oberstrategen, betraut, leitete er die souveräne Ekklesia des
Demos von Athen. Die moderne Demagogie bedient sich zwar auch der Rede: in
quantitativ ungeheuerlichem Umfang sogar, wenn man die Wahlreden bedenkt, die
ein moderner Kandidat zu halten hat. Aber noch nachhaltiger doch: des
gedruckten Worts. Der politische Publizist und vor allem der Journalist ist
der wichtigste heutige Repräsentant der Gattung.
Berufspolitiker-Typen:
Politischer Jornalist
Die Soziologie der modernen politischen Journalistik auch nur zu skizzieren,
wäre im Rahmen dieses Vortrags ganz unmöglich und ist in jeder Hinsicht ein
Kapitel für sich. Nur weniges gehört unbedingt hierher. Der Journalist teilt
mit allen Demagogen und übrigens – wenigstens auf dem Kontinent und im
Gegensatz zu den englischen und übrigens auch zu den früheren preußischen
Zuständen – auch mit dem Advokaten (und dem Künstler) das Schicksal: der festen
sozialen Klassifikation zu entbehren. Er gehört zu einer Art von Pariakaste,
die in der »Gesellschaft« stets nach ihren ethisch tiefststehenden
Repräsentanten sozial eingeschätzt wird. Die seltsamsten Vorstellungen über die
Journalisten und ihre Arbeit sind daher landläufig. Dass eine wirklich gute
journalistische Leistung mindestens so viel »Geist« beansprucht wie irgendeine
Gelehrtenleistung – vor allem infolge der Notwendigkeit, sofort, auf Kommando,
hervorgebracht zu werden und: sofort wirken zu sollen, bei freilich ganz
anderen Bedingungen der Schöpfung-, ist nicht jedermann gegenwärtig. Dass die Verantwortung
eine weit größere ist, und dass auch das Verantwortungsgefühl jedes ehrenhaften
Journalisten im Durchschnitt nicht im mindesten tiefer steht als das des
Gelehrten – sondern höher, wie der Krieg gelehrt hat –, wird fast nie
gewürdigt, weil naturgemäß gerade die verantwortungslosen journalistischen
Leistungen, ihrer oft furchtbaren Wirkung wegen, im Gedächtnis haften. Dass
vollends die Diskretion der irgendwie tüchtigen Journalisten durchschnittlich
höher steht als die anderer Leute, glaubt niemand. Und doch ist es so. Die ganz
unvergleichlich viel schwereren Versuchungen, die dieser Beruf mit sich bringt,
und die sonstigen Bedingungen journalistischen Wirkens in der Gegenwart
erzeugen jene Folgen, welche das Publikum gewöhnt haben, die Presse mit einer
Mischung von Verachtung und – jämmerlicher Feigheit zu betrachten. Über das,
was da zu tun ist, kann heute nicht gesprochen werden. Uns interessiert hier
die Frage nach dem politischen Berufsschicksal der Journalisten, ihrer Chance,
in politische Führerstellungen zu gelangen. Sie war bisher nur in der
sozialdemokratischen Partei günstig. Aber innerhalb ihrer hatten
Redakteurstellen weit überwiegend den Charakter einer Beamtenstellung, nicht
aber waren sie die Grundlage einer Führerposition. In den bürgerlichen Parteien
hatte sich, im ganzen genommen, gegenüber der vorigen Generation die Chance des
Aufstiegs zur politischen Macht auf diesem Wege eher verschlechtert.
Presseeinfluss und also Pressebeziehungen benötigte natürlich jeder Politiker
von Bedeutung. Aber dass Parteiführer aus den Reihen der Presse hervorgingen,
war – man sollte es nicht erwarten – durchaus die Ausnahme. Der Grund liegt in
der stark gestiegenen »Unabkömmlichkeit« des Journalisten, vor allem des
vermögenslosen und also berufsgebundenen Journalisten, welche durch die
ungeheure Steigerung der Intensität und Aktualität des journalistischen
Betriebes bedingt ist. Die Notwendigkeit des Erwerbs durch tägliches oder doch
wöchentliches Schreiben von Artikeln hängt Politikern wie ein Klotz am Bein,
und ich kenne Beispiele, wo Führernaturen dadurch geradezu dauernd im
Machtaufstieg äußerlich und vor allem: innerlich gelähmt worden sind. Dass die
Beziehungen der Presse zu den herrschenden Gewalten im Staat und in den
Parteien unter dem alten Regime dem Niveau des Journalismus so abträglich wie
möglich waren, ist ein Kapitel für sich. Diese Verhältnisse lagen in den
gegnerischen Ländern anders. Aber auch dort und für alle modernen Staaten galt,
scheint es, der Satz: dass der journalistische Arbeiter immer weniger, der
kapitalistische Pressemagnat – nach Art etwa des »Lord« NORTHCLIFFE – immer
mehr politischen Einfluss gewinnt.
Bei uns waren allerdings bisher die großen kapitalistischen
Zeitungskonzerne, welche sich vor allem der Blätter mit »kleinen Anzeigen«, der
»Generalanzeiger«, bemächtigt hatten, in aller Regel die typischen Züchter
politischer Indifferenz. Denn an selbständiger Politik war nichts zu verdienen,
vor allem nicht das geschäftlich nützliche Wohlwollen der politisch
herrschenden Gewalten. Das Inseratengeschäft ist auch der Weg, auf dem man
während des Krieges den Versuch einer politischen Beeinflussung der Presse im
großen Stil gemacht hat und jetzt, wie es scheint, fortsetzen will. Wenn auch
zu erwarten ist, dass die große Presse sich dem entziehen wird, so ist die Lage
für die kleinen Blätter doch weit schwieriger. Jedenfalls aber ist bei uns zur
Zeit die journalistische Laufbahn, so viel Reiz sie im übrigen haben und
welches Maß von Einfluss und Wirkungsmöglichkeit, vor allem: von politischer
Verantwortung, sie einbringen mag, nicht – man muss vielleicht abwarten, ob:
nicht mehr oder: noch nicht – ein normaler Weg des Aufstiegs politischer
Führer. Ob die von manchen – nicht allen – Journalisten für richtig gehaltene
Aufgabe des Anonymitätsprinzips daran etwas ändern würde, lässt sich schwer
sagen. Was wir in der deutschen Presse während des Krieges an »Leitung« von
Zeitungen durch besonders angeworbene schriftstellerisch begabte
Persönlichkeiten, die dabei stets ausdrücklich unter ihrem Namen auftraten,
erlebten, hat in einigen bekannteren Fällen leider gezeigt: dass ein erhöhtes
Verantwortungsgefühl auf diesem Wege nicht so sicher gezüchtet wird, wie man
glauben könnte. Es waren – ohne Parteiunterschied – zum Teil gerade die notorisch
übelsten Boulevard-Blätter, die damit einen erhöhten Absatz erstrebten und auch
erreichten. Vermögen haben die betreffenden Herren, die Verleger wie auch die
Sensationsjournalisten, gewonnen, – Ehre gewiss nicht. Damit soll nun gegen das
Prinzip nichts gesagt sein; die Frage liegt sehr verwickelt, und jene
Erscheinung gilt auch nicht allgemein. Aber es ist bisher nicht der Weg zu
echtem Führertum oder verantwortlichem Betrieb der Politik gewesen. Wie sich
die Verhältnisse weiter gestalten werden, bleibt abzuwarten. Unter allen
Umständen bleibt aber die journalistische Laufbahn einer der wichtigsten Wege
der berufsmäßigen politischen Tätigkeit. Ein Weg nicht für jedermann. Am
wenigsten für schwache Charaktere, insbesondere für Menschen, die nur in einer gesicherten
ständischen Lage ihr inneres Gleichgewicht behaupten können. Wenn schon das
Leben des jungen Gelehrten auf Hasard gestellt ist, so sind doch feste
ständische Konventionen um ihn gebaut und hüten ihn vor Entgleisung. Das Leben
des Journalisten aber ist in jeder Hinsicht Hasard schlechthin, und zwar unter
Bedingungen, welche die innere Sicherheit in einer Art auf die Probe stellen
wie wohl kaum eine andere Situation. Die oft bitteren Erfahrungen im
Berufsleben sind vielleicht nicht einmal das Schlimmste. Gerade an den
erfolgreichen Journalisten werden besonders schwierige innere Anforderungen
gestellt. Es ist durchaus keine Kleinigkeit, in den Salons der Mächtigen der
Erde auf scheinbar gleichem Fuß, und oft allgemein umschmeichelt, weil
gefürchtet, zu verkehren und dabei zu wissen, dass, wenn man kaum aus der Tür
ist, der Hausherr sich vielleicht wegen seines Verkehrs mit den »Pressebengeln«
bei seinen Gästen besonders rechtfertigen muss, – wie es erst recht keine
Kleinigkeit ist, über alles und jedes, was der »Markt« gerade verlangt, über
alle denkbaren Probleme des Lebens, sich prompt und dabei überzeugend äußern zu
sollen, ohne nicht nur der absoluten Verflachung, sondern vor allem der
Würdelosigkeit der Selbstentblößung und ihren unerbittlichen Folgen zu
verfallen. Nicht das ist erstaunlich, dass es viele menschlich entgleiste oder
entwertete Journalisten gibt, sondern dass trotz allem gerade diese Schicht
eine so große Zahl wertvoller und ganz echter Menschen in sich schließt, wie
Außenstehende es nicht leicht vermuten. Wenn der Journalist als Typus des
Berufspolitikers auf eine immerhin schon erhebliche Vergangenheit zurückblickt,
so ist die Figur des Parteibeamten eine solche, die erst der Entwicklung der
letzten Jahrzehnte und, teilweise, Jahre angehört. Wir müssen uns einer
Betrachtung des Parteiwesens und der Parteiorganisation zuwenden, um diese
Figur in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Stellung zu begreifen.
Parteiwesen und Parteiorganisation:
Honoratioren, Parlamentarier
In allen irgendwie umfangreichen, das heißt über den Bereich und
Aufgabenkreis kleiner ländlicher Kantone hinausgehenden politischen Verbänden
mit periodischen Wahlen der Gewalthaber ist der politische Betrieb notwendig:
Interessentenbetrieb. Das heißt, eine relativ kleine Zahl primär am politischen
Leben, also an der Teilnahme an der politischen Macht, Interessierter schaffen
sich Gefolgschaft durch freie Werbung, präsentieren sich oder ihre
Schutzbefohlenen als Wahlkandidaten, sammeln die Geldmittel und gehen auf den
Stimmenfang. Es ist unerfindlich, wie in großen Verbänden Wahlen ohne diesen
Betrieb überhaupt sachgemäß zustande kommen sollten. Praktisch bedeutet er die
Spaltung der wahlberechtigten Staatsbürger in politisch aktive und politisch
passive Elemente, und da dieser Unterschied auf Freiwilligkeit beruht, so kann
er durch keinerlei Maßregeln, wie Wahlpflicht oder »berufsständische«
Vertretung oder dergleichen ausdrücklich oder tatsächlich gegen diesen
Tatbestand und damit gegen die Herrschaft der Berufspolitiker gerichtete
Vorschläge, beseitigt werden. Führerschaft und Gefolgschaft, als aktive
Elemente freier Werbung: der Gefolgschaft sowohl wie, durch diese, der passiven
Wählerschaft für die Wahl des Führers, sind notwendige Lebenselemente jeder
Partei. Verschieden aber ist ihre Struktur. Die »Parteien« etwa der
mittelalterlichen Städte, wie die Guelfen und Ghibellinen, waren rein
persönliche Gefolgschaften. Wenn man das Statuto della parte Guelfa ansieht,
die Konfiskation der Güter der Nobili – das hieß ursprünglich aller derjenigen
Familien, die ritterlich lebten, also lehnsfähig waren –, ihren Ausschluss von
Ämtern und Stimmrecht, die interlokalen Parteiausschüsse und die streng
militärischen Organisationen und ihre Denunziantenprämien, so fühlt man sich an
den Bolschewismus mit seinen Sowjets, seinen streng gesiebten Militär- und – in
Russland vor allem – Spitzelorganisationen, [mit] der Entwaffnung und
politischen Entrechtung der »Bürger«, das heißt der Unternehmer, Händler,
Rentner, Geistlichen, Abkömmlinge der Dynastie, Polizeiagenten, und [mit]
seinen Konfiskationen erinnert. Und wenn man auf der einen Seite sieht, dass
die Militärorganisation jener Partei ein nach Matrikeln zu gestaltendes reines
Ritterheer war und Adlige fast alle führenden Stellen einnahmen, die Sowjets
aber ihrerseits den hochentgoltenen Unternehmer, den Akkordlohn, das
Taylorsystem, die Militär- und Werkstattdisziplin beibehalten oder viel- mehr
wieder einführen und nach ausländischem Kapital Umschau halten, mit einem Wort
also: schlechthin alle von ihnen als bürgerliche Klasseneinrichtungen
bekämpften Dinge wieder annehmen mussten, um überhaupt Staat und Wirtschaft in
Betrieb zu erhalten, und dass sie überdies als Hauptinstrument ihrer
Staatsgewalt die Agenten der alten Ochrana wieder in Betrieb genommen haben, so
wirkt diese Analogie noch frappanter. Wir haben es aber hier nicht mit solchen
Gewaltsamkeitsorganisationen zu tun, sondern mit Berufspolitikern, welche durch
nüchterne »friedliche« Werbung der Partei auf dem Wahlstimmenmarkt zur Macht zu
gelangen streben.
Auch diese Parteien in unserem üblichen Sinn waren zunächst, z.B. in
England, reine Gefolgschaften der Aristokratie. Mit jedem aus irgendeinem
Grunde erfolgenden Wechsel der Partei seitens eines Peer trat alles, was von
ihm abhängig war, gleichfalls zur Gegenpartei über. Die großen Familien des
Adels, nicht zuletzt der König, hatten bis zur Reformbill6 die Patronage einer
Unmasse von Wahlkreisen. Diesen Adelsparteien nahe stehen die
Honoratiorenparteien, wie sie mit Aufkommen der Macht des Bürgertums sich
überall entwickelten. Die Kreise von »Bildung und Besitz« unter der geistigen
Führung der typischen Intellektuellenschichten des Okzidents schieden sich,
teils nach Klasseninteressen, teils nach Familientradition, teils rein ideologisch
bedingt, in Parteien, die sie leiteten. Geistliche, Lehrer, Professoren,
Advokaten, Ärzte, Apotheker, vermögliche Landwirte, Fabrikanten – in England
jene ganze Schicht, die sich zu den gentlemen rechnet – bildeten zunächst
Gelegenheitsverbände, allenfalls lokale politische Klubs; in erregten Zeiten
meldete sich das Kleinbürgertum, gelegentlich einmal das Proletariat, wenn ihm
Führer erstanden, die aber in aller Regel nicht aus seiner Mitte stammten. In
diesem Stadium bestehen interlokal organisierte Parteien als Dauerverbände
draußen im Lande überhaupt noch nicht. Den Zusammenhalt schaffen lediglich die
Parlamentarier; maßgebend für die Kandidatenaufstellung sind die örtlichen
Honoratioren. Die Programme entstehen teils durch die Werbeaufrufe der Kandidaten,
teils in Anlehnung an Honoratiorenkongresse oder Parlamentsparteibeschlüsse.
Nebenamtlich und ehrenamtlich läuft, als Gelegenheitsarbeit, die Leitung der
Klubs oder, wo diese fehlen (wie meist), der gänzlich formlose Betrieb der
Politik seitens der wenigen dauernd daran Interessierten in normalen Zeiten;
nur der Journalist ist bezahlter Berufspolitiker, nur der Zeitungsbetrieb
kontinuierlicher politischer Betrieb überhaupt. Daneben nur die
Parlamentssession. Die Parlamentarier und parlamentarischen Parteileiter wissen
zwar, an welche örtlichen Honoratioren man sich wendet, wenn eine politische
Aktion erwünscht erscheint. Aber nur in großen Städten bestehen dauernd Vereine
der Parteien mit mäßigen Mitgliederbeiträgen und periodischen Zusammenkünften und
öffentlichen Versammlungen zum Rechenschaftsbericht des Abgeordneten. Leben
besteht nur in der Wahlzeit.
Das Interesse der Parlamentarier an der Möglichkeit interlokaler
Wahlkompromisse und an der Schlagkraft einheitlicher, von breiten Kreisen des
ganzen Landes anerkannter Programme und einheitlicher Agitation im Lande
überhaupt bildet die Triebkraft des immer strafferen Parteizusammenschlusses.
Aber wenn nun ein Netz von örtlichen Parteivereinen auch in den mittleren
Städten und daneben von » Vertrauensmännern« über das Land gespannt wird, mit
denen ein Mitglied der Parlamentspartei als Leiter des zentralen Parteibüros in
dauernder Korrespondenz steht, bleibt im Prinzip der Charakter des
Parteiapparates als eines Honoratiorenverbandes unverändert. Bezahlte Beamte
fehlen außerhalb des Zentralbüros noch; es sind durchweg »angesehene« Leute,
welche um der Schätzung willen, die sie sonst genießen, die örtlichen Vereine
leiten: die außerparlamentarischen »Honoratioren«, die neben der politischen
Honoratiorenschicht der einmal im Parlament sitzenden Abgeordneten Einfluss
üben. Die geistige Nahrung für Presse und örtliche Versammlungen beschafft
allerdings zunehmend die von der Partei herausgegebene Parteikorrespondenz.
Regelmäßige Mitgliederbeiträge werden unentbehrlich; ein Bruchteil muss den
Geldkosten der Zentrale dienen. In diesem Stadium befanden sich noch vor nicht
allzu langer Zeit die meisten deutschen Parteiorganisationen. In Frankreich
vollends herrschte teilweise noch das erste Stadium: der ganz labile
Zusammenschluss der Parlamentarier und im Lande draußen die kleine Zahl der
örtlichen Honoratioren, Programme durch die Kandidaten oder für sie von ihren
Schutzpatronen im Einzelfall bei der Bewerbung aufgestellt, wenn auch unter
mehr oder minder örtlicher Anlehnung an Beschlüsse und Programme der
Parlamentarier. Erst teilweise war dies System durchbrochen. Die Zahl der
hauptberuflichen Politiker war dabei gering und setzte sich im wesentlichen aus
den gewählten Abgeordneten, den wenigen Angestellten der Zentrale, den
Journalisten und – in Frankreich – im übrigen aus jenen Stellenjägern zusammen,
die sich in einem »politischen Amt« befanden oder augenblicklich ein solches
erstrebten. Die Politik war formell weit überwiegend Nebenberuf. Auch die Zahl
der »mini-strablen« Abgeordneten war eng begrenzt, aber wegen des
Honoratiorencharakters auch die der Wahlkandidaten. Die Zahl der indirekt an
dem politischen Betrieb, vor allem materiell, Interessierten war aber sehr
groß. Denn alle Maßregeln eines Ministeriums und vor allem alle Erledigungen
von Personalfragen ergingen unter der Mitwirkung der Frage nach ihrem Einfluss
auf die Wahlchancen, und alle und jede Art von Wünschen suchte man durch
Vermittlung des örtlichen Abgeordneten durchzusetzen, dem der Minister, wenn er
zu seiner Mehrheit gehörte – und das erstrebte daher jedermann –, wohl oder
übel Gehör schenken musste. Der einzelne Deputierte hatte die Amtspatronage und
überhaupt jede Art von Patronage in allen Angelegenheiten seines Wahlkreises
und hielt seinerseits, um wiedergewählt zu werden, Verbindung mit den örtlichen
Honoratioren.
Parteiwesen und Parteiorganisation:
Moderne Parteibeamte
Diesem idyllischen Zustand der Herrschaft von Honoratiorenkreisen und vor
allem: der Parlamentarier, stehen nun die modernsten Formen der
Parteiorganisation scharf abweichend gegenüber. Sie sind Kinder der Demokratie,
des Massenwahlrechts, der Notwendigkeit der Massenwerbung und
Massenorganisation, der Entwicklung höchster Einheit der Leitung und strengster
Disziplin. Die Honoratiorenherrschaft und die Lenkung durch die Parlamentarier
hört auf. »Hauptberufliche« Politiker außerhalb der Parlamente nehmen den
Betrieb in die Hand. Entweder als »Unternehmer« – wie der amerikanische Boss
und auch der englische »Election agent« es der Sache nach waren –, oder als
festbesoldeter Beamter. Formell findet eine weitgehende Demokratisierung statt.
Nicht mehr die Parlamentsfraktion schafft die maßgeblichen Programme, und nicht
mehr die örtlichen Honoratioren haben die Aufstellung der Kandidaten in der
Hand, sondern Versammlungen der organisierten Parteimitglieder wählen die
Kandidaten aus und delegieren Mitglieder in die Versammlungen höherer Ordnung,
deren es bis zum allgemeinen »Parteitag« hinauf möglicherweise mehrere gibt.
Der Tatsache nach liegt aber natürlich die Macht in den Händen derjenigen,
welche kontinuierlich innerhalb des Betriebes die Arbeit leisten, oder aber
derjenigen, von welchen – z.B. als Mäzenaten oder Leitern mächtiger politischer
Interessentenklubs (Tammany Hall) – der Betrieb in seinem Gang pekuniär oder
personal abhängig ist. Das Entscheidende ist, dass dieser ganze Menschenapparat
– die »Maschine«, wie man ihn in den angelsächsischen Ländern
bezeichnenderweise nennt – oder vielmehr diejenigen, die ihn leiten, den
Parlamentariern Schach bieten und ihnen ihren Willen ziemlich weitgehend
aufzuzwingen in der Lage sind. Und das hat besonders Bedeutung für die Auslese
der Führung der Partei. Führer wird nun derjenige, dem die Maschine folgt, auch
über den Kopf des Parlaments. Die Schaffung solcher Maschinen bedeutet, mit
anderen Worten, den Einzug der plebiszitären Demokratie. Die
Parteigefolgschaft, vor allem der Parteibeamte und -unternehmer, erwarten vom
Siege ihres Führers selbstverständlich persönliches Entgelt: Ämter oder andere
Vorteile. Von ihm – nicht oder doch nicht nur von den einzelnen
Parlamentariern: das ist das Entscheidende. Sie erwarten vor allem: dass die
demagogische Wirkung der Führerpersönlichkeit im Wahlkampf der Partei Stimmen
und Mandate, damit Macht zuführen und dadurch jene Chancen ihrer Anhänger, für
sich das erhoffte Entgelt zu finden, möglichst ausweiten werde. Und ideell ist
die Genugtuung, für einen Menschen in gläubiger persönlicher Hingabe und nicht
nur für ein abstraktes Programm einer aus Mittelmäßigkeiten bestehenden Partei
zu arbeiten: – dies »charismatische« Element allen Führertums –, eine der
Triebfedern.
In sehr verschiedenem Maß und in stetem latenten Kampf mit den um ihren
Einfluss ringenden örtlichen Honoratioren und den Parlamentariern rang sich
diese Form durch. In den bürgerlichen Parteien zuerst in den Vereinigten
Staaten, dann in der sozialdemokratischen Partei vor allem Deutschlands. Stete
Rückschläge treten ein, sobald einmal kein allgemein anerkannter Führer da ist,
und Konzessionen aller Art müssen, auch wenn er da ist, der Eitelkeit und
Interessiertheit der Parteihonoratioren gemacht werden. Vor allem aber kann
auch die Maschine unter die Herrschaft der Parteibeamten geraten, in deren
Händen die regelmäßige Arbeit liegt. Nach Ansicht mancher sozialdemokratischer
Kreise sei ihre Partei dieser »Bürokratisierung« verfallen gewesen. Indessen
»Beamte« fügen sich einer demagogisch stark wirkenden Führerpersönlichkeit
relativ leicht: ihre materiellen und ideellen Interessen sind ja intim mit der
durch ihn erhofften Auswirkung der Parteimacht verknüpft, und die Arbeit für
einen Führer ist an sich innerlich befriedigender. Weit schwerer ist der
Aufstieg von Führern da, wo – wie in den bürgerlichen Parteien meist – neben
den Beamten die »Honoratioren« den Einfluss auf die Partei in Händen haben.
Denn diese »machen« ideell »ihr Leben« aus dem Vorstands- oder
Ausschußmitgliedspöstchen, das sie innehaben. Ressentiment gegen den Demagogen
als homo novus, die Überzeugung von der Überlegenheit parteipolitischer
»Erfahrung« – die nun einmal auch tatsächlich von erheblicher Bedeutung ist –
und die ideologische Besorgnis vor dem Zerbrechen der alten Parteitraditionen
bestimmen ihr Handeln. Und in der Partei haben sie alle traditionalistischen Elemente
für sich. Vor allem der ländliche, aber auch der kleinbürgerliche Wähler sieht
auf den ihm von alters her vertrauten Honoratiorennamen und misstraut dem ihm
unbekannten Mann, um freilich, wenn dieser einmal den Erfolg für sich gehabt
hat, nun ihm um so unerschütterlicher anzuhängen. Sehen wir uns an einigen
Hauptbeispielen dieses Ringen der beiden Strukturformen und das namentlich von
OSTROGORSKI geschilderte Hochkommen der plebiszitären Form einmal an.
Parteiwesen und Parteiorganisation:
»Caucus«-System in England
Zunächst England: dort war die Parteiorganisation bis 1868 eine fast reine
Honoratioren-Organisation. Die Tones stützten sich auf dem Lande etwa auf den
anglikanischen Pfarrer, daneben – meist – den Schulmeister und vor allem die
Groß[grund]besitzer der betreffenden county, die Whigs meist auf solche Leute
wie den nonkonformistischen Prediger (wo es ihn gab), den Posthalter, Schmied,
Schneider, Seiler, solche Handwerker also, von denen – weil man mit ihnen am
meisten plaudern kann – politischer Einfluss ausgehen konnte. In der Stadt
schieden sich die Parteien teils nach ökonomischen, teils nach religiösen,
teils einfach nach in den Familien überkommenen Parteimeinungen. Immer aber
waren Honoratioren die Träger des politischen Betriebes. Darüber schwebten das
Parlament und die Parteien mit dem Kabinett und mit dem »leader«, der der
Vorsitzende des Ministerrates oder der Opposition war. Dieser leader hatte
neben sich die wichtigste berufspolitische Persönlichkeit der
Parteiorganisation: den »Einpeitscher« (whip). In seinen Händen lag die
Ämterpatronage; an ihn hatten sich also die Stellenjäger zu wenden, er benahm
sich darüber mit den Deputierten der einzelnen Wahlkreise. In diesen begann
sich langsam eine Berufspolitikerschicht zu entwickeln, indem lokale Agenten
geworben wurden, die zunächst unbezahlt waren und ungefähr die Stellung unserer
»Vertrauensmänner« einnahmen. Daneben aber entwickelte sich für die Wahlkreise
eine kapitalistische Unternehmergestalt: der »Election agent«, dessen Existenz
in der modernen, die Wahlreinheit sichernden Gesetzgebung Englands
unvermeidlich war. Diese Gesetzgebung versuchte, die Wahlkosten zu
kontrollieren und der Macht des Geldes entgegenzutreten, indem sie den
Kandidaten verpflichtete anzugeben, was ihn die Wahl gekostet hatte: denn der
Kandidat hatte – weit mehr, als dies früher auch bei uns vorkam – außer den
Strapazen seiner Stimme auch das Vergnügen, den Geldbeutel zu ziehen. Der
Election agent ließ sich von ihm eine Pauschalsumme zahlen, wobei er ein gutes
Geschäft zu machen pflegte. – In der Machtverteilung zwischen »leader« und
Parteihonoratioren, im Parlament und im Lande, hatte der erstere in England von
jeher, aus zwingenden Gründen der Ermöglichung einer großen und dabei stetigen
Politik, eine sehr bedeutende Stellung. Immerhin war aber der Einfluss auch der
Parlamentarier und Parteihonoratioren noch erheblich.
So etwa sah die alte Parteiorganisation aus, halb Honoratiorenwirtschaft,
halb bereits Angestellten- und Unternehmerbetrieb. Seit 1868 aber entwickelte
sich zuerst für lokale Wahlen in Birmingham, dann im ganzen Lande, das
»Caucus«-System. Ein nonkonformistischer Pfarrer und neben ihm JOSEPH
CHAMBERLAIN riefen dieses System ins Leben. Anlass war die Demokratisierung des
Wahlrechts. Zur Massengewinnung wurde es notwendig, einen ungeheuren Apparat
von demokratisch aussehenden Verbänden ins Leben zu rufen, in jedem
Stadtquartier einen Wahlverband zu bilden, unausgesetzt den Betrieb in Bewegung
zu halten, alles straff zu bürokratisieren: zunehmend angestellte bezahlte
Beamte, von den lokalen Wahlkomitees, in denen bald im ganzen vielleicht 10%
der Wähler organisiert waren, gewählte Hauptvermittler mit Kooptationsrecht als
formelle Träger der Parteipolitik. Die treibende Kraft waren die lokalen, vor allem
die an der Kommunalpolitik – überall die Quelle der fettesten materiellen
Chancen – interessierten Kreise, die auch die Finanzmittel in erster Linie
aufbrachten. Diese neuentstehende, nicht mehr parlamentarisch geleitete
Maschine hatte sehr bald Kämpfe mit den bisherigen Machthabern zu führen, vor
allem mit dem whip, bestand aber, gestützt auf die lokalen Interessenten, den
Kampf derart siegreich, dass der whip sich fügen und mit ihr paktieren musste.
Das Resultat war eine Zentralisation der ganzen Gewalt in der Hand der wenigen
und letztlich der einen Person, die an der Spitze der Partei stand. Denn in der
liberalen Partei war das ganze System aufgekommen in Verbindung mit dem
Emporsteigen GLADSTONES zur Macht. Das Faszinierende der GLADSTONESCHEN »großen«
Demagogie, der feste Glaube der Massen an den ethischen Gehalt seiner Politik
und vor allem an den ethischen Charakter seiner Persönlichkeit war es, der
diese Maschine so schnell zum Siege über die Honoratioren führte. Ein
cäsaristisch-plebiszitäres Element in der Politik: der Diktator des
Wahlschlachtfeldes, trat auf den Plan. Das äußerte sich sehr bald. 1877 wurde
der Caucus zum ersten Mal bei den staatlichen Wahlen tätig. Mit glänzendem
Erfolg: DISRAELIS Sturz mitten in seinen großen Erfolgen war das Resultat. 1886
war die Maschine bereits derart vollständig charismatisch an der Person
orientiert, dass, als die Homerule-Frage aufgerollt wurde, der ganze Apparat
von oben bis unten nicht fragte: Stehen wir sachlich auf dem Boden GLADSTONES?,
sondern einfach auf das Wort GLADSTONES mit ihm abschwenkte und sagte: Was er
tut, wir folgen ihm, – und seinen eigenen Schöpfer, CHAMBERLAIN, im Stich ließ.
Diese Maschinerie bedarf eines erheblichen Personenapparates. Es sind
immerhin wohl 2000 Personen in England, die direkt von der Politik der Parteien
leben. Sehr viel zahlreicher sind freilich diejenigen, die rein als
Stellenjäger oder als Interessenten in der Politik mitwirken, namentlich
innerhalb der Gemeindepolitik. Neben den ökonomischen Chancen stehen für den
brauchbaren Caucus-Politiker Eitelkeitschancen. »J.P.« oder gar »M.P.« zu
werden, ist naturgemäß Streben des höchsten (normalen) Ehrgeizes, und solchen
Leuten, die eine gute Kinderstube aufzuweisen hatten, »gentlemen« waren, wird
das zuteil. Als Höchstes winkte, insbesondere für große Geldmäzenaten – die
Finanzen der Parteien beruhten zu vielleicht 50% auf Spenden ungenannt
bleibender Geber – die Peers-Würde.
Was war nun der Effekt des ganzen Systems? Dass heute die englischen
Parlamentarier mit Ausnahme der paar Mitglieder des Kabinetts (und einiger
Eigenbrötler) normalerweise nichts anderes als gut diszipliniertes Stimmvieh
sind. Bei uns im Reichstag pflegte man zum mindesten durch Erledigung von
Privatkorrespondenz auf dem Schreibtisch vor seinem Platz zu markieren, dass
man für das Wohl des Landes tätig sei. Derartige Gesten werden in England nicht
verlangt; das Parlamentsmitglied hat nur zu stimmen und nicht Parteiverrat zu
begehen; es hat zu erscheinen, wenn die Einpeitscher rufen, zu tun, was je nachdem
das Kabinett oder was der leader der Opposition verfügt. Die Caucus-Maschine
draußen im Lande vollends ist, wenn ein starker Führer da ist, fast
gesinnungslos und ganz in den Händen des leader. Über dem Parlament steht also
damit der faktisch plebiszitäre Diktator, der die Massen vermittels der »
Maschine« hinter sich bringt, und für den die Parlamentarier nur politische
Pfründner sind, die in seiner Gefolgschaft stehen.
Wie findet nun die Auslese dieser Führerschaft statt? Zunächst: nach welcher
Fähigkeit? Dafür ist – nächst den überall in der Welt entscheidenden Qualitäten
des Willens – natürlich die Macht der demagogischen Rede vor allem maßgebend.
Ihre Art hat sich geändert von den Zeiten her, wo sie sich, wie bei COBDEN, an
den Verstand wandte, zu GLADSTONE, der ein Techniker des scheinbar nüchternen
»Die-Tatsachen-sprechen-Lassens« war, bis zur Gegenwart, wo vielfach rein
emotional mit Mitteln, wie sie auch die Heilsarmee verwendet, gearbeitet wird,
um die Massen in Bewegung zu setzen. Den bestehenden Zustand darf man wohl eine
»Diktatur, beruhend auf der Ausnutzung der Emotionalität der Massen«, nennen. –
Aber das sehr entwickelte System der Komiteearbeit im englischen Parlament
ermöglicht es und zwingt auch jeden Politiker, der auf Teilnahme an der Führung
reflektiert, dort mitzuarbeiten. Alle erheblichen Minister der letzten
Jahrzehnte haben diese sehr reale und wirksame Arbeitsschulung hinter sich, und
die Praxis der Berichterstattung und öffentlichen Kritik an diesen Beratungen
bedingt es, dass diese Schule eine wirkliche Auslese bedeutet und den bloßen
Demagogen ausschaltet.
Parteiwesen und Parteiorganisation:
»Spoils System« in den USA
So in England. Das dortige Caucus-System war aber nur eine abgeschwächte
Form, verglichen mit der amerikanischen Parteiorganisation, die das
plebiszitäre Prinzip besonders früh und besonders rein zur Ausprägung brachte.
Das Amerika WASHINGTONS sollte nach seiner Idee ein von »gentlemen« verwaltetes
Gemeinwesen sein. Ein gentleman war damals auch drüben ein Grundherr oder ein
Mann, der Collegeerziehung hatte. So war es auch zunächst. Als sich Parteien
bildeten, nahmen anfangs die Mitglieder des Repräsentantenhauses in Anspruch,
Leiter zu sein wie in England zur Zeit der Honoratiorenherrschaft. Die
Parteiorganisation war ganz locker. Das dauerte bis 1824. Schon vor den
zwanziger Jahren war in manchen Gemeinden – die auch hier die erste Stätte der
modernen Entwicklung waren – die Parteimaschine im Werden. Aber erst die Wahl
von ANDREW JACKSON zum Präsidenten7, des Kandidaten der Bauern des Westens,
warf die alten Traditionen über den Haufen. Das formelle Ende der Leitung der
Parteien durch führende Parlamentarier ist bald nach 1840 eingetreten, als die
großen Parlamentarier – CALHOUN, WEBSTER – aus dem politischen Leben
ausschieden, weil das Parlament gegenüber der Parteimaschine draußen im Lande
fast jede Macht verloren hatte. Dass die plebiszitäre »Maschine« in Amerika
sich so früh entwickelte, hatte seinen Grund darin, dass dort, und nur dort,
das Haupt der Exekutive und – darauf kam es an – der Chef der Amtspatronage ein
plebiszitär gewählter Präsident und dass er infolge der »Gewaltenteilung« in
seiner Amtsführung vom Parlament fast unabhängig war. Ein richtiges Beuteobjekt
von Amtspfründen winkte also als Lohn des Sieges gerade bei der
Präsidentenwahl. Durch das von ANDREW JACKSON nun ganz systematisch zum Prinzip
erhobene »spoils system« wurde die Konsequenz daraus gezogen.
Was bedeutet dies spoils system – die Zuwendung aller Bundesämter an die
Gefolgschaft des siegreichen Kandidaten – für die Parteibildung heute? Dass
ganz gesinnungslose Parteien einander gegenüberstehen, reine
Stellenjägerorganisationen, die für den einzelnen Wahlkampf ihre wechselnden
Programme je nach der Chance des Stimmenfanges machen – in einem Maße
wechselnd, wie dies trotz aller Analogien doch anderwärts sich nicht findet.
Die Parteien sind eben ganz und gar zugeschnitten auf den für die Amtspatronage
wichtigsten Wahlkampf: den um die Präsidentschaft der Union und um die
Governorstellen der Einzelstaaten. Programme und Kandidaten werden in den »
national conventions« der Parteien ohne Intervention der Parlamentarier
festgestellt: – von Parteitagen also, die formell sehr demokratisch von
Delegiertenversammlungen beschickt wurden, welche ihrerseits ihr Mandat den
»primaries«, den Urwählerversammlungen der Partei, verdanken. Schon in den
primaries werden die Delegierten auf den Namen der Staatsoberhauptskandidaten
gewählt; innerhalb der einzelnen Parteien tobt der erbittertste Kampf um die Frage
der »nomination«. In den Händen des Präsidenten liegen immerhin 300000 bis
400000 Beamtenernennungen, die von ihm, nur unter Zuziehung von Senatoren der
Einzelstaaten, vollzogen werden. Die Senatoren sind also mächtige Politiker.
Das Repräsentantenhaus dagegen ist politisch relativ sehr machtlos, weil ihm
die Beamtenpatronage entzogen ist und die Minister, reine Gehilfen des vom Volk
gegen jedermann – auch das Parlament – legitimierten Präsidenten, unabhängig
vom Vertrauen oder Misstrauen [des Repräsentantenhauses] ihres Amtes walten
können: eine Folge der » Gewaltenteilung«. Das dadurch gestützte spoils system
war in Amerika technisch möglich, weil bei der Jugend der amerikanischen Kultur
eine reine Dilettantenwirtschaft ertragen werden konnte. Denn 300000 bis 400000
solcher Parteileute, die nichts für ihre Qualifikation anzuführen hatten als
die Tatsache, dass sie ihrer Partei gute Dienste geleistet hatten, – dieser
Zustand konnte selbstverständlich nicht bestehen ohne ungeheure Übelstände:
Korruption und Vergeudung ohnegleichen, die nur ein Land mit noch unbegrenzten
ökonomischen Chancen ertrug.
Parteiwesen und Parteiorganisation:
Der »Boss«, Partei als Unternehmen
Diejenige Figur nun, die mit diesem System der plebiszitären Parteimaschine
auf der Bildfläche erscheint, ist: der »Boss«. Was ist der Boss? Ein
politischer kapitalistischer Unternehmer, der für seine Rechnung und Gefahr
Wahlstimmen herbeischafft. Er kann als Rechtsanwalt oder Kneipwirt oder Inhaber
ähnlicher Betriebe oder etwa als Kreditgeber seine ersten Beziehungen gewonnen
haben. Von da aus spinnt er seine Fäden weiter, bis er eine bestimmte Anzahl
von Stimmen zu »kontrollieren« vermag. Hat er es so weit gebracht, so tritt er
mit den Nachbarbosses in Verbindung, erregt durch Eifer, Geschicklichkeit und
vor allen Dingen: Diskretion die Aufmerksamkeit derjenigen, die es in der
Karriere schon weiter gebracht haben, und steigt nun auf. Der Boss ist
unentbehrlich für die Organisation der Partei. Die liegt zentralisiert in
seiner Hand. Er beschafft sehr wesentlich die Mittel. Wie kommt er zu ihnen?
Nun, teilweise durch Mitgliederbeiträge; vor allem durch Besteuerung der
Gehälter jener Beamten, die durch ihn und seine Partei ins Amt kamen. Dann
durch Bestechungs- und Trinkgelder. Wer eines der zahlreichen Gesetze
ungestraft verletzen will, bedarf der Konnivenz der Bosses und muß sie
bezahlen. Sonst erwachsen ihm unweigerlich Unannehmlichkeiten. Aber damit
allein ist das erforderliche Betriebskapital noch nicht beschafft. Der Boss ist
unentbehrlich als direkter Empfänger des Geldes der großen Finanzmagnaten. Die
würden keinem bezahlten Parteibeamten oder irgendeinem öffentlich
rechnunglegenden Menschen überhaupt Geld für Wahlzwecke anvertrauen. Der Boss
mit seiner klüglichen Diskretion in Geldsachen ist selbstverständlich der Mann
derjenigen kapitalistischen Kreise, welche die Wahl finanzieren. Der typische
Boss ist ein absolut nüchterner Mann. Er strebt nicht nach sozialer Ehre; der
»professional« ist verachtet innerhalb der »guten Gesellschaft«. Er sucht
ausschließlich Macht, Macht als Geldquelle, aber auch: um ihrer selbst willen.
Er arbeitet im Dunklen, das ist sein Gegensatz zum englischen leader. Man wird
ihn selbst nicht öffentlich reden hören; er suggeriert den Rednern, was sie in
zweckmäßiger Weise zu sagen haben, er selbst aber schweigt. Er nimmt in aller
Regel kein Amt an, außer dem des Senators im Bundessenat. Denn da die Senatoren
an der Amtspatronage kraft Verfassung beteiligt sind, sitzen die leitenden
Bosses oft in Person in dieser Körperschaft. Die Vergebung der Ämter erfolgt in
erster Linie nach der Leistung für die Partei. Aber auch der Zuschlag gegen
Geldgebote kam vielfach vor, und es existierten für einzelne Ämter bestimmte
Taxen: ein Ämterver- kaufssystem, wie es die Monarchien des 17. und 18.
Jahrhunderts mit Einschluß des Kirchenstaates ja auch vielfach kannten.
Der Boss hat keine festen politischen »Prinzipien«, er ist vollkommen
gesinnungslos und fragt nur: Was fängt Stimmen? Er ist nicht selten ein
ziemlich schlecht erzogener Mann. Er pflegt aber in seinem Privatleben
einwandfrei und korrekt zu leben. Nur in seiner politischen Ethik paßt er sich
naturgemäß der einmal gegebenen Durchschnittsethik des politischen Handelns an,
wie sehr viele von uns in der Zeit des Hamsterns auch auf dem Gebiete der
ökonomischen Ethik getan haben dürften. Daß man ihn als »professional«, als
Berufspolitiker, gesellschaftlich verachtet, ficht ihn nicht an. Daß er selbst
nicht in die großen Ämter der Union gelangt und gelangen will, hat dabei den
Vorzug: daß nicht selten parteifremde Intelligenzen: Notabilitäten also, und
nicht immer wieder die alten Parteihonoratioren wie bei uns, in die Kandidatur
hineinkommen, wenn die Bosses sich davon Zugkraft bei den Wahlen versprechen.
Gerade die Struktur dieser gesinnungslosen Parteien mit ihren gesellschaftlich
verachteten Machthabern hat daher tüchtigen Männern zur Präsidentschaft
verholfen, die bei uns niemals hochgekommen wären. Freilich, gegen einen
Outsider, der ihren Geld- und Machtquellen gefährlich werden könnte, sträuben
sich die Bosses. Aber im Konkurrenzkampf um die Gunst der Wähler haben sie
nicht selten sich zur Akzeptierung gerade von solchen Kandidaten herbeilassen
müssen, die als Korruptionsgegner galten.
Hier ist also ein stark kapitalistischer, von oben bis unten straff
durchorganisierter Parteibetrieb vorhanden, gestützt auch durch die überaus
festen, ordensartig organisierten Klubs von der Art von Tammany Hall, die
ausschließlich die Profiterzielung durch politische Beherrschung vor allem von
Kommunalverwaltungen - auch hier des wichtigsten Ausbeutungsobjektes –
erstreben. Möglich war diese Struktur des Parteilebens infolge der hochgradigen
Demokratie der Vereinigten Staaten als eines »Neulandes«. Dieser Zusammenhang
nun bedingt, daß dies System im langsamen Absterben begriffen ist. Amerika kann
nicht mehr nur durch Dilettanten regiert werden. Von amerikanischen Arbeitern
bekam man noch vor 15 Jahren8 auf die Frage, warum sie sich so von
Politikern regieren ließen, die sie selbst zu verachten erklärten, die Antwort:
»Wir haben lieber Leute als Beamte, auf die wir spucken, als wie bei euch eine
Beamtenkaste, die auf uns spuckt.« Das war der alte Standpunkt amerikanischer
»Demokratie«: die Sozialisten dachten schon damals völlig anders. Der Zustand wird
nicht mehr ertragen. Die Dilettantenverwaltung reicht nicht mehr aus, und die
Civil Service Reform schafft lebenslängliche pensionsfähige Stellen in stets
wachsender Zahl und bewirkt so, daß auf der Universität geschulte Beamte, genau
so unbestechlich und tüchtig wie die unsrigen, in die Ämter kommen. Rund 100000
Ämter sind schon jetzt nicht mehr im Wahlturnus Beuteobjekt, sondern
pensionsfähig und an Qualifikationsnachweis geknüpft. Das wird das spoils
system langsam mehr zurücktreten lassen, und die Art der Parteileitung wird
sich dann wohl ebenfalls umbilden; wir wissen nur noch nicht: wie.
Parteiwesen und Parteiorganisation:
Parteien in Deutschland
In Deutschland waren die entscheidenden Bedingungen des politischen
Betriebes bisher im wesentlichen folgende. Erstens: Machtlosigkeit der
Parlamente. Die Folge war: dass kein Mensch, der Führerqualität hatte, dauernd
hineinging. Gesetzt den Fall, man wollte hineingehen, – was konnte man dort
tun? Wenn eine Kanzleistelle frei wurde, konnte man dem betreffenden
Verwaltungschef sagen: ich habe in meinem Wahlkreis einen sehr tüchtigen Mann,
der wäre geeignet, nehmen sie den doch. Und das geschah gern. Das war aber so
ziemlich alles, was ein deutscher Parlamentarier für die Befriedigung seiner
Machtinstinkte erreichen konnte, – wenn er solche hatte. Dazu trat – und dies
zweite Moment bedingte das erste –: die ungeheure Bedeutung des geschulten
Fachbeamtentums in Deutschland. Wir waren darin die ersten der Welt. Diese
Bedeutung brachte es mit sich, dass dies Fachbeamtentum nicht nur die
Fachbeamtenstellen, sondern auch die Ministerposten für sich beanspruchte. Im
bayerischen Landtag ist es gewesen, wo im vorigen Jahre, als die
Parlamentarisierung zur Diskussion stand, gesagt wurde: die begabten Leute
werden dann nicht mehr Beamte werden, wenn man die Parlamentarier in die
Ministerien setzt. Die Beamtenverwaltung entzog sich überdies systematisch
einer solchen Art von Kontrolle, wie sie die englischen Komitee-Erörterungen
bedeuten, und setzte so die Parlamente außerstand – von wenigen Ausnahmen
abgesehen –, wirklich brauchbare Verwaltungschefs in ihrer Mitte heranzubilden.
Das dritte war, dass wir in Deutschland, im Gegensatz zu Amerika,
gesinnungspolitische Parteien hatten, die zum mindesten mit subjektiver bona fides
behaupteten, dass ihre Mitglieder »Weltanschauungen« vertraten. Die beiden
wichtigsten dieser Parteien: das Zentrum einerseits, die Sozialdemokratie
andererseits, waren nun aber geborene Minoritätsparteien und zwar nach ihrer
eigenen Absicht. Die führenden Zentrumskreise im Reich haben nie ein Hehl
daraus gemacht, dass sie deshalb gegen den Parlamentarismus seien, weil sie
fürchteten, in die Minderheit zu kommen und ihnen dann die Unterbringung von
Stellenjägern wie bisher, durch Druck auf die Regierung, erschwert würde. Die
Sozialdemokratie war prinzipielle Minderheitspartei und ein Hemmnis der
Parlamentarisierung, weil sie sich mit der gegebenen politisch- bürgerlichen
Ordnung nicht beflecken wollte. Die Tatsache, dass beide Parteien sich
ausschlossen vom parlamentarischen System, machte dieses unmöglich.
Was wurde dabei aus den deutschen Berufspolitikern? Sie hatten keine Macht,
keine Verantwortung, konnten nur eine ziemlich subalterne Honoratiorenrolle
spielen und waren infolgedessen neuerlich beseelt von den überall typischen
Zunftinstinkten. Es war unmöglich, im Kreise dieser Honoratioren, die ihr Leben
aus ihrem kleinen Pöstchen machten, hochzusteigen für einen ihnen nicht
gleichgearteten Mann. Ich könnte aus jeder Partei, selbstverständlich die Sozialdemokratie
nicht ausgenommen, zahlreiche Namen nennen, die Tragödien der politischen
Laufbahn bedeuteten, weil der Betreffende Führerqualitäten hatte und um eben
deswillen von den Honoratioren nicht geduldet wurde. Diesen Weg der Entwicklung
zur Honoratiorenzunft sind alle unsere Parteien gegangen. BEBEL z.B. war noch
ein Führer, dem Temperament und der Lauterkeit des Charakters nach, so
bescheiden sein Intellekt war. Die Tatsache, dass er Märtyrer war, dass er das
Vertrauen der Massen (in deren Augen) niemals täuschte, hatte zur Folge, dass
er sie schlechthin hinter sich hatte und es keine Macht innerhalb der
[sozialdemokratischen] Partei gab, die ernsthaft gegen ihn hätte auftreten
können. Nach seinem Tode hatte das ein Ende, und die Beamtenherrschaft begann.
Gewerkschaftsbeamte, Parteisekretäre, Journalisten kamen in die Höhe,
Beamteninstinkte beherrschten die Partei, ein höchst ehrenhaftes Beamtentum –
selten ehrenhaft darf man, mit Rücksicht auf die Verhältnisse anderer Länder,
besonders im Hinblick auf die oft bestechlichen Gewerkschaftsbeamten in
Amerika, sagen –, aber die früher erörterten Konsequenzen der Beamtenherrschaft
traten auch in der Partei ein.
Die bürgerlichen Parteien wurden seit den achtziger Jahren vollends
Honoratiorenzünfte. Gelegentlich zwar mussten die Parteien zu Reklamezwecken
außerparteiliche Intelligenzen heranziehen, um sagen zu können: »diese und
diese Namen haben wir«. Möglichst vermieden sie es, dieselben in die Wahl
hineinkommen zu lassen, und nur wo es unvermeidlich war, der Betreffende es
sich nicht anders gefallen ließ, geschah es. Im Parlament [herrschte] der
gleiche Geist. Unsere Parlamentsparteien waren und sind Zünfte. Jede Rede, die
gehalten wird im Plenum des Reichstages, ist vorher durchrezensiert in der
Partei. Das merkt man ihrer unerhörten Langeweile an. Nur wer als Redner
bestellt ist, kann zu Wort kommen. Ein stärkerer Gegensatz gegen die englische,
aber auch – aus ganz entgegengesetzten Gründen – die französische Gepflogenheit
ist kaum denkbar.
Parteiwesen und Parteiorganisation:
Perspektiven
Jetzt ist infolge des gewaltigen Zusammenbruchs, den man Revolution zu
nennen pflegt, vielleicht eine Umwandlung im Gange. Vielleicht – nicht sicher.
Zunächst traten Ansätze zu neuen Arten von Parteiapparaten auf. Erstens
Amateurapparate. Besonders oft vertreten durch Studenten der verschiedenen
Hochschulen, die einem Mann, dem sie Führerqualitäten zuschreiben, sagen: wir
wollen für Sie die nötige Arbeit versehen, führen Sie sie aus. Zweitens
geschäftsmännische Apparate. Es kam vor, dass Leute zu Männern kamen, denen sie
Führerqualitäten zuschrieben, und sich erboten, gegen feste Beträge für jede
Wahlstimme die Werbung zu übernehmen. – Wenn Sie mich ehrlich fragen würden,
welchen von diesen beiden Apparaten ich unter rein technisch-politischen
Gesichtspunkten für verlässlicher halten wollte, so würde ich, glaube ich, den
letzteren vorziehen. Aber beides waren schnell aufsteigende Blasen, die rasch
wieder verschwanden. Die vorhandenen Apparate schichteten sich um, arbeiteten
aber weiter. Jene Erscheinungen waren nur ein Symptom dafür, dass die neuen
Apparate sich vielleicht schon einstellen würden, wenn nur – die Führer da
wären. Aber schon die technische Eigentümlichkeit des Verhältniswahlrechts
schloss deren Hochkommen aus. Nur ein paar Diktatoren der Straße entstanden und
gingen wieder unter. Und nur die Gefolgschaft der Straßendiktatur ist in fester
Disziplin organisiert: daher die Macht dieser verschwindenden Minderheiten.
Nehmen wir an, das änderte sich, so muss man sich nach dem früher Gesagten
klarmachen: die Leitung der Parteien durch plebiszitäre Führer bedingt die
»Entseelung« der Gefolgschaft, ihre geistige Proletarisierung, könnte man
sagen. Um für den Führer als Apparat brauchbar zu sein, muss sie blind gehorchen,
Maschine im amerikanischen Sinne sein, nicht gestört durch
Honoratioreneitelkeit und Prätensionen eigener Ansichten. LINCOLNS Wahl war nur
durch diesen Charakter der Parteiorganisation möglich, und bei GLADSTONE trat,
wie erwähnt, das gleiche im Caucus ein. Es ist das eben der Preis, womit man
die Leitung durch Führer zahlt. Aber es gibt nur die Wahl: Führerdemokratie mit
»Maschine« oder führerlose Demokratie, das heißt: die Herrschaft der
»Berufspolitiker« ohne Beruf, ohne die inneren, charismatischen Qualitäten, die
eben zum Führer machen. Und das bedeutet dann das, was die jeweilige
Parteifronde gewöhnlich als Herrschaft des »Klüngels« bezeichnet. Vorläufig
haben wir nur dies letztere in Deutschland. Und für die Zukunft wird der
Fortbestand, im Reich wenigstens, begünstigt einmal dadurch, dass doch wohl der
Bundesrat wiedererstehen und notwendig die Macht des Reichstages und damit
seine Bedeutung als Auslesestelle von Führern beschränken wird. Ferner durch
das Verhältniswahlrecht, so wie es jetzt gestaltet ist: eine typische
Erscheinung der führerlosen Demokratie, nicht nur weil es den Kuhhandel der
Honoratioren um die Placierung begünstigt, sondern auch weil es künftig den
Interessentenverbänden die Möglichkeit gibt, die Aufnahme ihrer Beamten in die Listen
zu erzwingen und so ein unpolitisches Parlament zu schaffen, in dem echtes
Führertum keine Stätte findet. Das einzige Ventil für das Bedürfnis nach
Führertum könnte der Reichspräsident werden, wenn er plebiszitär, nicht
parlamentarisch, gewählt wird. Führertum auf dem Boden der Arbeitsbewährung
könnte entstehen und ausgelesen werden vor allem dann, wenn in den großen
Kommunen, wie in den Vereinigten Staaten überall da, wo man der Korruption
ernstlich zuleibe [rücken] wollte, der plebiszitäre Stadtdiktator mit dem
Recht, sich seine Büros selbständig zusammenzustellen, auf der Bildfläche
erscheinen würde. Das würde eine auf solche Wahlen zugeschnittene
Parteiorganisation bedingen. Aber die durchaus kleinbürgerliche
Führerfeindschaft aller Parteien, mit Einschluss vor allem der
Sozialdemokratie, lässt die künftige Art der Gestaltung der Parteien und damit
all dieser Chancen noch ganz im Dunkel liegen. Es ist daher heute noch in
keiner Weise zu übersehen, wie sich äußerlich der Betrieb der Politik als »Beruf«
gestalten wird, noch weniger infolgedessen: auf welchem Wege sich Chancen für
politisch Begabte eröffnen, vor eine befriedigende politische Aufgabe gestellt
zu werden. Für den, der »von« der Politik zu leben durch seine Vermögenslage
genötigt ist, wird wohl immer die Alternative: Journalistik oder
Parteibeamtenstellung als die typischen direkten Wege, oder eine der
Interessenvertretungen: bei einer Gewerkschaft, Handelskammer,
Landwirtschaftskammer, Handwerkskammer, Arbeitskammer, Arbeitgeberverbänden usw.,
oder [werden] geeignete kommunale Stellungen in Betracht kommen. Weiteres lässt
sich über die äußere Seite nicht sagen als nur dies: dass der Parteibeamte mit
dem Journalisten das Odium der »Deklassiertheit« trägt. »Lohnschreiber« dort –
»Lohnredner« hier, wird es leider immer, sei es noch so unausgesprochen, in die
Ohren klingen; wer dagegen innerlich wehrlos ist und sich selbst nicht die
richtige Antwort zu geben vermag, bleibe dieser Laufbahn fern, die in jedem
Falle neben schweren Versuchungen ein Weg ist, der fortwährende Enttäuschungen
bringen kann.
Was vermag sie nun an inneren Freuden zu bieten, und welche persönlichen
Vorbedingungen setzt sie bei dem voraus, der sich ihr zuwendet? Nun, sie
gewährt zunächst: Machtgefühl. Selbst in den formell bescheidenen Stellungen
vermag den Berufspolitiker das Bewusstsein von Einfluss auf Menschen, von
Teilnahme an der Macht über sie, vor allem aber: das Gefühl, einen Nervenstrang
historisch wichtigen Geschehens mit in Händen zu halten, über den Alltag hinauszuheben.
Aber die Frage ist nun für ihn: durch welche Qualitäten kann er hoffen, dieser
(sei es auch im Einzelfall noch so eng umschriebenen) Macht und also der
Verantwortung, die sie auf ihn legt, gerecht zu werden? Damit betreten wir das
Gebiet ethischer Fragen; denn dahin gehört die Frage: was für ein Mensch man
sein muss, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu
dürfen.
Eignungskriterien und Qualifikation des
Politikers
Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den
Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft im Sinn
von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine »Sache«, an den Gott oder
Dämon, der ihr Gebieter ist. Nicht im Sinne jenes inneren Gebarens, welches
mein verstorbener Freund GEORG SIMMEL als »sterile Aufgeregtheit« zu bezeichnen
pflegte, wie sie einem bestimmten Typus vor allem russischer Intellektueller
(nicht etwa: allen von ihnen!) eignete, und welches jetzt in diesem Karneval,
den man mit dem stolzen Namen einer »Revolution« schmückt, eine so große Rolle
auch bei unseren Intellektuellen spielt: eine ins Leere verlaufende »Romantik
des intellektuell Interessanten« ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl.
Denn mit der bloßen, als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich
nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst an einer
»Sache«, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum
entscheidenden Leitstern des Handelns macht. Und dazu bedarf es – und das ist die
entscheidende psychologische Qualität des Politikers – des Augenmaßes, der
Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu
lassen, also: der Distanz zu den Dingen und Menschen. »Distanzlosigkeit«, rein
als solche, ist eine der Todsünden jedes Politikers und eine jener Qualitäten,
deren Züchtung bei dem Nachwuchs unserer Intellektuellen sie zu politischer
Unfähigkeit verurteilen wird. Denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft
und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden
können? Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des
Körpers oder der Seele. Und doch kann die Hingabe an sie, wenn sie nicht ein
frivoles intellektuelles Spiel, sondern menschlich echtes Handeln sein soll,
nur aus Leidenschaft geboren und gespeist werden. Jene starke Bändigung der
Seele aber, die den leidenschaftlichen Politiker auszeichnet und ihn von den
bloßen »steril aufgeregten« politischen Dilettanten unterscheidet, ist nur
durch die Gewöhnung an Distanz – in jedem Sinn des Wortes – möglich. Die
»Stärke« einer politischen »Persönlichkeit« bedeutet in allererster Linie den
Besitz dieser Qualitäten.
Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker
täglich und stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die
Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der
Distanz sich selbst gegenüber.
Eitelkeit ist eine sehr verbreitete Eigenschaft, und vielleicht ist niemand
ganz frei davon. Und in akademischen und Gelehrtenkreisen ist sie eine Art von
Berufskrankheit. Aber gerade beim Gelehrten ist sie, so antipathisch sie sich
äußern mag, relativ harmlos in dem Sinn: dass sie in aller Regel den
wissenschaftlichen Betrieb nicht stört. Ganz anders beim Politiker. Er arbeitet
mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. »Machtinstinkt« – wie
man sich auszudrücken pflegt – gehört daher in der Tat zu seinen normalen
Qualitäten. – Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da,
wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher
Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der »Sache« zu
treten. Denn es gibt letztlich nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der
Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch –
Verantwortungslosigkeit. Die Eitelkeit: das Bedürfnis, selbst möglichst
sichtbar in den Vordergrund zu treten, führt den Politiker am stärksten in
Versuchung, eine von beiden, oder beide, zu begehen. Um so mehr, als der Demagoge
auf »Wirkung« zu rechnen gezwungen ist, – er ist eben deshalb stets in Gefahr,
sowohl zum Schauspieler zu werden, wie die Verantwortung für die Folgen seines
Tuns leicht zu nehmen und nur nach dem »Eindruck« zu fragen, den er macht.
Seine Unsachlichkeit legt ihm nahe, den glänzenden Schein der Macht statt der
wirklichen Macht zu erstreben, seine Verantwortungslosigkeit aber: die Macht
lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck, zu genießen. Denn
obwohl, oder vielmehr: gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel und
Machtstreben daher eine der treibenden Kräfte aller Politik ist, gibt es keine
verderblichere Verzerrung der politischen Kraft, als das parvenümäßige
Bramarbasieren mit Macht und die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der
Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht rein als solcher. Der bloße
»Machtpolitiker«, wie ihn ein auch bei uns eifrig betriebener Kult zu verklären
sucht, mag stark wirken, aber er wirkt in der Tat ins Leere und Sinnlose. Darin
haben die Kritiker der »Machtpolitik« vollkommen recht. An dem plötzlichen
inneren Zusammenbruch typischer Träger dieser Gesinnung haben wir erleben
können, welche innere Schwäche und Ohnmacht sich hinter dieser protzigen, aber
gänzlich leeren Geste verbirgt. Sie ist Produkt einer höchst dürftigen und
oberflächlichen Blasiertheit gegenüber dem Sinn menschlichen Handelns, welche
keinerlei Verwandtschaft hat mit dem Wissen um die Tragik, in die alles Tun,
zumal aber das politische Tun, in Wahrheit verflochten ist.
Es ist durchaus wahr und eine – jetzt hier nicht näher zu begründende –
Grundtatsache aller Geschichte, dass das schließliche Resultat politischen
Handelns oft, nein: geradezu regelmäßig, in völlig unadäquatem, oft in geradezu
paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht. Aber deshalb darf
dieser Sinn: der Dienst an einer Sache, doch nicht etwa fehlen, wenn anders das
Handeln inneren Halt haben soll. Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst
der Politiker Macht erstrebt und Macht verwendet, ist Glaubenssache. Er kann
nationalen oder menschheitlichen, sozialen und ethischen oder kulturlichen,
innerweltlichen oder religiösen Zielen dienen, er kann getragen sein von
starkem Glauben an den »Fortschritt« – gleichviel in welchem Sinn – oder aber
diese Art von Glauben kühl ablehnen, kann im Dienst einer »Idee« zu stehen
beanspruchen oder unter prinzipieller Ablehnung dieses Anspruches äußeren
Zielen des Alltagslebens dienen wollen, – immer muss irgendein Glaube da sein.
Sonst lastet in der Tat – das ist völlig richtig – der Fluch kreatürlicher
Nichtigkeit auch auf den äußerlich stärksten politischen Erfolgen.
Ethos der Politik als »Sache«
Mit dem Gesagten sind wir schon in der Erörterung des letzten uns heute
abend angehenden Problems begriffen: des Ethos der Politik als »Sache«.
Welchen Beruf kann sie selbst, ganz unabhängig von ihren Zielen, innerhalb der
sittlichen Gesamtökonomie der Lebensführung ausfüllen? Welches ist, sozusagen,
der ethische Ort, an dem sie beheimatet ist? Da stoßen nun freilich letzte
Weltanschauungen aufeinander, zwischen denen schließlich gewählt werden
muss. Gehen wir resolut an das neuerdings wieder – nach meiner Ansicht in recht
verkehrter Art – aufgerollte Problem heran.
Befreien wir es aber zunächst von einer ganz trivialen Verfälschung. Es kann
nämlich zunächst die Ethik auftreten in einer sittlich höchst fatalen Rolle.
Nehmen wir Beispiele. Sie werden selten finden, dass ein Mann, dessen Liebe
sich von einer Frau ab- und einer anderen zuwendet, nicht das Bedürfnis
empfindet, dies dadurch vor sich selbst zu legitimieren, dass er sagt: sie war
meiner Liebe nicht wert, oder sie hat mich enttäuscht, oder was dergleichen
»Gründe« mehr sind. Eine Unritterlichkeit, die zu dem schlichten Schicksal:
dass er sie nicht mehr liebt und dass die Frau das tragen muss, in tiefer
Unritterlichkeit sich eine »Legitimität« hinzudichtet, kraft deren er für sich
ein Recht in Anspruch nimmt und zu dem Unglück noch das Unrecht auf sie zu
wälzen trachtet. Ganz ebenso verfährt der erfolgreiche erotische Konkurrent:
der Gegner muss der wertlosere sein, sonst wäre er nicht unterlegen. Nichts
anderes ist es aber selbstverständlich, wenn nach irgendeinem siegreichen Krieg
der Sieger in würdeloser Rechthaberei beansprucht: ich siegte, denn ich hatte
recht. Oder, wenn jemand unter den Fürchterlichkeiten des Krieges seelisch
zusammenbricht und nun, anstatt schlicht zu sagen, es war eben zu viel, jetzt
das Bedürfnis empfindet, seine Kriegsmüdigkeit vor sich selbst zu legitimieren,
indem er die Empfindung substituiert: ich konnte das deshalb nicht ertragen,
weil ich für eine sittlich schlechte Sache fechten musste. Und ebenso bei dem
im Kriege Besiegten. Statt nach alter Weiber Art nach einem Kriege nach dem
»Schuldigen« zu suchen – wo doch die Struktur der Gesellschaft den Krieg
erzeugte –, wird jede männliche und herbe Haltung dem Feinde sagen: »Wir
verloren den Krieg, – ihr habt ihn gewonnen. Das ist nun erledigt: nun lasst
uns darüber reden, welche Konsequenzen zu ziehen sind entsprechend den sachlichen
Interessen, die im Spiel waren, und – die Hauptsache – angesichts der
Verantwortung vor der Zukunft, die vor allem den Sieger belastet.« Alles
andere ist würdelos und rächt sich. Verletzung ihrer Interessen verzeiht eine
Nation, nicht aber Verletzung ihrer Ehre, am wenigsten eine solche durch
pfäffische Rechthaberei. Jedes neue Dokument, das nach Jahrzehnten ans Licht
kommt, lässt das würdelose Gezeter, den Hass und Zorn wieder aufleben, statt
dass der Krieg mit seinem Ende wenigstens sittlich begraben würde. Das
ist nur durch Sachlichkeit und Ritterlichkeit, vor allem nur: durch Würde möglich.
Nie aber durch eine »Ethik«, die in Wahrheit eine Würdelosigkeit beider Seiten
bedeutet. Anstatt sich um das zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft
und die Verantwortung vor ihr, befasst sie sich mit politisch sterilen, weil
unaustragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit. Dies zu tun, ist
politische Schuld, wenn es irgendeine gibt. Und dabei wird überdies die
unvermeidliche Verfälschung des ganzen Problems durch sehr materielle
Interessen übersehen: Interessen des Siegers am höchstmöglichen Gewinn –
moralischen und materiellen –, Hoffnungen des Besiegten darauf, durch
Schuldbekenntnisse Vorteile einzuhandeln: wenn es irgend etwas gibt, was »gemein
« ist, dann dies, und das ist die Folge dieser Art von Benutzung der
»Ethik« als Mittel des » Rechthabens«.
Wie steht es denn aber mit der wirklichen Beziehung zwischen Ethik und
Politik? Haben sie, wie man gelegentlich gesagt hat, gar nichts miteinander
zu tun? Oder ist es umgekehrt richtig, dass »dieselbe« Ethik für das politische
Handeln wie für jedes andere gelte? Man hat zuweilen geglaubt, zwischen diesen
beiden Behauptungen bestehe eine ausschließliche Alternative: entweder die eine
oder die andere sei richtig. Aber ist es denn wahr: dass für erotische und
geschäftliche, familiäre und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zu
Ehefrau, Gemüsefrau, Sohn, Konkurrenten, Freund, Angeklagten die inhaltlich gleichen
Gebote von irgendeiner Ethik der Welt aufgestellt werden könnten? Sollte es
wirklich für die ethischen Anforderungen an die Politik so gleichgültig sein,
dass diese mit einem sehr spezifischen Mittel: Macht, hinter der Gewaltsamkeit
steht, arbeitet? Sehen wir nicht, dass die bolschewistischen und
spartakistischen Ideologen, eben weil sie dieses Mittel der Politik anwenden,
genau die gleichen Resultate herbeiführen wie irgendein militaristischer
Diktator? Wodurch als eben durch die Person der Gewalthaber und ihren
Dilettantismus unterscheidet sich die Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte
von der eines beliebigen Machthabers des alten Regimes? Wodurch die Polemik der
meisten Vertreter der vermeintlich neuen Ethik selbst gegen die von ihnen
kritisierten Gegner von der irgendwelcher anderer Demagogen? Durch die edle Absicht!,
wird gesagt werden. Gut. Aber das Mittel ist es, wovon hier die Rede ist, und
den Adel ihrer letzten Absichten nehmen die befehdeten Gegner mit voller
subjektiver Ehrlichkeit ganz ebenso für sich in Anspruch. »Wer zum Schwert
greift, wird durch das Schwert umkommen«, und Kampf ist überall Kampf. Also: –
die Ethik der Bergpredigt? Mit der Bergpredigt – gemeint ist: die
absolute Ethik des Evangeliums – ist es eine ernstere Sache, als die glauben,
die diese Gebote heute gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr
gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein
Fiaker, den man beliebig halten lassen kann, um nach Befinden ein- und
auszusteigen. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr
Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll. Also z.B. der
reiche Jüngling: »Er aber ging traurig davon, denn er hatte viele Güter.« Das
evangelische Gebot ist unbedingt und eindeutig: gib her, was du hast – alles,
schlechthin. Der Politiker wird sagen: eine sozial sinnlose Zumutung,
solange es nicht für alle durchgesetzt wird. Also: Besteuerung,
Wegsteuerung, Konfiskation, – mit einem Wort: Zwang und Ordnung gegen alle. Das
ethische Gebot aber fragt danach gar nicht, das ist sein Wesen. Oder:
»Halte den anderen Backen hin!« Unbedingt, ohne zu fragen, wieso es dem anderen
zukommt, zu schlagen. Eine Ethik der Würdelosigkeit – außer: für einen
Heiligen. Das ist es: man muss ein Heiliger sein in allem, zum mindesten
dem Wollen nach, muss leben wie JESUS, die Apostel, der heilige FRANZ und
seinesgleichen, dann ist diese Ethik sinnvoll und Ausdruck einer Würde. Sonst
nicht. Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heißt:
»dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt«, – so gilt für den Politiker umgekehrt
der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für
seine Überhandnahme verantwortlich. Wer nach der Ethik des Evangeliums
handeln will, der enthalte sich der Streiks – denn sie sind: Zwang – und gehe
in die gelben Gewerkschaften. Er rede aber vor allen Dingen nicht von
»Revolution«. Denn jene Ethik will doch wohl nicht lehren: dass gerade der
Bürgerkrieg der einzig legitime Krieg sei. Der nach dem Evangelium handelnde
Pazifist wird die Waffen ablehnen oder fortwerfen, wie es in Deutschland empfohlen
wurde, als ethische Pflicht, um dem Krieg und damit: jedem Krieg, ein Ende zu
machen. Der Politiker wird sagen: das einzig sichere Mittel, den Krieg für alle
absehbare Zeit zu diskreditieren, wäre ein Statusquo-Friede gewesen.
Dann hätten sich die Völker gefragt: wozu war der Krieg? Er wäre ad absurdum
geführt gewesen, – was jetzt nicht möglich ist. Denn für die Sieger –
mindestens für einen Teil von ihnen – wird er sich politisch rentiert haben.
Und dafür ist jenes Verhalten verantwortlich, das uns jeden Widerstand
unmöglich machte. Nun wird – wenn die Ermattungsepoche vorbei sein wird – der
Frieden diskreditiert sein, nicht der Krieg: eine Folge der absoluten
Ethik.
Endlich: die Wahrheitspflicht. Sie ist für die absolute Ethik unbedingt.
Also, hat man gefolgert: Publikation aller, vor allem der das eigene Land
belastenden Dokumente und auf Grund dieser einseitigen Publikation:
Schuldbekenntnis, einseitig, bedingungslos, ohne Rücksicht auf die Folgen. Der
Politiker wird finden, dass im Erfolg dadurch die Wahrheit nicht gefördert,
sondern durch Missbrauch und Entfesselung von Leidenschaft sicher verdunkelt
wird; dass nur eine allseitige planmäßige Feststellung durch Unparteiische
Frucht bringen könnte, jedes andere Vorgehen für die Nation, die derartig
verfährt, Folgen haben kann, die in Jahrzehnten nicht wieder gutzumachen sind.
Aber nach »Folgen« fragt eben die absolute Ethik nicht.
»Gesinnungsethik« versus
»Verantwortungsethik«
Da liegt der entscheidende Punkt. Wir müssen uns klarmachen, dass alles
ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen,
unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann »gesinnungsethisch«
oder »verantwortungsethisch« orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit
Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit
identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer
Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös
geredet: »Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim« –, oder unter
der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines
Handelns aufzukommen hat. Sie mögen einem überzeugten gesinnungsethischen
Syndikalisten noch so überzeugend darlegen: dass die Folgen seines Tuns die
Steigerung der Chancen der Reaktion, gesteigerte Bedrückung seiner Klasse,
Hemmung ihres Aufstiegs sein werden, – und es wird auf ihn gar keinen Eindruck
machen. Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble
sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich,
die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie so
schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen
durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie FICHTE richtig gesagt
hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich
nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte,
auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun
zugerechnet. »Verantwortlich« fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass
die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z.B. des Protestes gegen die
Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen,
ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen
Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen.
Aber auch damit ist das Problem noch nicht zu Ende. Keine Ethik der Welt
kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung »guter« Zwecke in zahlreichen
Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens
gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler
Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann
und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel
und Nebenerfolge »heiligt«.
Für die Politik ist das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit, und wie
groß die Tragweite der Spannung zwischen Mittel und Zweck, ethisch angesehen,
ist, mögen Sie daraus entnehmen, dass, wie jedermann weiß, sich die
revolutionären Sozialisten (Zimmerwalder Richtung) schon während des Krieges9
zu dem Prinzip bekannten, welches man dahin prägnant formulieren könnte: »Wenn
wir vor der Wahl stehen, entweder noch einige Jahre Krieg und dann Revolution
oder jetzt Friede und keine Revolution, so wählen wir: noch einige Jahre
Krieg!« Auf die weitere Frage: »Was kann diese Revolution mit sich bringen?«,
würde jeder wissenschaftlich geschulte Sozialist geantwortet haben: dass von
einem Übergang zu einer Wirtschaft, die man sozialistisch nennen könne in seinem
Sinne, keine Rede sei, sondern dass eben wieder eine Bourgeoisiewirtschaft
entstehen würde, die nur die feudalen Elemente und dynastischen Reste
abgestreift haben könnte. – Für dies bescheidene Resultat also: »noch einige
Jahre Krieg«! Man wird doch wohl sagen dürfen, dass man hier auch bei sehr
handfest sozialistischer Überzeugung den Zweck ablehnen könne, der derartige
Mittel erfordert. Beim Bolschewismus und Spartakismus, überhaupt bei jeder Art
von revolutionärem Sozialismus, liegt aber die Sache genau ebenso, und es ist
natürlich höchst lächerlich, wenn von dieser Seite die »Gewaltpolitiker« des
alten Regimes wegen der Anwendung des gleichen Mittels sittlich verworfen
werden, – so durchaus berechtigt die Ablehnung ihrer Ziele sein mag.
Hier, an diesem Problem der Heiligung der Mittel durch den Zweck, scheint
nun auch die Gesinnungsethik überhaupt scheitern zu müssen. Und in der Tat hat
sie logischerweise nur die Möglichkeit: jedes Handeln, welches sittlich
gefährliche Mittel anwendet, zu verwerfen. Logischerweise. In der Welt
der Realitäten machen wir freilich stets erneut die Erfahrung, dass der
Gesinnungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, dass
z.B. diejenigen, die soeben »Liebe gegen Gewalt« gepredigt haben, im nächsten
Augenblick zur Gewalt aufrufen, – zur letzten Gewalt, die dann den
Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde, – [ebenso]
wie unsere Militärs den Soldaten bei jeder Offensive sagten: es sei die letzte,
sie werde den Sieg und dann den Frieden bringen. Der Gesinnungsethiker erträgt
die ethische Irrationalität der Welt nicht. Er ist kosmischethischer
»Rationalist«. Sie erinnern sich, jeder von Ihnen, der DOSTOJEWSKIJ kennt, der
Szene mit dem Großinquisitor, wo das Problem treffend auseinandergelegt ist. Es
ist nicht möglich, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu
bringen oder ethisch zu dekretieren: welcher Zweck welches Mittel
heiligen solle, wenn man diesem Prinzip überhaupt irgendwelche Konzessionen
macht.
Religiöse Ethik und Politik
Der von mir der zweifellosen Lauterkeit seiner Gesinnung nach persönlich
hochgeschätzte, als Politiker freilich unbedingt abgelehnte Kollege F. W.
FOERSTER glaubt, in seinem Buch um die Schwierigkeit herumzukommen durch die
einfache These: aus Gutem kann nur Gutes, aus Bösem nur Böses folgen. Dann
existierte freilich diese ganze Problematik nicht. Aber es ist doch
erstaunlich, dass 2500 Jahre nach den Upanishaden eine solche These noch das
Licht der Welt erblicken konnte. Nicht nur der ganze Verlauf der
Weltgeschichte, sondern jede rückhaltlose Prüfung der Alltagserfahrung sagt ja
das Gegenteil. Die Entwicklung aller Religionen der Erde beruht ja darauf, dass
das Gegenteil wahr ist. Das uralte Problem der Theodizee ist ja die Frage: Wie
kommt es, dass eine Macht, die als zugleich allmächtig und gütig hingestellt
wird, eine derartig irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften
Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit hat erschaffen können? Entweder ist
sie das eine nicht oder das andere nicht, oder es regieren gänzlich andere
Ausgleichs- und Vergeltungsprinzipien das Leben, solche, die wir metaphysisch
deuten können, oder auch solche, die unserer Deutung für immer entzogen sind.
Dies Problem: die Erfahrung von der Irrationalität der Welt war ja die
treibende Kraft aller Religionsentwicklung. Die indische Karmanlehre und der
persische Dualismus, die Erbsünde, die Prädestination und der Deus absconditus
sind alle aus dieser Erfahrung herausgewachsen. Auch die alten Christen wussten
sehr genau, dass die Welt von Dämonen regiert sei, und dass, wer mit der
Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einlässt, mit
diabolischen Mächten einen Pakt schließt, und dass für sein Handeln es nicht
wahr ist: dass aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne,
sondern oft das Gegenteil. Wer das nicht sieht, ist in der Tat politisch ein
Kind.
Die religiöse Ethik hat sich mit der Tatsache, dass wir in verschiedene, untereinander
verschiedenen Gesetzen unterstehende Lebensordnungen hineingestellt sind,
verschieden abgefunden. Der hellenische Polytheismus opferte der Aphrodite
ebenso wie der Hera, dem Dionysos wie dem Apollon und wusste: sie lagen
untereinander nicht selten im Streit. – Die hinduistische Lebensordnung machte
jeden der verschiedenen Berufe zum Gegenstand eines besonderen ethischen
Gesetzes, eines Dharma, und schied sie kastenmäßig für immer voneinander,
stellte sie dabei in eine feste Ranghierarchie, aus der es für den hierin
Geborenen kein Entrinnen gab, außer in der Wiedergeburt im nächsten Leben, und
stellte sie dadurch in verschieden große Distanz zu den höchsten religiösen
Heilsgütern. So war es ihr möglich, das Dharma jeder einzelnen Kaste, von den Asketen
und Brahmanen bis zu den Spitzbuben und Dirnen, den immanenten
Eigengesetzlichkeiten des Berufs entsprechend auszubauen. Darunter auch Krieg
und Politik. Die Einordnung des Krieges in die Gesamtheit der Lebensordnungen
finden Sie vollzogen im Bhagavadgîtâ, in der Unterredung zwischen KRISHNA und
ARJUNA. »Tue das notwendige« – das heißt das nach dem Dharma der Kriegerkaste
und ihren Regeln pflichtmäßige, dem Kriegszweck entsprechend sachlich
notwendige – »Werk«: das schädigt das religiöse Heil nach diesem Glauben nicht,
sondern dient ihm. INDRAS Himmel war dem indischen Krieger beim Heldentod von
jeher ebenso sicher wie Walhall dem Germanen. Nirvâna aber hätte jener ebenso
verschmäht, wie dieser das christliche Paradies mit seinen Engelchören. Diese Spezialisierung
der Ethik ermöglichte der indischen Ethik eine gänzlich ungebrochene, nur den
Eigengesetzen der Politik folgende, ja diese radikal steigernde Behandlung
dieser königlichen Kunst. Der wirklich radikale »Macchiavellismus« im populären
Sinn dieses Wortes ist in der indischen Literatur im Arthashâstra des KAUTILYA
(lange vorchristlich, angeblich aus CHANDRAGUPTAS Zeit) klassisch vertreten;
dagegen ist MACCHIAVELLIS »Principe« harmlos. – In der katholischen Ethik, der
Professor FOERSTER sonst nahesteht, sind bekanntlich die »consilia evangelica«
eine Sonderethik für die mit dem Charisma des heiligen Lebens Begabten. Da
steht neben dem Mönch, der kein Blut vergießen und keinen Erwerb suchen darf,
der fromme Ritter und Bürger, die, der eine dies, der andere jenes, dürfen. Die
Abstufung der Ethik und ihre Einfügung in einen Organismus der Heilslehre ist
minder konsequent als in Indien, musste und durfte dies auch nach den
christlichen Glaubensvoraussetzungen sein. Die erbsündliche Verderbtheit der Welt
gestattete eine Einfügung der Gewaltsamkeit in die Ethik als Zuchtmittel gegen
die Sünde und die seelengefährdenden Ketzer relativ leicht. – Die rein
gesinnungsethischen, akosmistischen Forderungen der Bergpredigt aber und das
darauf ruhende religiöse Naturrecht als absolute Forderung behielten ihre
revolutionierende Gewalt und traten in fast allen Zeiten sozialer Erschütterung
mit elementarer Wucht auf den Plan. Sie schufen insbesondere die radikal-
pazifistischen Sekten, deren eine in Pennsylvanien das Experiment eines nach
außen gewaltlosen Staatswesens machte, – tragisch in seinem Verlauf insofern,
als die Quäker, als der Unabhängigkeitskrieg ausbrach, für ihre Ideale, die er
vertrat, nicht mit der Waffe eintreten konnten. – Der normale Protestantismus dagegen
legitimierte den Staat, also: das Mittel der Gewaltsamkeit, als göttliche
Einrichtung absolut und den legitimen Obrigkeitsstaat insbesondere. Die
ethische Verantwortung für den Krieg nahm LUTHER dem Einzelnen ab und wälzte
sie auf die Obrigkeit, der zu gehorchen in anderen Dingen als Glaubenssachen
niemals schuldhaft sein konnte. – Der Kalvinismus wieder kannte prinzipiell die
Gewalt als Mittel der Glaubensverteidigung, also den Glaubenskrieg, der im
Islâm von Anfang an Lebenselement war. – Man sieht: es ist durchaus nicht moderner,
aus dem Heroenkult der Renaissance geborener Unglaube, der das Problem der
politischen Ethik aufwirft. Alle Religionen haben damit gerungen, mit höchst
verschiedenem Erfolg, – und nach dem Gesagten konnte es auch nicht anders sein.
Das spezifische Mittel der legitimen Gewaltsamkeit rein als solches in
der Hand menschlicher Verbände ist es, was die Besonderheit aller ethischen
Probleme der Politik bedingt.
Wer immer mit diesem Mittel paktiert, zu welchen Zwecken immer – und jeder
Politiker tut das -, der ist seinen spezifischen Konsequenzen ausgeliefert. In
besonders hohem Maß ist es der Glaubenskämpfer, der religiöse wie der
revolutionäre. Nehmen wir getrost die Gegenwart als Beispiel an. Wer die
absolute Gerechtigkeit auf Erden mit Gewalt herstellen will, der bedarf
dazu der Gefolgschaft: des menschlichen » Apparates«. Diesem muss er die
nötigen inneren und äußeren Prämien – himmlischen oder irdischen Lohn – in
Aussicht stellen, sonst funktioniert er nicht. Also innere: unter der Bedingung
des modernen Klassenkampfes, Befriedigung des Hasses und der Rachsucht, vor
allem: des Ressentiments und des Bedürfnisses nach pseudo-ethischer
Rechthaberei, also des Verlästerungs- und Verketzerungsbedürfnisses gegen die
Gegner. Äußere: Abenteuer, Sieg, Beute, Macht und Pfründen. Von dem
Funktionieren dieses seines Apparates ist der Führer in seinem Erfolg völlig
abhängig. Daher auch von dessen – nicht: von seinen eigenen – Motiven.
Davon also, dass der Gefolgschaft: der roten Garde, den Spitzeln, den
Agitatoren, deren er bedarf, jene Prämien dauernd gewährt werden können.
Was er unter solchen Bedingungen seines Wirkens tatsächlich erreicht, steht
daher nicht in seiner Hand, sondern ist ihm vorgeschrieben durch jene ethisch
überwiegend gemeinen Motive des Handelns seiner Gefolgschaft, die nur im Zaum
gehalten werden, solange ehrlicher Glaube an seine Person und seine Sache
wenigstens einen Teil der Genossenschaft: wohl nie auf Erden auch nur die
Mehrzahl, beseelt. Aber nicht nur ist dieser Glaube, auch wo er subjektiv
ehrlich ist, in einem sehr großen Teil der Fälle in Wahrheit nur die ethische
»Legitimierung« der Rache-, Macht-, Beute- und Pfründensucht: – darüber lassen
wir uns nichts vorreden, denn die materialistische Geschichtsdeutung ist auch
kein beliebig zu besteigender Fiaker und macht vor den Trägern von Revolutionen
nicht halt! –, sondern vor allem: der traditionalistische Alltag kommt
nach der emotionalen Revolution, der Glaubensheld und vor allem der Glaube
selbst schwindet oder wird – was noch wirksamer ist – Bestandteil der
konventionellen Phrase der politischen Banausen und Techniker. Diese
Entwicklung vollzieht sich gerade beim Glaubenskampf besonders schnell, weil er
von echten Führern: Propheten der Revolution, geleitet oder inspiriert
zu werden pflegt. Denn wie bei jedem Führerapparat, so auch hier, ist die
Entleerung und Versachlichung, die seelische Proletarisierung im Interesse der
»Disziplin«, eine der Bedingungen des Erfolges. Die herrschend gewordene
Gefolgschaft eines Glaubenskämpfers pflegt daher besonders leicht in eine ganz
gewöhnliche Pfründnerschicht zu entarten.
Schluß: Realpolitik
Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat
sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm
selbst unter ihrem Druck werden kann, bewusst zu sein. Er lässt sich, ich
wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit
lauem. Die großen Virtuosen der akosmistischen Menschenliebe und Güte, mochten
sie aus Nazareth oder aus Assisi oder aus indischen Königsschlössern stammen,
haben nicht mit dem politischen Mittel: der Gewalt, gearbeitet, ihr Reich war
»nicht von dieser Welt«, und doch wirkten und wirken sie in dieser Welt, und
die Figuren des PLATON KARATAJEW und der DOSTOJEWSKIJschen Heiligen sind immer
noch ihre adäquatesten Nachkonstruktionen. Wer das Heil seiner Seele und die
Rettung anderer Seelen sucht, der sucht das nicht auf dem Wege der Politik, die
ganz andere Aufgaben hat: solche, die nur mit Gewalt zu lösen sind. Der Genius,
oder Dämon, der Politik lebt mit dem Gott der Liebe, auch mit dem Christengott
in seiner kirchlichen Ausprägung, in einer inneren Spannung, die jederzeit in
unaustragbarem Konflikt ausbrechen kann. Das wussten die Menschen auch in den
Zeiten der Kirchenherrschaft. Wieder und wieder lag das Interdikt – und das
bedeutete damals eine für die Menschen und ihr Seelenheil weit massivere Macht
als die (mit FICHTE zu reden) »kalte Billigung« des kantianischen ethischen
Urteils – auf Florenz, die Bürger aber fochten gegen den Kirchenstaat. Und mit
Bezug auf solche Situationen lässt MACCHIAVELLI an einer schönen Stelle, irre
ich nicht: der Florentiner Geschichten, einen seiner Helden jene Bürger
preisen, denen die Größe der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele.
Wenn Sie statt Vaterstadt oder »Vaterland«, was ja zur Zeit nicht jedem ein
eindeutiger Wert sein mag, sagen: »die Zukunft des Sozialismus« oder auch der
»internationalen Befriedung«, – dann haben Sie das Problem in der Art, wie es
jetzt liegt. Denn das alles, erstrebt durch politisches Handeln, welches
mit gewaltsamen Mitteln und auf dem Wege der Verantwortungsethik arbeitet,
gefährdet das »Heil der Seele«. Wenn ihm aber mit reiner Gesinnungsethik im
Glaubenskampf nachgejagt wird, dann kann es Schaden leiden und diskreditiert
werden auf Generationen hinaus, weil die Verantwortung für die Folgen fehlt.
Denn dann bleiben dem Handelnden jene diabolischen Mächte, die im Spiel sind,
unbewusst. Sie sind unerbittlich und schaffen Konsequenzen für sein Handeln,
auch für ihn selbst innerlich, denen er hilflos preisgegeben ist, wenn er sie
nicht sieht. »Der Teufel, der ist alt.« Und nicht die Jahre, nicht das
Lebensalter ist bei dem Satz gemeint: »so werdet alt, ihn zu ver- stehen«. Mit
dem Datum des Geburtsscheines bei Diskussionen überstochen zu werden, habe auch
ich mir nie gefallen lassen; aber die bloße Tatsache, dass einer 20 Jahre zählt
und ich über 50 bin, kann mich schließlich auch nicht veranlassen zu meinen,
das allein wäre eine Leistung, vor der ich in Ehrfurcht ersterbe. Nicht das
Alter macht es. Aber allerdings: die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes
in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen
innerlich gewachsen zu sein.
Wahrlich: Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiss nicht nur mit
dem Kopf gemacht. Darin haben die Gesinnungsethiker durchaus recht. Ob man aber
als Gesinnungsethiker oder als Verantwortungsethiker handeln soll, und
wann das eine und das andere, darüber kann man niemandem Vorschriften machen.
Nur eins kann man sagen: wenn jetzt in diesen Zeiten einer, wie Sie glauben, nicht
»sterilen« Aufgeregtheit – aber Aufgeregtheit ist eben doch und durchaus
nicht immer echte Leidenschaft –, wenn da plötzlich die Gesinnungspolitiker
massenhaft in das Kraut schießen mit der Parole: »Die Welt ist dumm und gemein,
nicht ich; die Verantwortung für die Folgen trifft nicht mich, sondern die
anderen, in deren Dienst ich arbeite, und deren Dummheit oder Gemeinheit ich
ausrotten werde«, so sage ich offen: dass ich zunächst einmal nach dem Maße des
inneren Schwergewichts frage, das hinter dieser Gesinnungsethik steht, und
den Eindruck habe: dass ich es in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun
habe, die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an
romantischen Sensationen berauschen. Das interessiert mich menschlich nicht
sehr und erschüttert mich ganz und gar nicht. Während es unermesslich
erschütternd ist, wenn ein reifer Mensch – einerlei ob alt oder jung an
Jahren –, der diese Verantwortung für die Folgen real und mit voller Seele
empfindet und verantwortungsethisch handelt, an irgendeinem Punkte sagt: »Ich
kann nicht anders, hier stehe ich.« Das ist etwas, was menschlich echt ist und
ergreift. Denn diese Lage muss freilich für jeden von uns, der nicht
innerlich tot ist, irgendwann eintreten können. Insofern sind
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern
Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den
»Beruf zur Politik« haben kann.
Und nun, verehrte Anwesende, wollen wir uns nach zehn Jahren über
diesen Punkt einmal wieder sprechen. Wenn dann, wie ich leider befürchten muss,
aus einer ganzen Reihe von Gründen, die Zeit der Reaktion längst hereingebrochen
und von dem, was gewiss viele von Ihnen und, wie ich offen gestehe, auch ich
gewünscht und gehofft haben, wenig, vielleicht nicht gerade nichts, aber
wenigstens dem Scheine nach wenig in Erfüllung gegangen ist – das ist sehr
wahrscheinlich, es wird mich nicht zerbrechen, aber es ist freilich eine
innerliche Belastung, das zu wissen –, dann wünschte ich wohl zu sehen, was aus
denjenigen von Ihnen, die jetzt sich als echte »Gesinnungspolitiker« fühlen und
an dem Rausch teilnehmen, den diese Revolution bedeutet, – was aus denen im
inneren Sinne des Wortes »geworden« ist. Es wäre ja schön, wenn die Sache so
wäre, dass dann SHAKESPEARES 102. Sonett gelten würde: Damals war Lenz und
unsere Liebe grün, Da grüßt' ich täglich sie mit meinem Sang, So schlägt die
Nachtigall in Sommers Blühn – Und schweigt den Ton in reifrer Tage Gang. Aber
so ist die Sache nicht. Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern
zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte, mag äußerlich jetzt
siegen welche Gruppe auch immer. Denn: wo nichts ist, da hat nicht nur der
Kaiser, sondern auch der Proletarier sein Recht verloren. Wenn diese Nacht
langsam weichen wird, wer wird dann von denen noch leben, deren Lenz jetzt
scheinbar so üppig geblüht hat? Und was wird aus Ihnen allen dann innerlich
geworden sein? Verbitterung oder Banausentum, einfaches stumpfes Hinnehmen der
Welt und des Berufes oder, das dritte und nicht Seltenste: mystische Weltflucht
bei denen, welche die Gabe dafür haben, oder – oft und übel – sie als Mode sich
anquälen? In jedem solchen Fall werde ich die Konsequenz ziehen: die sind ihrem
eigenen Tun nicht gewachsen auch der Welt, so wie sie wirklich ist, und
ihrem Alltag: sie haben den Beruf zur Politik, den sie für sich in sich
glaubten, objektiv und tatsächlich im innerlichsten Sinn nicht gehabt. Sie
hätten besser getan, die Brüderlichkeit schlicht und einfach von Mensch zu
Mensch zu pflegen und im übrigen rein sachlich an ihres Tages Arbeit zu wirken.
Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit
Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Es ist ja durchaus richtig, und alle
geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass man das Mögliche nicht erreichte,
wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre.
Aber der, der das tun kann, muss ein Führer und nicht nur das, sondern auch –
in einem sehr schlichten Wortsinn – ein Held sein. Und auch die, welche beides
nicht sind, müssen sich wappnen mit jener Festigkeit des Herzens, die auch dem
Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist, jetzt schon, sonst werden sie nicht
imstande sein, auch nur durchzusetzen, was heute möglich ist. Nur wer sicher
ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus
gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er
all dem gegenüber: »dennoch!« zu sagen vermag, nur der hat den »Beruf« zur
Politik.
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