Erschienen in Ausgabe: No 69 (11/11) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Rainer Westphal
Zu
Beginn der siebziger Jahre geriet diese Lehre unter dem Kürzel „Stamokap“
wieder in die Diskussion der SPD. Hans Ulrich Klose, ehemals Erster
Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, stellte eine typische
Stamokap-Behauptung auf, als er in einem Interview erklärte, dass „wir (der
Staat) uns ziemlich handfest als Reparaturbetrieb des Kapitalismus betätigen“.
Die
Finanzkrise, welche mit dem Scheitern des Neoliberalismus als solches in Verbindung
gebracht werden kann, zwingt förmlich dazu, sich mit der Stamokap-These und den
Erkenntnissen von Rudolf Hilferding wieder intensiv zu befassen.
Stamokap
beschreibt die - angeblich - letzte, „absterbende“ Phase des Kapitalismus, in
der die privaten Unternehmer von den anonymen Großkapitalisten (Aktionären)
verdrängt, die Konkurrenz von marktbeherrschenden Monopolen und Kartellen
abgelöst werden, und die wirtschaftliche Macht der Banken zunimmt. Auf dieser
Stufe können die Interessen der großen Industrie- und Geldpools mit denen des
Staates zusammenpassen, welche in einer imperialistischen Politik der Staaten
seine Bestätigung fand. Die Eroberung anderer Länder war Sache des Staates, die
Ausbeutung dieser dann der Konzerne.
Die
Lehre vom Stamokap geht auf Lenin zurück, und wurde von Rudolf Hilferding in
dem Buch, das 1910 erschien, mit dem Titel „Das Finanzkapital“ eindringlich
beschrieben. Kautzky, einer der größten marxistischen Theoretiker, schrieb
damals: Was
Karl Marx nicht exakt vorhersehen konnte - nämlich den Strukturwandel des
Kapitalismus um die Jahrhundertwende -, hat Hilferding in meisterhafter Weise
dargestellt. Der Übergang von Einzelunternehmungen der Privatkapitalisten zu
anonymen Aktiengesellschaften, der Bildung von Trusts und Kartelle, die
Entstehung der Monopole, die wachsende Herrschaft der Banken über die
Wirtschaft, die zunehmende Solidarisierung der besitzenden Klassen, der
Industriellen, Großgrundbesitzer zu einer großen reaktionären Masse, der
Einfluss dieser Masse auf große Teile der Angestelltenschaft - des sog.
„Stehkragenproletariats“-, alle diese Erscheinungen seien im „Finanzkapital“
untersucht worden. Es ist festzustellen, daß diese Lehre im geradezu
atemberaubenden und beklemmenden Maße wieder an Aktualität gewonnen hat.
Rudolf
Hilferding wurde am 10. August 1877 in Wien geboren und studierte zunächst
Medizin. Dem „Sozialistischen Studentenbund“ trat er mit fünfzehn Jahren bei.
Seine linke Gesinnung fußte zunächst weniger auf Einsicht, sondern war vielmehr
eine Reaktion auf das politische Klima im damaligen Österreich. Hilferding floh
im zweiten Weltkrieg vor den Schergen Hitlers in den unbesetzten Teil
Frankreichs. Unter Missachtung des Asylrechts wurde er dort mit seinem Freund,
Rudolf Breitscheid, festgenommen und der Gestapo in Paris übergeben. Rudolf
Hilferding kam bereits dort um, während Breitscheid 1944 im KZ Buchenwald
getötet wurde.
Hilferding
gehörte in Österreich einem Kreis von Intellektuellen an, die später unter dem
Namen „Austromarxisten“ bekannt wurden. Ziel dieser Schule war es, das Erbe von
Marx schöpferisch weiterzuentwickeln, also Marxens philosophische und
ökonomische Theorie zu modernisieren und von Gedankenfehlern zu befreien. Was
damit gemeint ist, lässt sich gut an einem Beispiel aus dem Bereich Ethik
erklären.
Marx
prophezeite, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen
und vom Sozialismus abgelöst werden würde. Hierbei bleibt unbewiesen, ob der
Sozialismus ein für alle Menschen erstrebenswertes Gesellschaftssystem verkörpert.
Um dieses festzustellen, bedarf es sittlicher und nicht historischer
Überlegungen.
An
diesem Punkt führten Austromarxisten Immanuel Kant (1724-1804) in die
Diskussion ein. Er hatte eine Moralphilosophie verfasst, die im berühmten
„Kategorischen Imperativ“ gipfelt. „Handle so, dass die Maxime (Grundsatz)
deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könnte. Dieser Satz dürfte zeitlos und universal sein. Er beschreibt die
Bedingung, nach der sich jede Gesellschaft ohne Wenn und Aber zu richten hat.
Hieraus
ist die Frage abzuleiten, ob die bürgerliche Wirtschaft, in der (laut Marx)
einige Kapitalisten auf Kosten vieler Arbeiter immer reicher werden, vor diesem
„Imperativ“ bestehen? Wenn die Maxime eines einzelnen Menschen (Kapitalist)
lautet, ich will von der Arbeit anderer Menschen profitieren, so liefe der
Grundsatz darauf hinaus, dass sich jeder an jedem bereichern soll, und zwar im
gleichen Umfang. Ein solches Gesetz kann aber nicht gültig sein, weil sich die
daraus folgenden Handlungen gegenseitig aufheben würden.
Bereicherung
funktioniert mithin nur, wenn es Menschen gibt, die sich zu Lasten anderer
bereichern, und solche, die sich nicht an anderen bereichern, aber es zulassen,
dass man sich an ihnen bereichert. Aus diesem Grunde waren auch die Kant-Jünger
der Auffassung, dass der Kapitalismus mit dem „Kategorischen Imperativ“
unvereinbar sei, und der Sozialismus die bessere Wirtschafts- bzw.
Gesellschaftsform wäre. Um den Sozialismus willkommen zu heißen, brauche man
folglich gar kein klassenbewußter Arbeiter zu sein, sondern es reiche schon,
wenn man sich als Mensch einer universalen Moral verpflicht fühlt.
Aufgrund
der eingetretenen Finanzkrise werden verblüffende Zusammenhänge aus den
vorangegangenen Ausführungen erkennbar. Politisch stellt sich die Frage, wie
lange sich noch Menschen in dieser Form von anderen ausbeuten lassen. Es
scheint naheliegend, dass irgendwann wohl eine gewisse Grenze der
Erträglichkeit für die ausgebeuteten Menschen erreicht sein wird. Dieses
dürften gewisse Politiker bereits erkannt haben. Deren Propaganda und merkwürdige
Medienaktivitäten geben hierfür ein beredtes Zeugnis. Man besteht
offensichtlich u.a. eine panische Furcht davor, dass sich breite Schichten der
Bevölkerung solidarisieren und für eine Abschaffung des kapitalistischen
Systems eintreten.
Literaturhinweis:
Stern-Buch, Paul-Heinz Koesters, Ökonomen verändern die Welt.
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