Erschienen in Ausgabe: No 60 (2/2011) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Bernhard Vogel
Herr Prof. Dr. Vogel,
wie sehen Sie derzeit als Politiker den Stand Ihrer Partei?
Im Augenblick mit einer gewissen Gelassenheit, weil sie im
Gegensatz zur Konkurrenz relativ eindeutig ihren Standort gefunden hat und von
diesem her Politik betreibt. Dies kann sich jedoch morgen auch wieder ändern.
Warum sind Ihrer
Meinung nach 2010 so viele Ministerpräsidenten aus dem Amt zurückgetreten und
auf lukrative Wirtschaftsposten gewechselt? Ist etwas dran an der Null-Bock-CDU?
Nein, das ist ein Zusammentreffen völlig unterschiedlicher
Gründe und Anlässe gewesen. Und hier muß man sich von einem zu raschen Urteil
hüten. In einem Fall hat ein Ministerpräsident die Wahl verloren und daraus verständlicherweise
die Konsequenz gezogen. In einem anderen Fall hat ein Ministerpräsident
erkannt, daß er nicht mehr der geeignete Spitzenkandidat für die nächste
Landtagswahl sein würde und daraus die Konsequenz gezogen. In einem dritten
Fall ist ein Ministerpräsident zum Bundespräsidenten gewählt worden; dies kann
man ja wahrhaftig nicht als Rückzug oder als Flucht empfinden. Im Übrigen
begrüße ich es, wenn in Deutschland der Wechsel von Politik zu Wirtschaft, von
Wirtschaft zu Politik, auch übrigens von Wissenschaft zu Politik,
selbstverständlicher würde als das bisher der Fall gewesen ist, in Amerika ist
das die Regel.
Hat sich das
Wählermilieu der CDU verändert? Wie christlich ist die Union?
Das Wählermilieu hat sich selbstverständlich verändert, die
Wähler haben sich verändert, und auch der Bezug der Union zum Christentum hat
sich insofern verändert, als die Wähler der CDU vor fünfzig Jahren überwiegend
aus regelmäßigen Kirchenbesuchern bestanden. Heute ist die Mehrheit der Mitglieder
der beiden christlichen Kirchen nicht mehr sonntäglicher Kirchenbesucher.
Folglich hat sich auch das Wählermilieu verändert, aber geblieben ist die
Programmatik der CDU, das eindeutige Bekenntnis zum christlichen Menschenbild
und zum Kernsatz des Grundgesetztes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Nach Ihrem Rücktritt
als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz haben Sie ihre spätere Rückkehr in das
Amt hier in Thüringen dann als Genugtuung empfunden?
Für die Übernahme der Verantwortung hat das nicht die
geringste Rolle gespielt, sondern hier galt es aus der einmaligen historischen
Situation heraus sich zu entscheiden und zu handeln. Daß dann später, nach
Jahren, auch ein Stück Genugtuung – nachdem doch ziemlich schändlichen Abschied
in Rheinland-Pfalz – vorhanden gewesen ist, will ich nicht leugnen.
Was hat Sie primär
daran gereizt, 1992 nach Thüringen zu kommen?
Die Überzeugung, daß ich das Glück hatte sechzig Jahre auf
der Sonnenseite Deutschlands, in Westdeutschland, zu leben. So war es
selbstverständlich, jetzt den Menschen in der DDR zu helfen, die es nach dem Zweiten
Weltkrieg viel schwerer als wir Westdeutschen hatten. Wenn diese Menschen Hilfe
benötigten und erbaten, dann mußte man bereit sein, diese im Rahmen der eigenen
Möglichkeiten auch zu leisten.
Wie beurteilen Sie
über 20 Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze die Lage im Land? Sehen
Sie im Osten wie Arnulf Baring eine demoralisierte Gesellschaft?
Davon kann keine Rede sein, schon gar nicht in der jungen
Generation. Zwanzig Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze treten wir in
eine Phase der Normalisierung ein, mit allen Mühen der Ebene, mit allen Sorgen
und Problemen die dazugehören, aber auch mit der geglückten Ankunft
Deutschlands in normalen Verhältnissen. Nach dem Abschied von der schrecklichen
Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auf der einen Seite und der Zeit
der deutschen Teilung nach 1945 auf der anderen.
Viele ostdeutsche
Bundesbürger kritisieren die Politik, sind politikverdrossen, gehen nicht wählen,
fühlen sich bevormundet; eine Vielzahl wünscht sich gar die Mauer zurück. Empfinden
Sie sich bei solcher Rede ungerecht behandelt?
Zunächst beunruhigt mich in der Tat vorhandene Politik- und
auch Politikerverdrossenheit in West wie in Ost. Sie hat Gründe, im Übrigen
nicht nur bei den Parteien und den Politikern, dort auch, aber auch darin, daß
insgesamt die Menschen heute vor einer Mitgliedschaft in den Gewerkschaften, in
den Sportverbänden, in anderen Organisationen, ja auch in den christlichen
Kirchen eher Zurückhaltung üben, ihre Dienste zwar in Anspruch nehmen, aber
viel weniger wie früher bereit sind, selbst dort, und sei es auch nur
ehrenamtlich, tätig zu werden. Davon, daß viele Menschen in Ostdeutschland sich
die Mauer zurückwünschen, kann im Ernst keine Rede sein. Richtig ist, daß wie
immer in der menschlichen Erinnerung gelegentlich eine nostalgische Betrachtung
der Vergangenheit um sich greift, die vergißt, was schlecht gewesen ist.
Wie interpretieren
Sie den Linksruck in den neuen Bundesländern?
Den kann ich eigentlich nicht sehen. Ich sehe nur, daß es
bedauerlicherweise der SPD in den neuen Ländern nach 1989 nicht gelungen ist,
an ihre alte Position etwa in Sachsen und Thüringen anzuknüpfen, daß sie sich
sehr schwer getan hat, ein flächendeckendes organisatorisches Mitgliedernetz
aufzubauen, und daß ein Teil der Wählerschaft der SPD nicht von ihr, sondern
von ihrer linken Konkurrentin angesprochen wird.
Gibt es das Ost-Gen,
eine spezifische Eigenschaft, die Sie an den Bürgern hier schätzen?
Ich schätze viele Eigenschaften an den Bürgern hier. Das ist
aber kein Ost-Gen, sondern das ist eine Frucht der erlebten letzten fünfzig
oder sechzig Jahre, zu denen beispielsweise gehört, daß in den Regionen der
DDR, weil man eingesperrt war, weil man sich auch im Land weniger bewegen
konnte, mehr gelesen, mehr Musik gehört, mehr Musik gemacht worden ist, man
sich mehr mit Geschichte befaßt hat als im Westen. Ein spezielles Gen ist
das nicht.
Zwanzig Jahre nach
der Wende scheint es, daß sich die Kluft zwischen Ost und West wieder verbreitert.
Sehen Sie darin lediglich ein Generationsproblem?
Ich kann nicht sehen, daß die Kluft sich vergrößert, sondern
ich habe den Eindruck, daß in den jüngeren Generation davon keine Rede mehr
sein kann und ich beobachte dies an den deutschen Universitäten, etwa in Jena,
wo der Anteil der Studenten aus Westdeutschland von Jahr zu Jahr steigt. Bei
der älteren Generation ist das in der Tat ein Problem, das sich vollständig,
wegen der unterschiedlichen Lebenserfahrungen, nicht aufarbeiten läßt. Und ich
meine, es wäre mehr Respekt gegenüber den unterschiedlichen Lebensläufen in
West- und Ostdeutschland angebracht.
Wie kann man dem
Dilemma von HARTZ IV in unserer Gesellschaft begegnen?
Indem man zunächst die Frage beantwortet, ob Hartz IV ein
Dilemma ist. Die Reform, die damals von fast allen politischen Kräften im Kern
mitgetragen worden ist, war wohl unumgänglich notwendig. Daß die Umsetzung
Mängel und Fehler aufweist, und daß hier Korrekturen notwendig sind, ändert
nicht die Tatsache, daß Hartz IV im Kern richtig und notwendig geworden ist.
Immer wieder wird den
Politikern in jüngster Zeit vorgeworfen in einer Parallelgesellschaft zu leben.
Haben die Kritiker hier recht? Was bedeutet politische Verantwortung für Sie?
Es mag sein, daß einige Politiker sich nicht hinreichend
Mühe geben, die politische Realität des Alltags vollständig zu erkennen.
Politische Verantwortung bedeutet für mich, daß man auf die Bürger zugeht, daß
man zur Kenntnis nimmt, was sie sagen und was sie wollen. Politische
Verantwortung bedeutet aber für mich ebenso, daß man den Bürgern Ziele vorgibt
und für die Durchsetzung und Akzeptanz dieser Ziele wirbt.
Haben Sie einen
Lieblingsphilosophen oder -philosophie? Welches war Ihr schönstes Leseerlebnis?
Wenn es denn sein muß, würde ich als Eckphilosophen des
Abendlandes überhaupt Aristoteles nennen, und was Leseerlebnisse betrifft, die
Bücher von Thomas Mann, „Buddenbrooks“, „Felix Krull“, aber auch seine
„Tagebücher“.
Was wünscht sich Herr
Prof. Dr. Bernhard Vogel für die nächsten zwanzig Jahre nach der Deutschen
Einheit?
Daß in zwanzig Jahren nicht mehr von Wessis und Ossis, und
vielleicht auch nicht so intensiv von „Südis“ und „Nordis“ gesprochen wird,
sondern daß die Zeit der deutschen Trennung als eine überwundene
Nachkriegsepoche gesehen wird, und daß man gemeinsam an die Lösung der dann
sicher auch reichlich auf der Tagesordnung stehenden Probleme geht.
Vielen Dank für das Gespräch
Das Gespräch führte Dr. Stefan Groß
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