Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Shanto Trdic
„Eines Tages werden Millionen Menschen die südliche Hemisphäre verlassen, um in der nördlichen Hemisphäre einzufallen. Und gewiss nicht als Freunde. Denn sie werden als Eroberer kommen. Und sie werden sie erobern, indem sie diese mit ihren Kindern bevölkern. Der Bauch unserer Frauen wird uns den Sieg schenken.“
Houari Boumedienne (1927 – 1978)
ehemaliger algerischer Staatspräsident
Die derzeit grassierenden Unruhen
in Tunesien, Algerien oder Ägypten werden der europäischen Öffentlichkeit in
gewohnt einseitiger, einfältiger Manier als ´klassische´, auf Emanzipation und
Ausgleich gerichtete Volksaufstände verkauft, als ein Aufbegehren der
Beleidigten und Entrechteten, die sich primär den Maximen einer egalitären Gesellschaftsordnung
verpflichtet fühlen; Menschen, die bisher missmutig und gedemütigt im Dumpfen
darbten und nun mit der geballten Macht der Straße Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit für sich und ihresgleichen einfordern. Die ganze derzeitige
Berichterstattung zielt in diese Richtung. Das Volk meutert, weil die Mächtigen
ihm das Allheilmittel der Demokratie verweigern, mit dessen Hilfe irgendwie
schon alles gut, zumindest besser werden wird. Wenn dann aber, wie einst in
Algerien, freie Wahlen fromme Anhänger der Partei Allahs an die Macht bringen,
braucht es einige Schrecksekunden, bis der Westen wieder halbwegs befreit
aufatmen kann: ein Militärputsch hat dann hoffentlich das Schreckgespenst zur
Strecke gebracht und einem rabiaten, blutströmenden Chaos die Wege bereitet,
über das noch einige Zeit berichtet werden wird, bis das endlich keinen mehr
interessiert. Bürgerkriegsähnliche Zustände schrecken ab und faszinieren
solcherart eine Weile, bis die unvermeidliche Abstumpfung der Abnutzung allabendlich
servierter Bilder vorarbeitet. So eben kam es im Falle Algerien, wo jahrelang
gemordet und gemetztelt wurde – auch noch in Volkes Namen? Dabei steht fest:
siegt an der islamischen Peripherie wirklich die Bevölkerung, ist fast immer ein
wesentlicher Teil derselben von den Segnungen emanzipatorischer Ansätze ´befreit´.
Das sieht man schon dem Aufruhr selbst an; gesetzt, man schaut richtig hin. Es
sind hauptsächlich Männer, die sich auf den Straßen zusammen rotten; kaum
Frauen. Das aber wird derzeit mittels medialer Tricks und Kniffe gekonnt verschleiert.
Zum Beispiel neulich im Weltspiegel. Die Rauchschwaden in und um Tunis hatten
sich noch nicht gelegt, da sahen die Macher des Magazins schon das nächste Volk
in Richtung Freiheit marschieren, natürlich im vollen Einklang mit der
demokratisch gesinnten Weltfamilie, deren hehrer Glanz als freundliche,
unwiderstehliche Vision sämtliche Ereignisse überstrahlte und solcherart die
revolutionär gestimmten Massen unausgesetzt beseelte. Auch die algerische Bevölkerung
wurde nun vom ´wind of change´ beflügelt, dem Wunsch nach freier Entfaltung
ohne Rücksicht auf Herkunft, Rasse oder Geschlecht. Was aber zeigten uns die
folgenden Bilder? Da tobte ein vor allem männlicher, jugendlicher Mob durch die
Straßen; rabiate Typen mit der unvermeidlichen Baseballmütze auf den hitzigen
Schädeln, in engen Trendshirts und immer das unvermeidliche Handy im Anschlag. Der
Beitrag stellte es eindrucksvoll unter Beweis: hier war nun wirklich keine
einzige Frau in Sicht, nicht mit und nicht ohne Kopftuch. Dennoch faselte der
Moderator ganz selbstverständlich vom ´Volk, das sich zum Protest auf der
Straße einfindet´. Und um restlos klar zu stellen, das sich die Redaktion des
Weltspiegel auch wirklich das ganze Volk beteiligt wünscht, wurde vor
Einspielen des Films ein Standbild präsentiert, auf dem neben zwei schreienden Machogestalten
auch eine junge, dynamische Amazone zu sehen war, natürlich mit Kopftuch: eine,
die man sich so auch in der Warteschleife vor der Aldi - Kasse oder am Tresen
einer Uni - Mensa hätte vorstellen können. Die ganz normale Kopftuchemanze eben.
Gerettet. Überall da, wo Frauen, wiewohl stets in geringer Zahl vertreten, tatsächlich
mit von der Partie sein durften, etwa in Tunis oder Alexandria, rückte sie das
geschäftig surrende Auge demonstrativ in den Vordergrund, der zwar für alle
sichtbar der geballten Männlichkeit reserviert war, so aber den gewünschten symbolischen
Zentimeter bot, der Gleichheit im europäischen Sinne vortäuschen kann. Die
Medien sorgen auf diese Weise für die Einhaltung einer gewissen Kopftuchquote, mit
der automatisch sicher gestellt wird, das die Maximen geschlechtlicher
Gleichberechtigung, deren Durchsetzung auf dem Kontinent zäh und kleinschrittig
erfolgte, auch in Gesellschaften Gültigkeit genießen, die mit feministischen
Ansätzen so ihre Probleme haben. Gemessen an den emanzipatorischen Errungenschaften
der letzten Jahrzehnte, auf die sich der Westen so viel einbildet, kann der
Status der Frau im Islam nur als der einer Minderheit eingestuft werden, und in
minderer Zahl tritt sie nach wie vor in Erscheinung; allen medialen
Manipulationen zum Trotz. Diverse randständige, eher linkisch agierende
Intellektuelle zählen ebenfalls zur Minderheit, was aber die deutschen Nachrichtenteams
nie davon abhält, auch sie sofort vor die Kamera zu bitten, wo dann jeder von
ihnen sagen darf, was der durchschnittliche Fernsehkonsument hören soll. Es
handelt sich fast immer um achtbare Streiter, deren Ausbildung hauptsächlich an
westlichen Hochschulen stattfand, was sie im Volke bereits hinreichend
diskreditiert. Die meisten dieser Leute spielen bei der anschließenden
Machtverteilung keine Rolle mehr. Oft werden sie, so gewisse NGO´s vor Ort
fleißig vorarbeiten, irgendwie nach oben geschaukelt; um noch sehr viel zügiger
wieder ins angestammte Abseits zurück zu straucheln. Aber egal. Es sind eben
solche Figuren, die man sich im Westen ganz doll an die Macht wünscht und
deshalb kurzerhand zu Volksbefreiern hochstilisiert, bevor selbige dann auf die
eine oder andere Weise eliminiert werden, weil auch und gerade mit ihnen kein
Staat zu machen ist. Für eine rührselige Story taugt das allemal. Regimegegner
werden zu Hoffnungsträgern erklärt und danken ab, bevor ein Amt sie überhaupt
in Würden setzt. Später erinnert man sich ihrer immer mal wieder; Hochmut
verpflichtet. Der dynamische, je nach Lage der Dinge variierende Sprachgebrauch
erledigt die aktuellen Machthaber ebenfalls im Handstreich. Ehedem achtbare,
mehr oder weniger neutral gehandelte Staatschefs bezeichnet man nun als
Despoten, Diktatoren und Tyrannen, was insofern nicht schwer fällt, als deren
Tage wirklich gezählt zu sein scheinen. Erst vor diesem Hintergrund gewinnen ja
die Menschenrechtler und Friedensaktivisten an trügerischer Bedeutung. Tauchten
sie gestern noch in Quotenarmen, brav-biederen Kulturformaten unter, werden sie
nunmehr, im Schatten der Gewaltherrscher hell aufleuchtend, zu den erwünschten
Lichtgestalten stilisiert, ohne die auf einmal nichts mehr geht. Wie weiland
Nelson Mandela, der auf sämtlichen Kanälen parlierte und bald zur
Bedeutungslosigkeit schrumpfte in einem Land, das zügig in Kriminalität und
Korruption versank. Immerhin: Mandela galt im Volk sehr viel. Das kann man von
den meisten derer, die sich der Westen an die Spitze wünscht, nicht sagen. Oft
ist es so, dass den angeblichen Befreiern außer ihren klugen Fürsprechern keiner
die Daumen drückt. Gewiss: es handelt sich fast immer um ehrbare Geister, die
unbeirrt an Idealen fest hielten, deren Grundsätze dem Volk allenfalls rudimentär
geläufig sein dürften. Dafür saßen jene oft jahrelang im Gefängnis; wurden
verfolgt und gefoltert, schurigelt und geschunden. Das ist jenem El Baradei allerdings
erspart geblieben, denn dazu war er einfach zu lange im Ausland, wo ihn sich
die Mehrzahl seiner Landsleute auch schleunigst wieder hinwünscht. Ein
Geächteter oder Verfolgter ist er nicht, aber ganz sicher auf Anhieb der
Darling des Westens. Wie einst ein gewisser Bani Sadr im Iran, der es sogar
kurz bis ganz an die Spitze der islamischen Republik schaffte, bevor er Hals
über Kopf aus dem Lande floh, um nicht den Schergen des Ajatollah Ruhollah
Chomeini zum Opfer zu fallen. Mit ihm entwich auch jener Traum vom zivilen,
rechtsstaatlichen Ausgleich, der solcherart weder im Orient noch in
irgendwelchen Teilen Großasiens verfängt. Wer von denen, die derzeit mit
geballter Faust auf der Straße Fakten schaffen wollen, wünscht sich schon eine
komplizierte, vielschichtig gefächerte und so langwierig wie schwerfällig
umsetzbare Res Publica abendländischer Provenienz? Sie fußt auf Prinzipien, die
den derzeit wankenden Machthaber einst als ziviles Erbe von den ehemaligen
Mandatsmächten vermacht worden sind. Da zeigt man uns besagten El Baradei und einen
tobenden, tosenden Mob - beide gemeinsam auf der Straße unterwegs und doch
Äonen weit auseinander, was Gesinnung und Gesittung betrifft. Das traf auch auf
Bani Sadr und Chomeini zu, und es gilt erst recht für den ägyptischen
Friedensnobelpreisträger und die ihn hofierende Muslimbruderschaft, der es vor
allem darauf ankommt, endlich einmal auf legalem Wege nach vorne zu kommen, um
so die realen Machtverhältnisse in ihrem Sinne aus den Angeln heben zu können.
El Baradei kommt diesen Verschwörern gerade recht – als unverbindliches
Feigenblatt. Das, allerdings, ist er auch für den Westen selbst, der von den
harten Realitäten vor Ort nichts versteht, weil er sich alles weich redet. -
Fakt ist, das die derzeitige
Berichterstattung kaum die tatsächlichen Verhältnisse in den Unruheregionen
spiegelt; sie fängt allenfalls ihre flüchtigen, unruhig flimmernden Schatten
ein, deren Umrisse sich bereits bedrohlich weiten. Begreift man in Europa
überhaupt, was sich tatsächlich an den Peripherien muslimischer Gesellschaften
zusammenbraut, und zwar auf kurz oder lang zum Nachteil für einen jeden von uns?
Der Maghreb grenzt direkt via Mittelmeer an den Kontinent. Es wäre illusorisch,
an zu nehmen, die derzeitigen Wirren blieben lokal begrenzt und gingen uns nichts
weiter an. Dazu später mehr.
Um die heraufdämmernde Misere, die
sich zur strategischen Katastrophe entwickeln dürfte, besser verstehen und
einordnen zu können, empfiehlt es sich, die nähere Vergangenheit zu skizzieren,
um sie mit den realen Verhältnissen abzugleichen, die ihrerseits eine Dynamik entfalten,
die nur vor diesem Hintergrund verständlich wird.
Die unterschiedlich geprägten
Spielarten parlamentarischer Meinungs, -und Willenbildung vollzogen sich in
muslimischen Gesellschaften bislang auf mehr oder weniger autoritäre, straff
gelenkte Art; mittels Verordnung und Gebot. Die theoretischen Vorlagen kamen
von den einstigen Mandatsmächten, den alten Kolonialherren, die das komplexe,
vielschichtige Modell modernen Zusammenlebens in einem gesellschaftlichen Umfeld
installierten, das ganz wesentlich den Traditionen rigider Stammeskulturen
gehorcht und kulturell im Islam wurzelt. Vor diesem Hintergrund erscheint deren
kurzes Interregnum kläglich; ein Intermezzo, dem der Makel des Halbfertigen,
Unabgeschlossenen anlastet. Im Nachhinein muss man den Versuch wohl als
gescheitert ansehen. Der Maghreb, dessen Bevölkerung dem ´western way of life´ von
Anfang an nur recht zögerlich folgte und in weiten Teilen jeder zivilrechtlichen
Angleichung an europäische Standards misstrauisch, argwöhnisch – reserviert begegnet,
kannte und kennt keine Demokratie, die diesen Namen ernsthaft verdiente. Sie
hat hier, wie auch in den übrigen Gebieten des Dar al-Islam, keinerlei
Tradition und wird von der breiten Masse eher als Fortsetzung kolonialer
Bevormundung empfunden, mit der man, allen Fortschritten und Vorzügen zum
Trotz, zwiespältige Erfahrungen gemacht hat. Marschiert denn irgendeiner von
denen, die ihre Regime jetzt satt haben, für mehr Freizügigkeit auf der Straße
herum? Wer redet den trendsetternden Leitartiklern nur immer ein, jede Revolte,
jedes Aufbegehren gelte sogleich dem ureuropäischen, unendlich
widersprüchlichen und nur schwer umsetzbaren Ideal der Demokratie? Wünscht die
breite Masse der Bevölkerung jenseits materieller Belange tatsächlich ein gesellschaftliches
Modell, das seine schlüssige, verlässliche Form gerade dort, wo es wuchs und
wurde, mit zweieinhalb Jahrtausenden Verspätung halbwegs Krisenfest annahm?
Das war ja, nehmen wir Ägypten
als Beispiel, das Dilemma der Nasser, Sadat oder Mubarak: die relativ kurze
Phase eines zwar erniedrigenden, indes auch gewisse Vorzüge zeitigenden Kolonialismus
hat keine wirklich gewachsenen Strukturen hinterlassen, und die Erben haben vor
dem Hintergrund postkolonialer Verhältnisse mit Erblasten allerorten zu
kämpfen. Egal, welche Bevölkerungspolitischen Maßnahmen der Rais von Ägypten jeweils
verordnet hat: jede davon kam jeweils zu spät. So wurden etwa die
beschäftigungspolitischen Entscheidungen des Regimes durch eine ungezügelte,
aus europäischer Perspektive nahezu beängstigende Demografie unausgesetzt konterkariert.
Mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts tut sich auch der Westen
unendlich schwer, aber er baut auf stärkeren, verlässlicheren Fundamenten, die
nicht über Nacht entstanden sind. Ein ungehemmter Neoliberalismus, wie wir ihn
nach Auflösung der Blockkonfrontation erleben, gebärdet sich gerade in den
Zweit, - und Drittländern rabiater, ungehemmter als in den Staaten der alten
Welt. Und gerade Ägypten, das finanziell am Tropf der USA hängt, hat sich
diesem Diktat bislang auf beinahe treuhündische Art und Weise unterworfen. Sein
Militär erhielte ansonsten auch nicht mehr die unentbehrliche finanzielle
Schützenhilfe in jährlicher Milliardenhöhe, die dringend nötig ist, um alle
widerstreitenden Parteien in Schach zu halten, deren ungezügelte, diametral
ausufernde Kraft der trügerischen Ordnung im Lande schnell ein Ende bereiten
würde. Wer zählt all die rabiaten, umtriebigen Sekten im Lande, denen man weder
eine verfassungstreue noch staatstragende Gesinnung bescheinigen kann? Seit
über dreißig Jahren ist das die Zwickmühle, in der sich Mubarak befindet. Vom
Westen auf einen volkswirtschaftlich höchst fragwürdigen Kurs getrimmt, der ja
auch bei uns fortlaufend Probleme verursacht, die in einem solchen Land unendlich
schwerer wiegen, kann er doch nur auf Sand bauen. Und vom selben Westen, der seinem
Land die ökonomische Keule verordnet, wird er ständig an Demokratie und Meinungsfreiheit
erinnert, deren konsequente Umsetzung nur dazu führte, dass der Staat komplett
auseinander bricht. Demokratie – das bewirkt in diesen Ländern keine gesamtgesellschaftliche
Vollendung; es zeitigt vielmehr zahlreiche kleinere und größere Widersprüche,
denen weder Volk noch Führer auf Anhieb gewachsen sein können. Natürlich sind
auch in Ägypten die Eliten ziemlich heruntergekommen. Aber Korruption und
Misswirtschaft kennen wir auch im Westen zu Genüge. Sie werden bei uns leidig ´abgemildert´; durch ein System, das
den zivilen Kräften Raum genug lässt, wenigstens in Grenzen tätig zu werden.
Darum spürt man deren Auswirkungen hier auch weniger als in einem Land, das
sich mit einem Youth bulge unerhörten Ausmaßes herumschlägt. Wiewohl es
herabmindernd klingt: hier geht es gar nicht um Freiheit – hier geht’s´
schlicht um´s Fressen. Die Grundstimmung ist daher auch, allen eilfertigen,
heißblütigen Beteuerungen zum Trotz, weniger revolutionär, eher reaktionär
getönt. Das Volk wünscht sich einen wohlwollenden, dem angestammten Glauben gehorchenden
Hegemon, der das Gröbste richtet und dafür sorgt, dass es wieder ausreichend zu
essen und zu trinken, Lohn und Brot gibt. Das frommt dann allen, die mehr der
eigenen Sippe als dem Staat gehorchen, der ihnen stets ein Orwellsches
Abstraktum geblieben ist. Diejenigen im Westen, die ständig von
gesellschaftlichen Umbrüchen und demokratischen Netzwerken faseln, kennen
offenbar nicht die Logik robust gewobener Stammeskulturen, deren Grundfeste weder
von den Kolonialherren noch ihren Erben ernsthaft angetastet wurden. Im Grunde
ist auch die radikalislamische Sekte der Muslimbrüder so ein Clan. Der entstand
als Reaktion auf den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches bereits in den
zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts;in seltsamer Analogie zu gewissen politischen Vereinen Zentraleuropas,
die fast zeitgleich auf der Bildfläche erschienen und das identitäre Vakuum
füllten, das der Untergang alter Monarchien zeitigte. Wenn es in Ägypten
wirklich restlos freie Wahlen gäbe wie in Gaza, wo derzeit die Hamas wütet,
dann würde die randalierende, zwischen Tradition und Moderne unruhig hin und
her pendelnde Jugend diesem Orden, der jetzt auf brav und bieder macht, umgehend
zur Macht verhelfen. Nicht nur die männliche, perspektivlose Jugend dürstet
nach raschem Vollzug; nach einfachen Antworten auf einfache Fragen. Das ist
allerdings kein spezifisch orientalisches Problem. Wie weit, möchte ich fragen,
reicht die Erinnerung derer, die heute im Westen so tun, als sei Demokratie
eine ganz natürliche, selbstverständliche Entwicklung, der sich das
Menschengeschlecht fast von selbst – wie von Zauberhand – unterwirft? In der
ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts begann das zarte Pflänzchen
parlamentarischer Demokratie schon wieder zu welken, und es folgten, auch und
gerade hierzulande, Zustände wildester Verrohung. Die erste deutsche Demokratie
stolperte tölpend in eine neue, ungewisse Zeit. In den ersten Jahren trübten
wilde Straßenkämpfe das Bild, und die Anhänger eines hysterischen, tumben
Nationalismus fochten mit den Vertretern des gleichsam utopisch gestimmten,
rigiden Kollektivismus munter um die Wette. Der Rest des deutschen Volkes sah dem
Treiben ratlos zu. Die volkswirtschaftliche Gesamtlage blieb seinerzeit schwankend
und lähmte den öffentlichen Betrieb beinahe pausenlos. Neudeutsch gesprochen:
Weimar hatte fertig, von Anfang an. „Im Grunde,“ so schrieb Joachim Fest in
seiner unentbehrlichen Hitlerbiografie,“ hatte sie (die Weimarer Republik) nie
mehr als die Duldung der Nation erwirkt;“ sie war nur „eine Erscheinung des
Übergangs.“ Und so warteten denn „ zusehends breitere Schichten darauf, dass
der Staat sich wieder auf seinen Begriff besinne und zu seiner traditionellen
(!) Gestalt zurückfinde. Alle die unterdrückten Zweifel am demokratischen
Parteienregime, die schlummernde Geringschätzung des ´undeutschen´
Parlamentarismus, kamen nun, in der krisenhaften Verzweiflungsstimmung, wieder
zum Vorschein und gewannen eine Überredungsmacht, der kein Argument gewachsen
war. Hitlers tausendfach wiederholte These, das dieser Staat nur eine Form der
Tributleistung an seine Feinde und die schlimmste Fessel (…) sei, war nicht
ohne Resonanz geblieben.“ (Joachim Fest: Adolf Hitler. Eine Biografie.
Neuausgabe. Ullstein 2002. S.455-456).
Die Deutschen und Demokratie? Das
war eine schwere, zögerliche Geburt; im Anfang wahrlich ein ´Kaiserschnitt´. Um
beim Beispiel zu bleiben: es war später der brave, bürgerliche Mittelstand, der
aufgrund eigener Verunsicherung ganz wesentlich zum Aufschwung der NSDAP
beitrug und durch sein Wahlverhalten das Ende einer Demokratie einleitete,
deren Konzeption weitaus besser war als ihr Ruf, der bis heute wie ein ödes
Mantra durch die Geschichtsbücher geistert. Die nationalsozialistische Bewegung
selbst schöpfte aus einer Legion junger, zorniger, vor allem perspektivloser
Menschen. Es war eine insgesamt junge, ungestüme Bewegung. Das damalige
gesellschaftliche Vakuum gebar so seine eigenen, kraftstrotzenden Hydren. Man
muss kein Geheimnis daraus machen, das die jungen männlichen Muslime unserer
Tage westlichen Werten, die jetzt als unverbindliche Worthülsen herhalten, kein
echtes Zutrauen entgegen bringen; viele verachten den Westen, wie jene
heranwachsenden Deutschen damals das Weimarer Intermezzo von Herzen ablehnten,
wiewohl selbiges auf Grundlagen baute, die der europäischen Tradition vollauf
entsprachen. Das westliche Modell erscheint vielen Muslimen nicht ohne Grund als
etwas, das den alten Kolonialismus verkörpert, den gescheiterten Nationalismus
Nasser´scher Prägung obendrein und überdies kollidiert es mit islamischen
Tugenden und Werten, die ihnen in Gebetsmühlenartiger Manier eingetrichtert
werden. Die Marionettenregime der Bouteflika oder Mubarak, die jetzt an ihr
Ende kommen, werden vom Volk nicht nur im Blick auf Korruption und
Vetternwirtschaft als verkommen, ja verdorben wahrgenommen. Einige von ihnen
scheinen sich immerhin auf eine zwar täppische, indes positiv gefärbte
Vorstellung von Demokratie geeinigt zu haben, die davon ausgeht, das mit ihrer
Hilfe irgendeiner Art von erlösendem Rigorismus, von autoritärem, zielkonformen
Vollzug zum Recht verholfen werde, der ihnen wiederum die Möglichkeit
verschafft, ihren Teil vom Kuchen ab zu bekommen. Denn bequem konsumieren, gut
leben – überhaupt etwas vom Leben haben, das will der Nachwuchs in Nordafrika
ebenfalls, allen traditionellen Fesseln zum Trotz. Es ist, um diesen Aspekt
abzuschließen, eben jene zutiefst frustrierte männliche Jugend, die das
Schicksal ihrer jeweiligen Nation bestimmen wird. Hier tickt eine echte
Zeitbombe. Diese jungen Männer werden nicht selten infolge strikter religiöser
Gebote an einer ungestörten Ausübung ihrer Sexualität behindert oder,
andersherum, aufgrund gewisser Rollenschemata geradezu genötigt, einem ätzenden
´Machissimo´ zu frönen. Die meisten von ihnen sind ohne Arbeit, ohne Zukunft –
ohne jedes Heil. Mehr noch: sie selbst werden immer mehr. Die Zahl der unter Dreißigjährigen
wird in Ägypten auf mehr als siebzig Prozent geschätzt. Diese Massen Saft, -
und Kraftstrotzender Jünglinge werden sich eines Tages ganz von selbst über den
europäischen Kontinent ergießen. Es ist völlig abwegig, zu glauben, irgendein
Regime – es sei moderat gestimmt oder fanatisch beseelt – könne auf absehbare
Zeit bei vorhandenen Strukturen irgendetwas zu deren Gunsten bessern oder
schönen. Ganz im Gegenteil. Und darum werden zwangsweise auch in den Staaten
der alten Welt die Unruhen zunehmen, schlagen sich diese doch auf ihre Weise mit
den ´Widersprüchen des Spätkapitalismus´ herum. Jener Islamismus wiederum, der
vielleicht noch am echtesten, ehrlichsten jenen Glauben vertritt, der aus der
Wüste kam, nutzt ja längst die Techniken moderner Kommunikation, um seinen
archaischen Lehren wirkungsvoll Nachdruck zu verleihen; schleicht sich
geschickt im Zuge von Aufständen, Bürgerkriegen und Regionalkonflikten in
Gesellschaften hinein, die ehedem einer eher moderaten, gemäßigten Erfüllung
ihrer religiösen Pflichten gehorchten. Wer dächte da nicht an Bosnien oder das
ferne Tschetschenien? Die bosnischen Muslime im alten Jugoslawien hatten mit
frommen, eifernden Renegaten nichts am Hut, und als weiland Jelzin den
Separatismus einer winzigen Kaukasusrepublik militärisch ahndete, stießen seine
Truppen auf glühende Nationalisten, nicht Islamisten. Jetzt tummeln sich in beiden
Regionen Gotteskrieger, Mafiaorganisationen und derlei obskure Gruppierungen
mehr. Da mögen russischer Staat oder europäische Gemeinschaft noch so eifrig
Geld in die verwüsteten Republiken pumpen; es kommt doch zu spät. Sicher: der
russische Staat ist selbst von Demokratie und Meinungsfreiheit Äonen weit
entfernt. Dennoch verbietet sich jede Häme angesichts der Nadelstiche, die der
Autokrat Putin, von seinem treuhündischen Schattenkaiser Medwedjew flankiert,
derzeit zu erdulden hat. Russland wird schon heute von der islamischen
Peripherie herausgefordert und in den autonomen Regionen seines Kernlandes
demografisch nahezu erdrückt. Es kann gar nicht ausbleiben, das diese Gebiete
irgendwann einen echten Gegensatz zur angestammten, slawisch-orthodoxen Kultur
bilden werden. Und das wird eben, kommt es in Nordafrika wirklich
flächendeckend zu freien, fairen Wahlen, auch das Schicksal unseres Kontinents
sein. Die unruhige Jugend in den südfranzösischen Metropolen sieht sich wohl
schon jetzt von den Tumulten in ihrem Herkunftsland nachträglich bestätigt. In
Algier sind es hauptsächlich ihre Altersgenossen, die auf die Barrikaden gehen.
Im Falle eines Machtwechsels im Mutterland werden die Muslime Frankreichs
wiederum eigen Ansprüche geltend machen, denen sie womöglich noch radikaler
Nachdruck verleihen, als wir das bislang schon erlebten. Sie lassen sich dann
auch noch leichter mobilisieren; gleichwie. Gleiten jene Staaten Nordafrikas in
Chaos und Anarchie ab, dürften die Flüchtlingsströme gen Norden erneut anschwellen.
Und diese Menschen werden, da sie immer zahlreicher und selbstbewusster in
Erscheinung treten (ehedem hielten sie sich eher scheu versteckt) ganz
selbstverständlich mehr eigene Substanz einfordern: mehr Rechte, mehr Einfluß –
mehr Macht. Noch etwas deutlicher gesprochen: mehr Islam in einem aus ihrer
Sicht ungläubigen, frevlerischen Umfeld, das ihnen dennoch die angenehmen
Seiten einer grenzenlosen Konsumgesellschaft offen halten möge. Diese Muslime,
sowohl Opfer als auch – in Grenzen – Nutznießer des europäischen Kolonialismus,
werden ihrerseits zahlreiche weitere Kolonien bilden: zunächst noch auf
Stadtteile und Bezirke beschränkt.
Eine dritte Variante bleibt einstweilen
nicht ausgeschlossen:dass blutige
Militärputsche den Aufruhr rigoros im Keim ersticken. Solches aber würde die
Situation kaum nennenswert entschärfen. Wenn im Maghreb und in der Levante das
Bevölkerungswachstum ungebrochen dynamisch fortschreitet, wird einer solchen,
restriktiv erzwungenen Atempause bald der nächste Aufstand folgen. Strategisch
gesehen wird Israel vollends zum bis an die Zähne bewaffneten Vorposten
schrumpfen und Europa schrumpft seinerseits zur letzten Bastion abendländischer
Werte, deren Erosion ohnehin schon zügig voranschreitet. Demografisch ist die
Schlacht bereits entschieden. Ein Wettlauf mit diversen Drittweltländern, deren
Geburtenraten explodieren, ist so widersinnig wie aussichtslos. Der Westen dürfte
mit einiger Verspätung auf derlei Herausforderungen reagieren, zunächst noch mit
Gesten guten Willens, die im Orient, so Peter Scholl-Latour, stets als Schwäche
gewertet werden. Der algerische Staatschef Bouteflika, zum Beispiel, bot seinen
Gegnern eine Generalamnestie an. Seitdem bomben und morden die
radikalislamischen Kader wieder um die Wette. Er selbst sitzt schon mit
gehöriger Schlagseite, fast groggy im Sattel. Sein Kurs der Aussöhnung hat ihm
zwar viel Respekt eingebracht, auch bei der Bevölkerung, die den jahrelangen
Bürgerkrieg noch in schlimmster Erinnerung hat. Davon kann er dennoch nicht
mehr zehren: jetzt gilt auch er im Westen als Despot, den es zu stürzen gilt.
Es mutet schon merkwürdig an, wie
unsere sogenannten Experten, von keinerlei Realitätsbezug irritiert, im
Angesicht derzeitiger Unruhen einer Morgenröte der Demokratie das Wort reden. Beim
Talk unter den Linden sprach ein gewisser Michael Lüders, das Beispiel Ägypten
vor Augen, vom ´Demokratisierungsprozess´, von einer überhaupt ´tollen
Entwicklung´ und verglich die zunehmend chaotischen Vorgänge mit dem
friedlichen Protest jener, die in der ehemaligen DDR nach Demokratie und
Freiheit riefen und doch nur RTL und die D-Mark bekamen. Lüders versicherte,
dass die Vorgänge in Nordafrika mit dem Fall der Berliner Mauer korrespondieren.
Jemand, der sich so selig um den eigenen Verstand redet, muss wahrlich von
diesem einen, einzigen Gedanken besessen sein: das der Rest der Welt um´s
Verecken so werden muss, werden soll, wie er sich das als guter Staatsbürger wünscht
und denkt (in dieser Reihenfolge). Eben europäisch. Das ist dann die aktuelle
Form imperialer, bevormundender Überhebung, die ihre eigenen Schwächen hinter geschönten
Worthülsen versteckt, die aus hohlen Rohren geschossen werden und nur ins Leere
fliegen. Die Wirklichkeit lässt sich verwechseln; verändern kann man sie auf
diese Weise nicht. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, das zu begreifen und
entsprechende Vorkehrungen zu treffen.
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Simnie 03.02.2011 13:35
Den Menschen auf den Straßen Ägyptens geht es nicht um Demokratie. Sie haben keine Arbeit und nichts zu essen. Die westlichen Finanzmärkte spekulieren mit Nahrungsmitteln und treiben damit die Weltmarktpreise in die Höhe. Sie wollen Arbeit, Brot und Frieden und keine Korruption und Hochrüstung. Was mir an dem interessanten Artikel fehlt, istdie Lösung, der Ausweg oder einfach: Was tun?