Erschienen in Ausgabe: No 63 (5/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
„Das Schönste, was wir erleben können,
ist das Geheimnisvolle.“ (Albert Einstein)
An schönen Sommertagen, rund um einen Teich, kann man Zeitzeuge dieser
Aussage werden. Ein geheimnisvolles Schweben und Knistern umgibt die
Wasserfläche, bunte Farben blitzen zwischen Binsen und Schilfhalmen auf. Es
sind Libellen, faszinierende Insekten. Sie leben ein Doppelleben, versteckt im
Wasser einerseits und zum anderen feiern sie gleißende Hochzeiten in der Luft. Nur kurz zeigen sie ihre schillernde und lebendige Oberfläche, der eine
lange Zeit des Verborgenen, Unauffälligen vorangegangen ist.
Die
1973 in Dalmatien geborene und seit ihrem 10. Lebensjahr in Deutschland
aufgewachsene Marica
Bodrožić beschäftigt sich in ihrem Debütroman gleichfalls mit unter der Oberfläche
Verborgenem. Libellen sind für sie das verbindende Element. Ihre Hauptfigur
Nadeshda hat eine besondere, eine geheimnisvolle, eine bedrückende Beziehung zu
ihnen: „Ich weiß
jetzt, warum ich Libellen schon immer sehr geliebt habe. Noch bevor ich wusste,
dass mein Vater sie getötet und in einem Album gesammelt hat, waren sie der
Inbegriff von Schönheit für mich. Es ist eine Schönheit, die sich fortwährend
entzieht.“
„Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu
werden, geliebt um seiner selbst willen oder vielmehr trotz seiner selbst.“
(Victor Hugo)
Vordergründig erzählt der Roman von einer Liebe, von der unglücklichen
Liebe Nadeshdas zu Ilja, einem verheirateten Mann, mit dem sich eine
kurzzeitige, reichlich bizarr anmutende, schmerzhafte Beziehung entspinnt.
Beide Schriftsteller, beide im ehemaligen Jugoslawien geboren, richten sie auf
der ganzen Welt ihre flüchtigen Liebesnester ein. „Wenn er bei mir ist, kommt mir alles Verrückte normal und alles
Normale verrückt vor.“
Allerdings ist es für den einen nur ein Davonlaufen vor sich selbst. Die
junge Frau jedoch heftet in diese Leidenschaft ihre ganze Hoffnung auf eine
gemeinsame Zukunft. Wartend verbringt sie die Zeit zwischen den erneuten
Zusammenkünften. Sehnsucht bestimmt ihren Tagesablauf: „Was aber ist die Liebe eigentlich, wenn wir nicht Sehnsucht haben? Ist
der Lohn der Sehnsucht je ein anderer als das Geschenk einer weiteren
Sehnsucht?“ Nach und nach stellt sich hingegen Erkenntnis ein, „weil ich schließlich nur auf diese Weise
gelernt habe, dass die Abwesenheit eine hungrige Lücke ist und dass man von
Hoffnung erfüllt zwar warten kann, aber gerade dabei hoffnungslos wird.“
Hintergründig offenbart sich in der Erzählung indessen ein viel größeres
Drama. Die post festume Aufarbeitung, als die sich der Roman zu erkennen gibt,
stellt sich als Brücke zu ihrer Kindheit heraus.So schmerzhaft und tränenreich diese unglückliche Liebe war, aber
Ilja besaß den Schlüssel zu den verstaubten Zimmern von Nadeshdas Erinnerungsarchiven
in ihrem lange verschlossenen Haus. Er gibt der Frau das „Gedächtnis ihres
Körpers“, lockt sie unbewusst aus ihrem „winterharten Wartetunnel“ und öffnet
durch die Trennung das „Gefängnis in ihrem Kopf“. „Ohne diese Inventur des eigenen Inneren blieben wir lebensblind. Um uns zu
sehen, brauchen wir den anderen.“ Nadeshda schreibt ihre
Lebensgeschichte neu. Lücken werden geschlossen, Leerstellen ausgefüllt, die
„plattentektonische Gefühlsfabrik“ beruhigt.
„Das
Alte und das Neue werden sichtbar, wenn die Nähe zu einem Menschen nicht mehr
nur ein Gedanke ist.“Das Alte war ihre Kindheit in Jugoslawien, ihr
gewalttätiger Vater, der mit der Mutter in einer Nacht und Nebelaktion nach
Amerika floh und das fünfjährige Mädchen allein bei ihrer Tante zurückließ.
Ihre Vergangenheit liegt seitdem unter einem Berg von Fragen verschüttet und
machten aus der Frau eine ständig Suchende, ja Klammernde. „Wenn man nicht weiß, woher man kommt, dann weiß man auch nicht, wohin
man geht.“ Doch Nadeshda verarbeitet die „Haut- und Mundnachbarschaft“ zu
Ilja und wagt den Weg ins Ungewisse ihrer Biografie, die auch den Balkankrieg
nicht ausspart. „Es ist erstaunlich, wie
lange ein Krieg dauern kann, wie lange er den Frieden mit seinen Prothesen,
Krücken und dienstbereiten Soldaten durchsetzen kann.“
Der
Erzählstil der Autorin gleicht einem mäandernden Erinnerungsfluss, einem
ständigen treppauf und treppab, einem Archivieren von Gedanken. Vielleicht eine
Art Weltverstehen oder ein Versuch, „aus
der sprachlosen Zeit an die Wörter heranzukommen, um etwas von ihnen zu lernen.
(...) Wir glitten vom Denken ins Erzählen, segelten auf unseren Erinnerungen
und inneren Bildern hinüber, in irgendetwas Drittes, das wir noch nicht
kannten.“
Bodrožić‘
Duktus ist ein langer innerer Monolog, ein zaghaftes, feinfühliges Herantasten,
ein vorsichtiges Erobern, ein Abwägen und Hinterfragen an die
Geheimnisse des menschlichen Lebens, eine Suche nach sich selbst, nach der
eigenen, einsam hallenden Stimme. Die Autorin versteht sich vortrefflich auf das Füttern von
Imaginationen. Hervorzuheben ist das außergewöhnliche Sprachempfinden. Die auf
deutsch schreibende Autorin findet Worte und Sätze, die im Kopf des Lesers zu
Landschaften werden und die Lektüre zu einem fast fühlbaren sinnlichen
Empfinden machen. Gleichzeitig ist jedoch durch ihre komplexen Gedankengänge
und Zeitensprünge eine erhöhte Konzentration vonnöten, um die Komplexität und
Tiefe ihrer Zeilen zu erfassen und zu verinnerlichen. Aber wie sagt die Autorin
so treffend: „Es ist in allem eine
Zwickmühle drin, nur in der Liebe und im Erzählen nicht, da findet sich alles
in der Vereinigung zusammen und wird dann allen Widersprüchen zum Trotz etwas
Ganzes. Sprache.“
Marica
Bodrožić
Das Gedächtnis der Libellen
Luchterhand
Literaturverlag, München (August 2010)
253
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3630873340
ISBN-13:
978-3630873343
Preis:
19,99 EURO
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