Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
Bruderhass ist eines der ältesten Motive in der Literatur. Die biblische
Erzählung von Kain und Abel offenbart dabei wohl den bekanntesten Konflikt.
Romulus und Remus, die Zwillinge der römischen Mythologie, stehen dem kaum
nach. Nun hat sich der Schwede Håkan Bravinger diesem Sujet angenommen. Aber
keine okkulten Personen sind Gegenstand seines Romandebüts, sondern ganz reale
Männer: Poul (1876-1964) und Andreas (1879-1925) Bjerre. Der Ältere Arzt,
berühmter Psychoanalytiker, Schriftsteller, Freudianer und Anhänger Nietzsches,
der Jüngere, ein brillanter Kriminologe, erster Professor für Strafrecht an der
estnischen nationalen Universität Tartu, Kierkegaard zugewandt und Erforscher
menschlicher Abgründe.
Nun dürfte man annehmen, dass gerade diese Beiden aufgrund ihrer Profession
derartigen Neurosen nicht erliegen dürften. Doch weit gefehlt. Andreas wurde
jahrelang von sexuellen Obsessionen gequält und litt an
Minderwertigkeitsgefühlen, seinen Sohn Sören Christer, aus erster Ehe mit
Amelie Posse, stufte man als Psychopath ein und schob ihn nach mehren
Verwahrungen in Nervenheilanstalten nach Australien ab. Poul selbst galt als
exzentrische und eitle Persönlichkeit. 1925 beging Andreas Bjerre, stark
depressiv und schon lange körperlich angeschlagen, Selbstmord. Sein Bruder Poul
weigerte sich diesen Umstand zu akzeptieren und beschuldigte seine Schwägerin
Madeleine, Andreas 2. Frau und beste Freundin von Amelie, des Mordes.
Eine Art Hassliebe begleitet beide Brüder Zeit ihres Lebens. Andreas
behauptete gar, Poul habe dem Hass Zugang zu seinem Körper verschafft. In
seinem Tagebuch notierte er am 12. März 1915: „Poul war, nach meiner Mutter, der erste Mensch, durch den mir in
meinem Leben das Böse persönlich nahe kam.“ Ein hartes Urteil über zwei
Menschen, die sich eigentlich nahe stehen sollten. „Andreas und Poul waren wie ein zweigeteilter Mensch, bei dem die
Eigenschaften der einen Hälfte spiegelverkehrt in der anderen Hälfte
existierten. Die Wahrnehmung, die aus dieser Spiegelung entstand, erinnerte in
manchem an Hass, war jedoch etwas ganz anderes, vielleicht Selbstverachtung.
Eine Form von Herablassung, wie sie entstand, wenn man sein Spiegelbild in
einer sich dunkel kräuselnden und verzerrenden Wasseroberfläche betrachtete.“,
schreibt der schwedische Autor.
Håkan Bravinger folgt der autobiografischen Spur der beiden Männer zwischen
den Jahren 1913 und 1925. Mittels intensiver Quellenrecherchen, der Lektüre von
Tagebüchern und Briefen der beiden Männer entstand ein dokumentarisches
Zeitzeugnis derer beider Leben. Bravinger verpackt alles in ein Romankonstrukt.
Manche Ereignisse verschiebt er zeitlich, „um
Platz in der Geschichte zu bekommen“, andere Charaktere und Szenen erfindet
er frei. Zum einen lässt er einen auktorialen Erzähler das Umfeld von Andreas
Bjerre beleuchten, zum anderen das von Poul, in Form eines von Andreas posthum
in der Ich-Form geschriebenen Briefes. Beide Szenarien wechselt er stetig
miteinander ab. So erhält der Leser einen breit gefächerten Einblick in die
Zeit des Umbruchs, des Aufbruchs zu Neuem und Frischen, wie es das beginnende
20. Jahrhundert als solches zeichnet.
Geschrieben ist der opulente Roman in einer einfachen, gut lesbaren
Sprache. Allerdings stolpert man mitunter an einigen Stellen über Ausdrucksweise
und Stil. Ob dies der Übertragung aus dem Schwedischen zu Schulden ist, vermag
nicht beurteilt zu werden. Auch spult sich der berühmte rote Faden nicht
konsequent ab. Bravinger eröffnet zuweilen einen Nebenschauplatz, ohne ihn
konsequent zu durchleuchten und abzuschließen. So bleibt zum Beispiel das
Schicksal Sören Christers völlig im Dunkeln. Auf der anderen Seite wiederum
gelingt es dem Autor ein bravouröses Porträt einer Lou Andreas-Salomé zu
zeichnen, der Poul für einige Zeit verfallen war. Auch das zwiegespaltene Lager
um Freud und Jung arbeitet er vorzüglich heraus.
Fazit:
Schuld, Angst, festgelegte Normen und Konventionen, Tod, Erneuerung und
Liebe sind die Themen in Håkan Bravingers Romandebüt. „Was machen wir mit unseren Erinnerungen? Wie verhalten wir uns, wenn
unsere Erinnerungsbilder nicht mit denen anderer übereinstimmen?“ Diese und
eine Menge anderer Fragen wirft der Autor auf. Entstanden ist das opulente Bild
der Hassliebe der Brüder Poul und Andreas Bjerre und dessen Deutungsversuch.
Ein Buch mit einigen stilistischen Mängeln und einer nicht immer konsequenten
Verfolgung des Handlungskonstrukts, aber trotzdem mit positivem Gesamteindruck.
Eine gelungene Balance zwischen Wirklichkeit und künstlerischer Abbildung, denn
„machmal muss sie verzerrt werden, um
ihrem Kern näher zu kommen, und manchmal muss sie ganz korrekt abgebildet
werden. (...) Wenn man einen Menschen beschreibt deutet man ihn. Jede Biografie
ist per se ein Roman. Und warum auch nicht? Das ganze Leben ist doch eine Frage
der Deutung.“
Håkan
Bravinger
Ein unversöhnliches Herz
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Titel der Originalausgabe: Bära bud
btb
Verlag, München (Oktober 2010)
480
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
344275237X
ISBN-13:
978-3442752379
Preis:
21,99 EURO
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