Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Nathan Warszawski
Seit einigen Tagen ereignet sich Unvorstellbares in Ägypten,
so unvorstellbar, dass nicht einmal die bestbezahlten Experten es vorhergesehen
haben und erklären können. Selbst demokratisch gewählte und ehrenwerte Politiker des Westens, die bis vor wenigen
Tagen vorgegeben haben, die besten Freunde des ägyptischen Diktators sein zu
wollen, krümmen sich vor dem Aussprechen klarer Worte.
Eine Nachricht jagt die andere. Eine Nachricht widerlegt die
vorherige und widerspricht der nächsten.
Weshalb kann niemand erklären, was sich in Ägypten ereignet?
Sind die Wissenden von Blindheit geschlagen? Widerspricht das Erlebte ihrem
Glauben? Und wieso bin ich allein im Besitz der Wahrheit?
Nun, ich bin es nicht. Ich versuche, die Bilder, die über
dem Bildschirm des Laptops und des Fernsehens flimmern zu verstehen, ohne dem sinnlosen
Text zu lauschen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, ein Bild braucht keinen
Text.
Als nächstes definiere ich die Spieler und ihre Absichten. Ich
darf nicht vergessen, dass Ägypten, obwohl in Afrika gelegen, Teil des Orients
ist. Hier haben Worte eine andere, eine besondere Bedeutung.
Es ist nicht lange her, dass in Ägypten Schweine erbärmlich gequält
und getötet wurden, weil ihnen vorgeworfen wurde, für die Schweinegrippe
verantwortlich zu sein. War es vor zwei, oder vor drei Wochen, als den Ägyptern
zur besten Sendezeit in den Nachrichten erklärt wurde, dass der jüdische
Geheimdienst Haie trainiert hatte, Touristen im Roten Meer anzufallen? Und
glauben die meisten Ägypter nicht bis heute, dass die Juden schuldig sind an
der Ermordung der Kopten?
Das klingt unglaubwürdig und mittelalterlich für
abendländliche Ohren. Dann fragen Sie einen Ägypter, wer den letzen Krieg
zwischen Israel und Ägypten 1973 gewonnen hat! Cave! Aberglaube ist ansteckend.
Folgende Akteure spielen in Ägypten mit: Präsident Mubarak, Mubaraks
Sohn mit Entourage: die Technokraten und liberalen Manager, die Armee, das
ägyptische Volk, die Islamisten.
Der „offizielle“ Auslöser der Ereignisse ist die Revolution
in Tunesien. Das tunesische Volk hat seinen Herrscher verjagt, der sich mit 1½
Tonnen Gold im Wert von 45.000.000 $ beschleppt das Land verlassen hat. Die
Familie Mubarak besitzt hingegen ein sicheres Vermögen im sicheren Ausland im
Wert von 40.000.000.000 $.
Tunesien und Ägypten teilen einiges:
Beide sind arabische Staaten, beide liegen im Norden
Afrikas, beide sind korrupt moderate Diktaturen, in beiden herrscht
Vetternwirtschaft, beide Völker sind arm, die Arbeitslosigkeit in beiden
Ländern ist hoch, in beiden Ländern bilden die Menschen unter 30 Jahren die
Mehrheit, es herrscht keine europäische Vergreisung.
Die Tunesier sind
mehrheitlich gebildet.
Interessieren Sie sich noch für Tunesien? Warum hat die
Revolution nicht auf die Nachbarländer Libyen und Algerien übergegriffen? Warum
auf das weit entfernte Ägypten und – wie man (nun seltener) hört –auf den
Jemen? Auch der libysche Diktator ist reif zum Abdanken!
Wissenswertes über Ägypten:
Ägypten ist seit 60 Jahren eine Militärdiktatur. DiePräsidenten waren alle hohe Militärs, Nagib, Nasser,
Sadat, Mubarak. Auch der neue bald starke Mann Omar Suleiman genießt das
Vertrauen der Armee.
Die ägyptische Armee, eine Freiwilligenarmee, genießt bei
der einfachen Bevölkerung ein hohes Vertrauen. Denn das Volk glaubt, dass die
Armee 1973 einen Sieg über Israel errungen hat. In Wirklichkeit siegte die
ägyptische Armee zuletzt im 2. Akt von Verdis Aida.
In einer Militärdiktatur ist die Armee ein Schmarotzer. So
auch in Ägypten. Die einfachen Bauernsöhne erhalten einen Sold, der nicht zum
Leben und nicht zum Sterben reicht. Besser stehen die Offiziere da, die aus der
verarmten Mittelschicht stammen. Reiche Söhne brauchen den Militärdienst nicht
zu fürchten. Hohe Militärs steigen in die Politik auf oder werden nach der
Frühpensionierung mit bestens dotierten Positionen der sozialistischen
Staatswirtschaft belohnt, was die o.g. Korruption und Vetternwirtschaft
perpetuiert.
(Nach der Rückgabe der Halbinsel Sinai durch Israel an Ägypten,
musste sich Ägypten verpflichten, keine großen Armeekontingente auf der
Halbinsel zu stationieren. Dadurch wurde die wirtschaftliche Macht der
ägyptischen Armee im Sinai beschnitten, weshalb die Wirtschaft dort gedeiht.)
In den letzen 10 – 20 Jahren bildete sich im Dunstkreis von
Mubaraks Sohn eine bürgerliche Elite von fähigen Technokraten und liberalen
Managern, die den Militärs ihre Pfründe streitig machten. Solange Papa Mubarak
stark war, hielten sich die Militärs zurück. Nach dem Willen der bürgerlich-demokratischen
Elite hätte Mubarak ihnen schon früher im Vollbesitz seiner Kräfte die
Regierungsverantwortung übertragen sollen, doch der sture Greis weigerte sich.
Den Rest kann sich jeder Leser problemlos zusammenreimen.
Der an Krebs todkranke Präsident ist bereit, seinem Sohn und
dessen Clique von Technokraten und liberalen Managern sein Amt zu übertragen,
was das Ende der Privilegien der Armee und eine Verbesserung der Lebensqualität
der Bevölkerung bedeutet (bei gleichzeitigem Rückgang der Militärimporte aus
den USA). Die Armee nutzt die tunesische Revolution, um Mubarak los zu werden.
Doch die durch und durch korrupte Armee ist zu schwach, den Todkranken zu
vertreiben. Dem Präsidenten gelingt es, die armen gegen die reichen Ägypter aufzustacheln,
um seine Notwendigkeit zu betonen. Die dem Präsidenten hörige unfähige Polizei
löst sich auf. Ihre Waffen werden benutzt, um die Gefängnisse zu stürmen. Die
Familien der gewöhnlichen Kriminellen befreien ihre Verwandten, die Islamisten
ihre Terroristen. Mörder und Diebe bevölkern die Straßen Kairos. Das Volk
bildet demokratische Bürgerwehren. Der Westen ist kopflos und fürchtet um
seinen Einfluss, die USA außerdem um ihre Waffenexporte.
Eine wahrscheinliche Zukunft:
Die Militärs setzen ihre Militärdiktatur mit einem schwachen
Präsidenten fort. Sie werden weiterhin vom Westen verhätschelt, benötigen
trotzdem einen innenpolitischen Partner. Obama schlägt die Islamisten vor, die eigentlich
mit ihrem neuen Verbündeten El Baradei politisch weit abgeschlagen sind. Die
Islamisten machen mit. Das ägyptische Volk geht einer neuen und schlimmeren
Sklaverei entgegen.
In Deutschland steigen die Spritpreise.
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