Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Siegmar Faust
Die SED- und Stasi-Opfer sind
Störenfriede wie einst die überlebenden Juden. Sie sind und waren das schlechte
Gewissen nicht nur der Täter, sondern vor allem der Gleichgültigen, die nicht
so genau hinsehen wollten und möchten. Sie verkörpern die nicht einfach zu
beantwortende Frage nach eigener Verantwortung oder gar Mitschuld. Dass
Menschen großes Unrecht geschah in der DDR, war in Ost und West leicht zu
erkennen. Wer nicht blind war, sondern sich nur so stellte, der wusste mit
welcher Rücksichtslosigkeit die SED ihre Macht verteidigte und auch über
Leichen ging. Und das war sichtbar und sollte es auch sein. Damit aber wurden
die Geschädigten zur Anklage für jeden, der aus nachvollziehbaren Gründen
wegsehen wollte. Das Schreckliche einer Diktatur ist ja nicht bloß ihre
unmittelbare Grausamkeit; es ist ihr perfider Versuch, die Untertanen
permanent zur Gleichgültigkeit, zur Mitleidlosigkeit und zum schlauen Dummsein
zu zwingen, wenn sie schon nicht als Mittäter gewonnen werden können. „Die
Söhne des Teufels“, so der französische Kulturanthropologe René Girard, „sind
jene Menschen, die sich in den Zirkel des rivalisierenden Begehrens
hineinziehen lassen und unwissentlich zum Spielball der mimetischen Gewalt
werden. Wie alle Opfer dieses Prozesses ‚wissen sie nicht, was sie tun’ (Lukas
23,34).“
Die
wie Jürgen Habermas mit ihrer neomarxistischen und zudem „Kritischen Theorie“
jahrzehntelang den durch einen 30-jährigen europäischen Bürgerkrieg im 20.
Jahrhundert blutgetränkten Boden bewässerten und damit den ideellen Sumpf bereiteten,
in dem wir langsam und sicher ersticken, erkennen plötzlich im Alter: „Als
sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen
menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Das zu verstehen fällt
weniger schwer, als die Person zu akzeptieren, die solches sprach. Denn
schließlich könnte es sein, dass es Vor-Gänge gibt, die nicht vergeben werden
können, nicht zuletzt deshalb, weil, so der jüdische Philosoph Emmanuel
Levinas, „die Möglichkeit der grenzenlosen Vergebung zu grenzenlosem Bösen
auffordert“. Dem „Verstehen wollen“ und dem „Verständnis aufbringen“ haftet
selbstverständlich eine moralische Dimension an. Einzelnes lässt sich sowohl
aus dem Ganzen verstehen als auch das Ganze oft aus dem Einzelnen. Das
menschenmögliche Verstehen ist gleichfalls synthetisch wie analytisch, ebenso
Folgerung wie Ableitung. Demzufolge wird unser Dasein zur Gänze erst in dem Verstehen
anderer und in dem Verstandenwerden von anderen und damit in den moralischen
Gemeinsamkeiten der Familie, Religion, Kultur sowie des Volkes samt dem Staat,
aber niemals aus einer Ideologie erfüllt. Ein Schlüsselbegriff sittlicher
Gemeinsamkeit dürfte das „Gewissen“ sein, an dem sich schon Generationen von
Philosophen die Zähne ausgebissen haben beim Versuch, es zu definieren und
damit zu bannen.
In
der marxistischen Variante des Sozialismus wurde dieser Begriff durch das
„sozialistische Bewusstsein“ ersetzt, das zu erlangen jeder solange geschult
wurde, bis der Begriff „Gewissen“ aus der Mode kam. Lediglich bei Marx und
Engels, den Konstrukteuren des „real existierenden Sozialismus“, kam die
Vokabel noch in ihren terroristischen Sätzen vor: „Die Kommunisten machen sich
allerdings kein Gewissen daraus, die Herrschaft der Bourgeois zu stürzen und
ihr ‚Wohlsein’ zu zerstören, sobald sie die Macht dazu haben werden.“ So sehr
sie bezüglich der Zukunftsprognosen auch irrten, hier sahen sie genau voraus,
wie gewissenlos Marxisten nach der Machtergreifung das umsetzen würden, was
sie in einem Satz deuteten. Was sie nicht wissen konnten oder wollten, waren
die Folgen, da schließlich nach dem Untergang der Bourgeoisie auch die
angeblich herrschende Klasse, das Proletariat, selber der Verarmung
preisgegeben ist. Zudem wurden die Arbeitenden in solchen
Arbeiter-und-Bauern-Staaten am meisten geknebelt durch die bürokratische
Herrschaft einer feudalistisch, nein, viel schlimmer: totalitär regierenden
Parteienoligarchie. Und nicht einmal das stimmt, denn es ist unsinnig von
einer Partei zu sprechen, wenn es in den kommunistischen Staaten ohnehin nur
eine maßgebende Partei gab. Denn das Wort Partei bekommt seine Bedeutung nur
durch einen Part am Ganzen, wenn es also mindestens einen echten Gegenpart
gibt. Deshalb ist ein Mensch, der beansprucht, die Wahrheit zu besitzen, nicht
nur kein Philosoph, sondern neigt unabänderlich dazu, gerade weil ihn
utopisch-ersatzreligiöse Vorstellungen antreiben, die ganze Macht an sich zu
reißen, um zum tyrannischen Terroristen zu werden, wenn ihm die Mittel dazu gegeben
sind.
Der
mit religiöser Inbrunst betriebene und als Religionsersatz dienende Führerkult
um Bolesław Bierut, Fidel Castro, Nicolae Ceauşescu, Hitler, Enver Hoxha, Saddam
Hussein, Kim Il-sung, Kim Jong-il, Lenin, Mao, Mugabe, Nijasow, Stalin und
viele andere zeigt den Grad der Domestizierung großer Bevölkerungsteile genauso
an wie den Vorrang des Zynismus, den unter solchen Bedingungen intelligente
Menschen erreichen, wenn sie keine Chance sehen, die Verhältnisse zu ändern
oder solcher Tyrannei zu entkommen. Es ist solches von außen, aus einem
anderen System der Lebensform heraus, schwer nachzuvollziehen.
Der
polnische Literatur-Nobelpreisträger litauischen Ursprungs Czesław Miłosz, der
sich als Diplomat zunächst dem Kommunismus verbunden fühlte, jedoch bald dessen
schärfster Kritiker wurde und ins Exil ging, hat mit als Erster versucht, dem
Rest der Welt in seinem Buch „Verführtes Denken“ auf hohem sprachlichem,
psychologischen und politischen Niveau - und trotzdem anschaulich! - die geistige
und moralische Zerstörung bis hin zur Auflösung des Denkens unter den sich auf
Marx, Engels, Lenin und Stalin berufenen Diktatoren des Ostblocks zu erklären.
Wäre er grundlegend verstanden worden, hätte es dann 15 Jahre darauf zu einer
Renaissance des Marxismus an den westlichen Universitäten kommen können?
Es
ist ja noch schlimmer, denn schon 1950 erschien Wilhelm Röpkes Buch „Maß und
Mitte“. Darin wurde erkannt, „dass die kommunistische Variante des Totalitarismus
die nationalsozialistische gerade in denjenigen Hinsichten, auf die es
ankommt, eher noch übertrifft“. Zu Recht fragte er, der auch den Totalitarismus
der Hitler-Diktatur von Anfang an durchschaute und ihm widerstand, warum
man immer wieder, trotz aller Offensichtlichkeit, „klugen und wohlmeinenden
Menschen“ begegnet, darunter sogar Christen, „die sich an den weniger wesentlichen
Verschiedenheiten zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus
klammern, um die Gleichheit im Wesentlichen zu leugnen“. Der Kommunismus war
vom Wesen her weit gefährlicher als das NS-Regime, was sich aus der Tatsache
ableitet, dass der Nationalsozialismus auf einer biologischen Rassen- oder
Auserwähltheitslehre gründete, die wohl kaum einen Eskimo oder Afrikaner zur
Ideologie des Germanischen „Herrenvolkes“ bekehrt und damit keine Chance
gehabt hätte, „zu einem wirklichen Pseudo-Islam zu werden“. Der vom Marxismus-Leninismus
ausgehende Kommunismus hingegen war „durch den universell-rationalistischen,
an den ‚linken’ Überlieferungen anknüpfenden Charakter seines Programms –
nicht eine partikuläre, sondern eine universalistische
Pseudo-Religion“.
Marx
verkündete, dass der gesetzmäßig kommende Kommunismus über die Zwischenetappe
Sozialismus die Menschen, besonders des ausgebeuteten Proletariats, von ihren
Fesseln befreien werde. Sie haben ja angeblich nichts weiter zu verlieren als
ihre Ketten. Danach, wenn den kapitalistischen Ausbeutern der Garaus gemacht
worden sei, müsste sich keiner mehr um eine fremde Sonne drehen, sondern könne
endlich, der Entfremdung von sich selber entledigt, seine volle Menschlichkeit
entfalten, um „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags
zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich
gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Aus
der Fülle des nach Plan mit volkseigenen Produktionsmitteln Produzierten
könne sich dann jeder nach seinen Bedürfnissen ohne Geld bedienen.
Der
von Friedrich Engels vorhergesagte „Sprung der Menschheit aus dem Reich der
Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ würde den im Paradies auf Erden
lebenden Menschen auch dorthin führen, „wo das Arbeiten, das durch Not und
äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache
nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion“. So könnte
in Kurzform die angeblich wissenschaftliche Erlösungs-Botschaft von Marx &
Engels zusammengefasst werden, ohne diese hymnischen Verkündungen mit jenem
Sarkasmus und Zynismus kommentieren zu wollen, der ansonsten den Stil dieser
Vielschreiber ausmacht. Wie soll schon in einigen Jahren noch verstanden
werden, welchem aberwitzigen Aberglauben die Mehrheit der meinungsführenden
Intellektuellen über hundert Jahre lang aufgesessen waren? Es wäre ja nur eine
Vorhaltung zum geistreichen Thema Dummheit wert, wenn da nicht endlose
Verwüstungen an Kulturen und Traditionen zu beklagen wären, ganz zu schweigen
von den vielen Millionen Menschenopfern im Namen kommunistischer
Gewaltherrschaft. Das sei nun längst schon Geschichte und nicht mehr virulent?
Wie ist es dann zu verstehen, dass nach einer „Spiegel“-Umfrage aus dem Jahre
2005 zwei Drittel der Mitteldeutschen und überraschend viele Westdeutsche,
nämlich 56 Prozent, der Meinung sind, der Sozialismus sei „eine gute Idee, die
bislang nur schlecht ausgeführt worden ist“? Rational lässt sich das wohl kaum
noch erklären.
Erich
Rothacker, Begründer der
geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie, unterschied zwischen dem
Verstehen und den beiden „rationalen Wegen des Begreifens und Erklärens“. Das
Verstehen nutze zwar die „rationalen Möglichkeiten“, aber „die Begriffe haben
für das Resultat keine konstruktive, sondern nur eine erläuternde Bedeutung“.
Das erklärt einiges, aber beileibe nicht alles. Karl Jaspers widmete dem Buch
„Verführtes Denken“ ein Vorwort, aus dem weit reichendes Verständnis durch
Erfahrung spricht: „Die Sklavenschaft des Geistes in totalitären Staaten, die
wir Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus äußerlich in den
Redewendungen, Gebärden und Handlungen des damaligen Alltags, innerlich in der
Anschauung dessen, was in den einzelnen Menschen vorging, erfahren haben, wird
hier an den Erscheinungen der östlichen Volksdemokratien, besonders Polens, in
einer Weise gezeigt, die wahrhaft ergreift, uns Deutsche vielleicht mehr noch
als die westlichen Völker, denn wir sind Mitwisser dessen, was hier in
polnischer Abwandlung gezeigt wird.“ Solche selbstverständlichen Einsichten
wurden anschließend durch die Wohlstands-Revoluzzer der 68er-Generation, die
alles bestritten außer ihren Lebensunterhalt, regelrecht kriminalisiert.
Weit
unter Diltheys, Jaspers, Heideggers, Gadamers und NoltesNiveau fiel der zum bundesdeutschen Staatsdenker stilisierte
„Ayatollah vom Starnberger See“ zurück, denn seine soziologische Wissenschaft
beförderte vorerst lediglich die Auflösung der Lebensbindungen und eine
übertriebene Distanz zur eigenen Nationalgeschichte, die auf die 12-jährige
Herrschaftsverwerfung der Nationalsozialisten reduziert wurde. Freilich
musste diese Katastrophe analysiert und begriffen werden, um verständlich zu
sein, aber solches funktioniert schlecht auf Kosten geschichtlicher
Selbstdurchsichtigkeit der gesamten Geschichte - ohne gleich Hegels
umstrittenes Diktum „Das Wahre ist das Ganze“ in Anspruch nehmen zu wollen.
Gadamers Hermeneutik, in der das Verstehen zum Gegenstand der Besinnung
gemacht wurde, verdeutlicht, „wieviel Geschehen
in allem Verstehen wirksam ist und
wie wenig durch das moderne historische Bewusstsein die Traditionen, in
denen wir stehen, entmächtigt sind, so werden damit nicht etwa den
Wissenschaften oder der Praxis des Lebens Vorschriften gemacht, sondern es
wird versucht, ein falsches Denken über das, was sie sind, zu berichtigen“.
Viele
zeitgenössische Soziologen und Spezialphilosophen haben zudem ihr „falsches
Denken“ in wirren, dennoch ausgetüftelten Sprachorgien abgelassen, das sich als
Soziologen-Kauderwelsch einen Namen machte. „Worauf“, entgegnete der damals
fast 100-jährige Gadamer in der Frankfurter Paulskirche 1999, „soll eine
Nation noch ihren Stolz gründen, wenn nicht auf das Wunder der Muttersprache?“
Die Bannerträger des (un)deutschen Sonderweges sind sich ja einig, dass es
keinen Grund zum Stolzsein mehr geben dürfe in unserem verblühenden
Staatswesen, das nur noch zu einem Verfassungspatriotismus tauge und dessen Mythos
sich auf Auschwitz gründe. Der Klassenkampf von oben, - vielen Schülern keinen
Bildungskanon mehr vermittelnd, weder in Literatur, Geschichte oder Religion
- tobt sich zwar langsam aus, aber die Schäden scheinen irreversibel zu sein.
Die linken Gutmenschen, stets auf der Seite des Fortschritts, päppelten sich
regelrecht aus ihren politisch, pädagogisch und kulturell verwahrlosten
Kindern ein rechtsextremes Potenzial heran, um weiterhin die Nationalsozialisten
und jene, die sie dafür halten, zum absoluten Bösen erklären und mit großer
Kelle aus dem Steuertopf ihren im Ansatz schon totalitären „Kampf gegen
rechts“ führen und von ihrem Versagen gegenüber der 2. totalitären Diktatur
in Deutschland ablenken zu können. „Mit Geschichtswissenschaft hatte das
nichts zu tun“, stellte Ernst Nolte in einem Interview lapidar fest, „eher
mit dem Entstehen einer neuen Religion vom absoluten Bösen, dem wir uns
entgegensetzen, um uns dadurch als Gute zu empfinden.“
Der
vulgäre Ausfluss solchen Unbedenkens der Gutmenschen, die sich weniger um ein
Verstehen, desto heftiger freilich um Urteile bemühen, äußert sich kurz und
brutal in solchen Graffitisprüchen wie: „Feuer und Flamme für diesen Staat!“,
„Polen muss bis Holland reichen, Deutschland von der Karte streichen“ oder
kurz und bündig: „Deutschland verrecke!“ Die „Früchte des Zorns“ scheinen besonders
gut auf einem humanen, soll heißen: liberalen und pluralistisch-demokratischen
Boden zu wachsen. „Wenn wir leben wollen, müssen wir uns beeilen“, sagen
sich die so genannten „Autonomen“ zur Rechtfertigung ihrer Gewaltbereitschaft.
Und so sehen sie „die Scheiße“, in der sie angeblich „schon bis zum Halse stecken“:
„Das Leben vegetiert zwischen Maloche, Kaufzwang und Glotze. Die Jungen werden
eingekreist, die Alten nach einem betrogenen Leben in Heime weggeschlossen und
die Rente gekürzt; die dazwischen sind neurotisch und werden wie nie zuvor
auf Effektivität getrimmt oder ausgesondert und arbeitsmarktmäßig ‚saisonbereinigt’
oder auch nicht. Die Frauen sind ‚doppelbelastet’, Ausländer, Alte und
Studenten bilden ‚Negativgruppen’ in ‚Problemgebieten mit Veränderungsdruck’
und werden wegsaniert. Die Gefangenen werden lebendig in Beton eingemauert,
die Irren mit Chemie abgeschaltet. Aus Liebenden sind längst Partner geworden,
aus Erfassung und Entmündigung ‚Sozialfürsorge’, aus weißer Folter ‚Therapie’
und aus Atomlagern ‚Entsorgungsparks’. Aus Kriegsgegnern sind ‚gefährliche
Pazifisten’ geworden, aus Kriegstreibern ‚Männer des Friedens’ und aus der
entsetzlichen Auspressung der 3. Welt der ‚Nord- Süd- Dialog’. Der Regen ist
sauer, die Luft krebserregend, das Wasser längst umgekippt, die Erde voller
Atomsprengköpfe und wenn man Sprengstoff fressen könnte, gäb’s keinen Hunger
mehr auf der Welt, denn bereits auf jedes Baby kommen ein paar Tonnen.“ (Aus
Texten der Revolutionären Zellen/Rote Zora: „Feuer und Flamme für diesen
Staat.“)
Das
ist offensichtlich ein Welt-Bild unterhalb der Bild-Zeitung. Und trotzdem reicht
diese einfältige „Weltanschauung“ bis weit in die Reihen der ältesten
demokratischen Partei Deutschlands hinein, ganz abgesehen von der
Melonen-Partei, die außen grün und innen rot mit braunen Kernen daherkommt. Der
preisgekrönte Film „Der ewige Gärtner“ bedient ihre Klischees. Der Regisseur
von Dokumentarfilmen über Opfer des Kommunismus, Dirk Jungnickel, kommt
angesichts einer Filmdokumentation, die er besprach, zu der Einsicht: „Was den
Umgang mit Kommunisten betrifft, hat die deutsche Sozialdemokratie aus eigener
leidvoller Geschichte wenig gelernt. Gemeinsame Wurzeln bei Marx verhindern
bis heute eine konsequente Gegnerschaft zu den Kommunisten. Die daraus
resultierende ideologische Virulenz bereitete bei Lichte besehen auch den
Humus, auf dem die PDS gedeiht und durch den die fossilen Schergen des MfS
derzeit wieder hervorzukriechen wagen.“
Hier
sind wohl höhere Leistungen des Verstehens gefordert, denn es dürfte - wie bei
den Rechtsextremisten auf der anderen Seite des Spektrums - der Zusammenhang
zwischen „Erlebnis, Ausdruck und Verstehen“ (Wilhelm Dilthey) erkennbar gestört
sein. Von den aufgezählten „Problemen“, die keineswegs nur aus der Luft
gegriffen sind, haben die Wohlstands-Revolutionäre freilich die wenigsten
„erlebt“ oder auch nur mitfühlend durchdacht. Sie gieren, oft aus Verwilderung
heraus, die sich als jugendlicher Leichtsinn tarnt, nach extremen
Erlebnisformen und orientieren sich an dem gefährlichen Leben der Freischärler,
Revolutionäre, Rebellen, Autonomen oder Stadtguerillas. Ihr Lebenssinn speist
sich aus Verachtung gegenüber dem Spießer, dem „normalen“ Leben und der von
ihnen so empfundenen Wirklichkeit. Ihr Ausdrucksvermögen besitzt die Spannweite
zwischen vulgär, kindlich, agitativ bis hin zu unkonventionell, originell und
witzig, jedoch durchgehend ohne philosophische Tiefe, die Marx und seine
Adepten auch kaum fördern dürften. Ihr Nichtverstehenwollen der Umwelt, das
einer Verachtung bis hin zum Hass gleichkommt, resultiert aus utopischen und
märchenhaften Modellen, die teils aus Kinderfernsehsendungen, zumeist aber aus
den bekannten Utopien der Marxisten und Anarchisten jeder Spielart stammen,
manchmal auch aus den Büchern religiöser Sektierer.
Es
versteht sich von selber, dass narzisstische „Revolutionäre“ sich nicht im
Geringsten um jene bemühten, die man jetzt so kurzerhand zur „abtretenden
Erlebnisgeneration“ rechnet. Ja, die Überlebenden des letzten Weltkrieges und
des sich daran anschließenden Martyriums von Millionen Flüchtlingen,
Heimatvertriebenen, Verschleppten und Verhungerten, besonders gedacht der
Zigtausenden von unschuldigen Jugendlichen zwischen 12 und 21 Jahren, die in
den Kellern des sowjetischen Geheimdienstes gedemütigt, gefoltert, zu Falschaussagen
erpresst, schließlich ermordet oder anschließend qualvoll in so genannten
„Speziallagern“ oder in den Kohlegruben Workutas verreckten, spüren natürlich
ebenso wie die überlebenden Juden eine stark motivierte Verpflichtung, durch
ihre Zeitzeugenschaft diese Untaten nie in Vergessenheit geraten zu lassen.
Inbrünstig mahnen sie, damit sich solches nie wiederhole, was sie erlebten und
durchlebten, und dies oft mit Schuldgefühlen jenen gegenüber, die nicht
überlebten.
Was
die mit Gaskammern ausgerüsteten „Todeslager so fürchterlich macht“, schrieb
die amerikanische Philosophin Susan Neiman, „ist für viele gerade dieses
pervertierte Zusammenspiel von industrialisiertem Töten und einem Anspruch auf
Menschlichkeit“, denn die Gaskammern seien erfunden worden, „um den Opfern
schrecklichere Arten des Sterbens zu ersparen – und den Mördern einen Anblick,
der ihr Gewissen hätte beruhigen können“. Ein Trost, dass solche Gedanken, die
zwar dem Verstehen, jedoch nicht irgendeiner Verharmlosung dienen, von einer
Jüdin ausgedrückt wurden; ein Deutscher hätte sich da um Kopf und Kragen
geredet. Auch der russisch-jüdische Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky
„hätte den schnellen Tod in einem deutschen KZ dem langsamen Dahinsiechen in
einem sowjetischen Straflager vorgezogen“, wusste sein deutscher Freund Hans
Christoph Buch zu berichten. Brodsky wurde 1964 in der Sowjetunion wegen
„Parasitentums“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die er in der Gegend
von Archangelsk verbringen musste, aber bereits nach 18 Monaten entlassen.
Später lebte und starb er in den USA. Er bekam also einen nachhaltigen
Eindruck von dem, was sein Landsmann und Kollege Alexander Solschenizyn in
seinem begriffsbildenden Buch „Der Archipel GULAG“ Westeuropäern und den
US-Bürgern nahe zu bringen versuchte. Er lieferte darin mit literarischer
Potenz eine materialreiche und wirklichkeitsgetreue Aufarbeitung des Systems
der politischen Verfolgungen, Verhaftungen, Untersuchungsgefängnisse, der
Verhöre, Folter, Verurteilungen und anschließender Straflager mit ihren
unmenschlichen, durch Hunger, Kälte, Überanstrengung, unhygienische Zustände,
Krankheiten und mangelnde medizinische Versorgung geprägten Lebensbedingungen,
die – wohlgemerkt: zu sozialistischen Friedenszeiten! – Millionen
Menschenopfer kosteten.
Solschenizyns
Berichte sind nach der Möglichkeit von Akteneinsichten und Befragung von Zeugen
von der jüdischen Journalistin Anne Applebaum bestätigt worden. Zugleich bestätigt
sie die Thesen Ernst Noltes vom Wesenszusammenhang beider sozialistischen
Systeme, indem sie schreibt: „Beide Systeme entstanden nahezu zur selben Zeit
auf demselben Kontinent. Hitler wusste von den sowjetischen Lagern, und Stalin
vom Holocaust. Manche Häftlinge haben beide Arten von Lagern erlebt und
beschrieben. Irgendwo in großer Tiefe gibt es Zusammenhänge.“ In beiden
totalitären Systemen, so führt sie des weiteren aus, wurden die Menschen nicht
dafür festgesetzt oder ermordet, was sie getan oder unterlassen haben, „sondern
dafür, was sie waren.“
Wie
lässt es sich verstehen, dass Intellektuelle, allen voran die
kulturrevolutionären Kräfte der 68er Bewegung, Sympathien entwickelten zu
Ländern, die von einer Partei regiert wurden und teils noch werden, die
sämtliche Gewalten ausübt: die regierende, politische, ökonomische,
legislative, jurisdiktive, gewerkschaftliche, polizeiliche, militärische und
natürlich auch die Informationsgewalt? Wie lässt sich verstehen, dassbedeutende westeuropäische oder amerikanische
Dichter und Denker wie Louis Aragon, Henri Barbusse, Simone de Beauvoir,
Ernesto Cardenal, Theodore Dreiser, Paul Eluard, Max Frisch, André Gide, Oskar
Maria Graf, Graham Greene, Nicolás Guillén, Ernest Hemingway, Abbie Hoffmann,
Haldór Laxness, Sinclair Lewis, Gabriel Garcia Márquez, Jan Myrdal, Pablo
Neruda, Luise Rinser, Romain Rolland, Jean-Paul Sartre oder Elsa Triolet, um
nur ein paar zu nennen, kommunistische Tyrannen und Massenmörder anhimmelten
und wie Götter verehrten? Wie lässt sich verstehen, dass in den siebziger
Jahren offensichtlicher Grundkonsens in den europäischen Wohlstandsstaaten die
Zerstörung des „kapitalistischen Systems“ unter Jugendlichen und Intellektuellen
war? Freiheit, Menschenrechte? Das seien alles nur Phrasen, um den wahren
Terror, der vom Kapital und dem Eigentum an Produktionsmitteln ausgehe,
verschleiern zu wollen. Marx und Lenin lehrten bekanntlich, dass
Grundfreiheiten, solange das Kapital herrscht, nur formal existierten. Der um
das Jahr 1968 herum dominante Herbert Marcuse, der als Heidegger-Schüler
übertrieben weit vom Stamm seriösen Denkens fiel, glaubte hinzufügen zu
müssen, dass die Toleranz, je großzügiger gehandhabt, desto „repressiver“ sei.
Zur Rechtfertigung der „Null-Bock-Generation“ diente das von ihmvorgegebene Schlagwort der „Großen
Verweigerung“. In seinem 1967 vor Studenten der freien Universität Berlin
gehaltenen Vortrag bezeichnete er die Negation der bestehenden Gesellschaft
als Voraussetzung zur Transformation menschlicher Bedürfnisse. Es bedürfe einer
jenseits der judäo-christlichen Moral stehenden neuen Moral, welche die vitalen
Bedürfnisse nach Freude und Glück erfülle und ästhetisch-erotische
Dimensionenen umfasse. Er befürwortete ein Experiment der Konvergenz von
Technik und Kunst sowie von Arbeit und Spiel. In dieser Rede prägte Marcuse den
Begriff vom möglichen „Ende der Geschichte“, der nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus von dem amerikanischen Politologen Francis Fukuyama (geb. 1952)
lediglich wieder aufgewärmt wurde.
Die
Freiheit des Denkens, die stets ihre Grenzen durch das Noch-nicht- oder
Nicht-mehr-Verstehen gesetzt bekommt, wirft immerhin die Frage auf, was
geschieht, wenn utopische Denkspiele die Schranken unserer sich langsam über
die Jahrhunderte entwickelte Spanne zwischen Vernunft und Unvernunft ignorieren
und damit diskursunfähig werden?Das vom
Staat durch Professorengehälter „ausgehaltene“, aber von der Gesellschaft kaum
noch auszuhaltende Denken feiert die Emanzipation von allem Absoluten. „Damit
wird allbeherrschend“, so Röpke, „die Willkür und die Beliebigkeit. Kein
Gedanke, keine Möglichkeit ist mehr ausgeschlossen. Keine festen Grenzen, keine
unverrückbaren Punkte, kein unnachgiebiges Fundament geben mehr Halt. Wir
bewegen uns geradlinig hin auf eine Welt der völligen Willkür, in der alles zu
erwarten ist, in der jede Art von Philosophie oder Kunst grundsätzlich
zulässig erscheint, in der jede Art von Verhalten der einzelnen und der
Regierungen denkbar wird und man auf alles, auch das Absurdeste und Abnormste,
gefasst sein muss.“ Für moderne Denker
wie den 1950 geborene Max Lorenzen hat sich „die gesellschaftliche Werteskala“
natürlich ebenso verschoben: „Die Tugenden der Befehlsgewalt, bzw. des
Gehorsams und der Unterwerfung, der Demut und Opferwilligkeit, auch des Ertragens
von Schicksalsschlägen, die früher das Streben nach Lust verdecken sollten,
lösen sich entweder auf oder treten in die zweite Reihe, wohingegen in der
ersten nun das früher Verpönte: Lustgewinn, ‚Spaß’, Abwechslung, steht. Ich
halte diese Entwicklung in mancher Hinsicht für positiv, weil sie eine
Demokratisierung und Enthierarchisierung bedeuten kann…“ Hartmut Lange, ein 1965 aus der „DDR“
geflohener Schriftsteller, der, obwohl sich damals noch als Marxist verstehend,
schon früh die trostlosen Folgen der Aufklärung benannte, widerspricht heute
solcher Geschichts- und Traditionsverachtung und verteidigt „die
Glaubenssehnsucht des Einzelnen, der etwas sucht, zu dem er gehören kann,
etwas, das größer ist als er selbst“. Lange antwortete Lorenzen
unmissverständlich: „Es gibt durchaus eine Struktur des Manselbst, die Spaß am
Leben haben will, weil sie sich vor der ‚sich selbst gewissen Freiheit zum
Tode’ fürchtet. Aber eine Gesellschaft, die die sinnstiftende, normative Kraft
‚der sich selbst gewissen Freiheit zum Tode’ nicht mehr aufbringen kam, ist
verloren. Sie endet in der Freizeitindustrie oder in der Spaßgesellschaft, die
das Streben nach der sittlichen Vernunft aufgegeben hat oder einfach nicht
mehr kennt.“Für
Lange und andere zumeist diktaturerfahrene Dichter und Denker hat sich die
gesellschaftliche Werteskala im Grundsätzlichen nicht verschoben. Da sich
jedoch trotz der weltweiten Ausbreitung der Philosophie Heideggers in unserer
Alltagskultur die „Seinsvergessenheit“ ausbreitet, dürften die Spannungen
zunehmen, die sich irgendwann und irgendwie wie ein Gewitter entladen wollen.
Ist das der Lauf der Dinge? Darf „man“ das so verstehen? Das „Man“, das
Heidegger so treffend analysierte, darf alles, weil es nichts zu verantworten
hat. Es ist die „Öffentlichkeit“, die vom Zeitgeist beherrscht wird. Darin ist
jeder „der Andere und Keiner er selbst. Das Man,
mit dem sich die Frage nach dem Wer
des alltäglichen Daseins beantwortet, ist Niemand,
dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.“Lange
führt an, dass keine Werteskala einer Philosophie der geschlossenen Systeme es
vermochte, das „nicht festgesetzte Tier“ im Menschen, von dem Nietzsche
schrieb, zu domestizieren. Sein Fazit: „Der Kampf zwischen
Zivilisationsbestreben und Triebstruktur dauert an.“ Das heißt: Das Leben
bleibt spannend. Der Auflistung derer, die einst tyrannische Ersatzgötter
anhimmelten, kann eine noch längere Liste derer entgegengesetzt werden, die als
Renegaten, Dissidenten, Verräter, Abtrünnige, Überläufer und ähnlich zu
bezeichnen sind, weil sie als ehemalige Marxisten und Kommunisten bis hin zu
hohen Funktionären wie Günter Schabowski erkannten, dass die immer gefährdete
Welt weder mit einer Utopie, einem Superman, noch mit Gewalt oder einer
Einheitspartei zu retten ist: „In wenigen Monaten waren drei Varianten
kommunistischen Machterhalts in die Binsen gegangen. Erst stürzte Erich Honecker.
Die Brutusse um Egon Krenz fielen einer Abräumung zum Opfer, an der noch Markus
Wolf, Gregor Gysi und Hans Modrow beteiligt waren. Dann sagte das Volk in der
ersten freien Wahl am 18. März 1990, nun ist es genug. Auch die
KGB-Sondierungen hatten so im Kleinen nur einen weiteren Beweis dafür erbracht,
was im Großen längst offenbar war: Sozialistische Prophetie und
kommunistischer Machbarkeitswahn hatten ihr Ende gefunden. Sie liefen, wo sie
noch zuckten, ins Leere.“ Und nach einer Besinnungspause fügte Schabowski
gedämpft hinzu: „Ins Leere? Frag ich mich heute. In ihrer damaligen
Fassungslosigkeit ahnten die roten Bankrotteure wohl nicht, dass sie nicht in
den Orkus, sondern ins Gehege der Demokratie geraten waren. Bald sollten sich
für sie neue Weideplätze finden.“Wolf
Biermann, der einst Philosophie und Mathematik studierte, wurde der bedeutendste
Liedermacher, den die DDR je hatte und 1976 des Landes verwies. Er kam nach langem
Festhalten an der Grundauffassung seines Vaters, der als Kommunist und Jude in
Auschwitz ermordet wurde, ebenfalls zu neuen Erkenntnissen: „Ich bin inzwischen
der Ansicht, dass die Leute, die eine kommunistische Gesellschaft anstreben,
ein Paradies, in dem es keine Klassengegensätze, in dem es keine
antagonistischen Konflikte gibt, ein Narrenparadies suchen, in dem der Löwe
Gras frisst.“Auf
die Frage, warum eigentlich den intellektuellen Profiteuren der „Diktatur des
Proletariats“ der volkseigene Staat samt „Volkskammer“, in der er ebenfalls
saß, abhanden kam, wusste der oberste DDR-Schriftstellerfunktionär und
inoffizielle Stasi-Mitarbeiter Hermann Kant nur gewunden zu antworten: „Wir
hätten – das hört sich komisch an, wenn ich das 2006 sage, aber ich habe es ja
vorher auch gesagt – wir hätten auf die Überredungskraft, die wir in Vorzeiten
hatten, weiter vertrauen müssen…“ Ah, ja!
Überredungskunst. Hier wären Filme von Zeitzeugen einzublenden, die zeigen, was
Kommunisten unter Überredungskunst in ihrer urwüchsigen Form verstanden haben.
Heinz Schwollius aus Potsdam war 16 Jahre alt, als er 1946 wegen angeblicher
Werwolftätigkeit völlig unschuldig mit anderen Jugendlichen von einem
sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und später begnadigt wurde,
während man die anderen erschossen hatte. Er erinnert sich: „Die Anzahl meiner
Vernehmungen vermag ich nicht genau zu sagen, denn nach der 50. war ich nicht
mehr in der Lage, diese zu zählen. Die Vernehmungen zogen sich wochenlang hin,
nur mit dem Ziel, völlig absurde Geständnisse zu erpressen. Als besonders
brutal, ja, sadistisch habe ich weibliche Dolmetscherinnen in Erinnerung.
Irgendwann unterschrieb jeder alles, was man ihm nur vorlegte, dazu in einer
Sprache, die keiner verstand. Wir fühlten uns mehr als Tiere, denn als
Menschen, obwohl sie ihre Hunde besser als uns behandelten. Besonders wenn sie
betrunken waren, was öfters vorkam, kam es zu wilden Prügelorgien. Als ich vom
Vernehmer gefragt wurde, wer mich so zugerichtet habe, sagte ich wahrheitsgemäß
aus. Die Folge war, dass ich sowohl von ihm als vom Dolmetscher und dem anwesenden
Posten brutal zusammengeschlagen wurde. Danach zündete sich der Vernehmer
genüsslich eine Machorka an, während der Dolmetscher schrie: ‚Warum lügst Du?
Ein russischer Soldat tut so etwas nicht!’“ Dazu kamen die Verhältnisse, in
denen die Überredungskünste ausprobiert wurden: „Ohne Reinigungsmöglichkeiten
und medizinische Versorgung vegetierten wir wie Aussätzige dahin. Krätze und Läusefraß,
von Wanzen fast aufgefressen verfaulten wir am ganzen Körper buchstäblich bei
lebendigem Leibe. Die Wunden eiterten so stark, dass uns der Eiter am Körper
hinunterlief, sobald wir uns nur bewegten.“ Freilich,
die Verhältnisse, in denen am Ende die Überredungskünste nichts mehr nützten,
hatten sich im Lauf der Jahre verändert. Anstelle des massenhaften Einsperrens
und brutalen Folterns ging man bald weicher, psychologischer vor. Die
„Zersetzung“, so der Fachausdruck, von Familien, Freundeskreisen und Personen
hinterließ kaum Spuren der Täter, aber genauso brutale Folgen. Die DDR war
neben Ungarn Weltmeister in der Selbstmordquote. Die geheime Staatspolizei,
offiziell Ministerium für Staatssicherheit (MfS), umgangssprachlich Stasi
genannt, wurde zur größten Netzwerk-Firma der DDR ausgebaut. Die allgegenwärtige
Bespitzelung kam erst nach dem Zusammenbruch ans Licht: Der Stasi-Experte im
Westen, Karl-Wilhelm Fricke, der selber vier Jahre in Bautzen saß, schätzte,
dass es hauptamtlich 17.000 Stasi-Mitarbeiter gab. Nach dem Zusammenbruch
stellte sich jedoch heraus, dass etwa 91.000 Personen hauptamtlich beschäftigt
waren und 189.000 inoffiziell spitzelten. Damit arbeitete also jeder 60.
DDR-Bewohner für dieses geheim operierende Organ zum Schutze dieses
Unrechtsstaates. Die nichtmilitärischen Außenposten der Stasi, wie
Kaderleitungen und andere Kontroll- und Zensurorgane, sind hier nicht
einbezogen. Sechs Millionen personenbezogene Akten wurden vom MfS in vierzig
Jahren zusammengetragen, Briefe massenhaft geöffnet und gelesen, Telefongespräche
abgehört, mitgeschnitten. Sogar Geruchsproben von Oppositionellen sammelte die
Stasi, um sie bei Bedarf mit Spürhunden verfolgen zu können. Zur Praxis der
Einschüchterung gegen Uneinsichtige oder Unbestechliche gehörten auch
Morddrohungen und Entführungen. Terroristen aus dem Westen erhielten in der DDR
Unterschlupf sowie eine neue Identität. Es stellte sich also heraus, dass die
Methoden des DDR-Regimes noch grausamer waren, als von den meisten Opfern und
Kritikern vermutet, obwohl Akten, die ihre Mordanweisungen und Terrorkonzepte
bargen, bis auf winzige drei Ausnahmen noch vernichtet werden konnten. Vieles
ließe sich nun mühsam auflisten und bezeugen, aber philosophisch bleibt zu
fragen, was steckt hinter dieser Erscheinung, was macht ihr Wesen aus? Das
Globalisierungsdenken, hinter dem sich kollektivistische Ambitionen
verbergen, zielt auf ein Ende der Nationalisierung des Menschen. Die bis ins
Perverse hineinreichenden Emanzipationsbestrebungen, aus denen hervorsickert,
dass einem nicht nur das angeborene Geschlecht, die Zeugung und Erziehung
eigener Kinder, manchem Architekten gar die Schwerkraft oder einigen
Philosophen - ja, sogar Politikern! - die Muttersprache lästig wird, entwurzeln
den Menschen, befreien ihn angeblich von allen Fesseln und aus Zwingburgen.
So revoltiert er, oft schon auf der kriminellen Schiene und zudem vom Staate
sozial subventioniert, gegen die „Launen der Natur“, führt mit Lenin unter der
Frage „Was tun?“ einen „Kampf gegen die Spontaneität“, andererseits gegen
alle gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, die nicht seiner Utopie von einer
freien, gleichen und zudem brüderlichen Weltordnung entsprechen. Wie
und womit verteidigt sich die Gesellschaft? Indem sie sich, wie Günter Rohrmoser
erkennt, „an der Gegenwart festkrallt, gegen die Zukunft schlechthin und den
Glauben an eine sinnvolle lebenswerte Zukunft. Ich bin überzeugt, dass diese
katastrophale Geburtenentwicklung mit diesem Verlust an Zukunft,
Zukunftsglaube und -zuversicht zutiefst zusammenhängt. Ein Volk, das für sich
keine bessere, wenn auch vielleicht andere Zukunft mehr sieht, hat keinen Grund
mehr, als das zu tun, was die Deutschen tun, nämlich zu verteidigen, was sie
haben und das um fast jeden Preis.“Die christliche Trias „Glaube,
Hoffnung, Liebe“ wurde längst durch die von allem Anfang blutgetränkte Propagandaformel
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der französischen Revolutionäre
verdrängt. In einer Rede über die Organisation der Nationalgarden sprach sich
der „Blutrichter der Französischen Revolution“, Maximilien de Robespierre, im
Dezember 1790 dafür aus, die Worte „liberté, égalité, fraternité“ auf alle
Uniformen und Flaggen zu schreiben. Obwohl das Vorhaben nicht angenommen wurde,
dürften diese drei abstrakten Ideen dennoch mit zu den bekanntesten der Welt
geworden sein. Doch anstelle des erwarteten Weihnachtsmanns und seiner
Heinzelmännchen ritten die Apokalyptischen Reiter heran.
Ist
es wirklich nur eine Entartung, dass jene Marxisten, die sich am heftigsten auf
die Wertetrias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beriefen, solche und andere
Werte im Blut ertränkten? Die bestialischen Züge der Französischen Revolution
führten notwendig zu den bisher noch nicht überbotenen Massenmorden nationaler
oder internationaler Sozialisten, die nicht nur die individuelle Freiheit
abzuschaffen trachteten und den Staat zu einem totalitärem, militanten und
streng isolierten Sklavenhaltersystem herabwürdigten, sondern auch jede
Brüderlichkeit durch Misstrauen, Spitzelwesen, Angst und Schrecken
vereitelten. Die Französische Revolution darf daher mit Fug und Recht als Geburtsstunde
des europäischen Totalitarismus bezeichnet werden. Aus dem Kontext der
religionspolitischen Kämpfe in Frankreich stammt auch der Begriff
„Dechristianisierung“, der in seiner Urform die gewalttätigen Aktionen kleinbürgerlicher
Kreise gegen Kirche und Klerus, tödliche Angriffe auf Priester, Vergewaltigungen
von Nonnen, Verwüstungen der Gotteshäuser und Raub an kirchlichen Schätzen einschloss.
„Anhänger der Revolution“, so der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, „verwendeten
den Begriff zudem zur Beschreibung des Abbruchs kirchlicher Tradition und
Sitte, etwa mit Blick auf die Pensionierung oder die Heirat von Priestern.
Déchristianisation diente ihnen schließlich auch dazu, die Etablierung des
neuen Vernunftkultes der Revolution zu rechtfertigen.“
Haben Marquis de
Sade und Auschwitz wirklich nur wenig gemeinsam, wie die amerikanische
Philosophin Susan Neiman in ihrem etwas anderen Philosophie-Geschichtsbuch
„Das Böse denken“ meinte?Allein schon
Sades Biografie verrät viel von dem Urmuster vieler Revolutionäre, die
vorgaben, der Befreiung der Menschheit dienen zu wollen, wobei sie sich
lediglich von ihren sadistischen Veranlagungen rein zu waschen suchten. Marquis
de Sade wurde aufgrund seiner von ihm selber beschriebenen Sexualpraktiken und
der von ihm verursachten gesellschaftlichen Skandale mehrfach inhaftiert. Der
Begriff „Sadist“ leitet sich nicht zufällig von seinem Namen ab. Vor dem so
genannten Sturm auf die Bastille 1789 schrie er der vor der Bastille
demonstrierenden Menge zu: „Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“ Wahrscheinlich
war dieses verlogene Geschrei einer der Gründe, die die Bevölkerung dazu
bewegte, die Bastille zu stürmen, die ja eigentlich nur ein Gefängnis vornehmer
Leute war. Man konnte sich dort, wie de Sade selber, außerhalb bekochen lassen
und seine Zelle nach Belieben möblieren. Kommt uns das nicht bekannt vor?
Verhielten sich die RAF-Terroristen im Westen und die herrschenden
Staatsterroristen im Osten wesentlich anders? Und auf welcher Seite standen der
Freiheitsphilosoph Jean-Paul Sartre, die protestantischen Pfarrer und Anwälte
des Rechtsstaates? De Sade wurde 1790 infolge der französischen Revolution
vorübergehend entlassen. Trotz seiner aristokratischen Herkunft schloss er
sich den extremistischen Jakobinern an und vertrat eine utopische Variante
des Sozialismus, verweigerte dabei allerdings die Aufgabe seines Familienschlosses
und Herausgabe seines Familienvermögens. Unzählige „Salon-Kommunisten“, man
denke nur an Karl-Eduard von Schnitzler, Oskar Lafontaine oder sozialistische
Gewerkschaftsbosse, taten und tun es ihm nach. Dem Dichter der Freiheit,
Friedrich Schiller, ekelten nach anfänglicher Sympathie bald „diese elenden
Schinderknechte“ an. In einem Brief an den Herzog von Augustenburg bemerkte er
den Fall des „aufgeklärten Menschen (...) bis zum Teuflischen hinab“.
Wie
konnte es gelingen, dass die von bedeutenden Denkern entwickelte Totalitarismus-Theorie
unter den fadenscheinigsten Argumenten zur Seite geschoben wurde? Wie konnte es
passieren, dass die Erfahrungsberichte und Bücher Tausender Zeitzeugen, die
den totalitären Diktaturen entflohen waren, im angeblich „herrschaftsfreien
Diskurs“ der westeuropäischen Intelligenzija kaum noch ein Rolle spielten?
Warum wollte oder konnte das Verstehen nicht mehr im Sinne Diltheys „in die
fremden Lebensäußerungen“ mittels einer „Transposition“ in die Fülle eigener
Erlebnisse und Erkenntnisse durchdringen? Es gibt Fragen, die einen nicht
mehr nach Antwort suchen lassen, weil das Ergebnis einem die Neugier
abgewöhnt. Doch das Fragen kann auch als eine Kunst verstanden werden, die das
Weiterfragen befördert. Der Horizont des Fragenden hebt sich vom Horizont, von
dem aus das Gefragte verstanden wurde, selbstverständlich ab. Die Zusammenkunft
dieser beiden Horizonte, also die Bildung eines neuen, bezeichnete Gadamer als
„Horizontverschmelzung“. Fragen bedeutet also nicht das bloße Verstehen einer
fremden Meinung, sondern das Offenlegen von Sinnmöglichkeiten. Von mit
Steuergeldern subventionierten Intellektuellen, gar mit Machtmandaten
versehenen, ist wenig zu erwarten. Sie sind zumeist nur Bedenkenträger ohne Mut
und Demut. Ihr Verständnis gründet sich auf der Angst vor dem Verhängnis, das
sie wieder in die Anonymität zurückholen könnte. Dabei sind die großen
Bewegungen der jüngsten Geschichte in Europa hauptsächlich von den Unbekannten
ausgegangen, von denen, bis auf wenige Ausnahmen, kaum jemand berühmt wurde
und einige sogar hingerichtet wurden, ohne als Märtyrer ins Bewusstsein ihres
Volkes eingegangen zu sein. „Von den niedergeschlagenen Revolten“, so der
deutschstämmige französische Philosoph André Glucksmann, „in Berlin 1953 über
Posen und Budapest 1956 bis zum Prager Frühling, vom Sieg von Solidarność in
Polen bis zum Fall der Berliner Mauer, haben ohnmächtige Rebellen den
Kontinent geeint.“ Kein Wunder, dass die Profiteure dieser Einigung gern ihre
jämmerliche Rolle vergessen machen wollen, die sie dabei spielten, seien es die
französischen und englischen Staatsoberhäupter oder die vielen deutschen
politischen Krakeeler um „Joschka“ Fischer, Claudia Roth oder Jürgen Trittin,
die bis zuletzt gegen die deutsche Einheit Gift und Galle spuckten, sich dann
aber nicht scheuten, mit aller Macht und der dazugehörigen Wichtigtuerei das
ganze Volk regieren zu wollen, als sei nichts geschehen.
Ihr Nichtverstehen der Geschichtsmöglichkeiten, das auf der
schon beschränkt zu nennenden Fixierung auf die 12 Jahre entgleister
Geschichte beruht, lässt sie wie Irrende - kurz gesagt: Irre - die nicht
wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen, das Staatsruder nach den Launen
des Windes und der Wellen förmlich aus dem Ruder laufen. Land ist nicht in
Sicht, aber es geht laut und fröhlich zu auf der Titanic, die mit linker
Schlagseite hin und her getrieben wird. Und jeden Tag gehen die Besten über Bord,
während Meinungsmacher darin ein Gleichnis sehen: „Dialektisch gesehen ist es
mit Marx und dem Kapitalismus so, dass es den einen nicht ohne das andere
geben kann. Weil das System, so lange es existiert, immer diese leben Fragen
aufwirft, wird der Kopf, der darauf Antworten gefunden hat, immer wieder
auferstehen, immer wieder für tot erklärt werden, immer wieder beerdigt werden,
immer wieder auferstehen.“ („Der Spiegel“, 34/2005, S.45) Das hieße: Dummheit
ist so unausrottbar wie der Irrtum. Damit Lassen sich alle Philosophie- und
Theologielehrbücher genüsslich zuschlagen.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.