Erschienen in Ausgabe: No. 24 (1/2006) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
Zum Niedergang der Diskussionskultur in den Geisteswissenschaften
von Daniel Krause
Wissenschaftliche Äußerungen müssen verständlich sein. Das ist keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung für Wissenschaftlichkeit. Einige kanonische Texte der ‚real existierenden’ Geisteswissenschaften sind aber unverständlich, auch für den qualifizierten Leser. Das betrifft ganz besonders die Literaturwissenschaft. Nach allgemeinen Überlegungen zum Kriterium ‚Verständlichkeit’ wird ein prominentes Beispiele unverständlicher ‚wissenschaftlicher’ Prosa: Ihab Hassans The Postmodern Turn (1987) vorgestellt. Dann werden Vermutungen darüber angestellt, wie es geschehen kann, dass unverständliche Texte als ‚wissenschaftlich’ gelten.
Darüber,
was Wissenschaft sei, lässt sich streiten.1
Eine Ende der Debatte ist nicht in Sicht, und dies, obwohl der
Begriff ‚Wissenschaft’ seit mindestens einem Jahrhundert
Gegenstand sorgfältiger Reflexionen ist. Im gegebenen Rahmen
einen Lösungsvorschlag zu formulieren, wäre
vermessen. Aber einen Aspekt des Problems einer isolierten
Betrachtung zu unterziehen, das kann gelingen: Es gilt, die These zu
entfalten, dass ‚Verständlichkeit’ als
Minimalbedingung für Wissenschaft anzusehen ist. Genauer:
Nur ein verständlicher Text kann als wissenschaftlicher Text
gelten. Ich schlage vor, dieses Kriterium folgendermaßen zu
deuten: Verständlich ist ein Text, wenn der Leser ihn
paraphrasieren, d.h. in die eigene ‚Sprache’, das eigene
theoretische Vokabular, übersetzen kann. Die Angemessenheit
von Übersetzungen festzustellen, ist allerdings schwierig.
Sollen Autorintentionen als Prüfstein fungieren? Soll der
Konsens der Leser maßgeblich sein? Beide Vorschläge werfen
Probleme auf: Autorintentionen können nur sprachlich mitgeteilt
werden, sind also ihrerseits auf Interpretation, auf Übersetzung
angewiesen. Andererseits wird die Kreativität der Forschung
eingeschränkt, wenn der Konsens der Leser (oder ein
Mehrheitsentscheid) den Prüfstein abgibt. Wie sollten dann
originelle, neuartige Lesarten gewürdigt werden? Auch fragt
sich, wann ein solcher Konsens empirisch jemals anzutreffen
ist. So liegt es nahe, auf ein Angemessenheitskriterium zu
verzichten. Entscheidend ist, ob der Leser sich überhaupt in der
Lage sieht, einen Text zu ‚übersetzen’. Doch welcher
Leser? Vielleicht ist die folgende Deutung vertretbar: Ein Text
ist verständlich, wenn ihn derjenige Leser versteht
(d.h. übersetzen, paraphrasieren kann), der die Bedeutung der
verwendeten Ausdrücke innerhalb der betreffenden
Wissenschaftssprache kennt und diese Ausdrücke in einer
‚zünftigen’, den etablierten Standards dieser
Sprache gemäßen Weise verwenden kann.2
Dieses Kriterium darf großzügig ausgelegt werden: Die
Übersetzung darf Zeit beanspruchen, Lücken aufweisen
(d.h., einzelne Ausdrücke dürfen unübersetzt bleiben),
darüber, wie einzelne Ausdrücke übersetzt werden
sollen, darf ein Dissens unter den Lesern bestehen. Ein Text aber,
dessen Übersetzung Jahre beansprucht, der zum größeren
Teil unübersetzt bleibt oder weit reichenden Dissens erzeugt,
ist unverständlich. (Hier geht es wohlgemerkt nicht um
einen Dissens über die Bewertung des Textes, z.B. die
Richtigkeit seiner These.) Ein solcher Text kann zwar Gegenstand
einer wissenschaftlichen Lektüre werden: Möglicherweise
handelt es sich um ein literarisches Kunstwerk. Wissenschaftlich ist
er aber in keinem Fall.3
Auch ist zu beachten, dass ein Text, um als verständlich zu
gelten, in einer weitgehend stimmigen, kohärenten Weise
übersetzbar sein muss – andernfalls handelt es sich
nicht um ein und denselben, sondern um mehrere Texte.
Betrachten wir ein Buch, das sich selbst innerhalb des
literaturwissenschaftlichen Diskurses platziert und
meistens so rezipiert wird – ohne dass das Kriterium
‚Verständlichkeit’ erfüllt würde:
Ihab Hassans The Postmodern Turn. Diese Wahl ist kein Zufall,
ist der Diskurs um ‚Postmoderne’ doch von notorischer
Begriffsverwirrung geprägt. Der ‚Postmoderne’-Diskurs
ist aber lediglich die ‚Spitze des Eisbergs’. Sein
Diskussionsstil ist charakteristisch für eine Vielzahl
literaturwissenschaftlicher Wortmeldungen: Das betrifft weite Teile
des New Historicism, der Cultural und Gender Studies, der
Diskursanalyse, Dekonstruktion und Systemtheorie.
The
Postmodern Turn setzt mit einem „Prelude to Postmodernism“
ein. Hassan stellt klar, dass er ‚PM’ für einen
tauglichen kulturdiagnostischen Begriff hält:
“Though postmodernism may
persist, like modernism itself, a fiercely contested category, at
once signifier and signified, altering itself in the very process of
signification, the effort to speak it cannot be wholly vain. […]
In our pluralist and dialogical universe there may be no alternative
to such transactions.” (Hassan 1987, xii)
Vor
diesem Hintergrund wird fraglich, ob ‚PM’ als Begriff,
als „Kategorie“ gelten kann. Wie ist mit einem ‚Begriff’
umzugehen, der Signifikant und Signifikat ist? Nimmt man
Hassan beim Wort, dann bezieht sich ‚PM’ auf nichts
anderes als auf sich selbst. ‚PM’ ist gleichsam
‚tautologisch’ verfasst und darum schlicht trivial, ohne
Aussagekraft. Wie ist zu erklären, dass ein Begriff, der immer
dasselbe bedeutet: sich selbst, im Vollzug des Bedeutens seine
Bedeutung verändert? Woher bezieht Hassan die Gewissheit, dass
das Bemühen PM „auszusprechen“ nicht völlig
vergeblich sein kann? Was meint „pluralist and dialogical
universe“? Sollte Hassan einer ‚dialogischen
Kosmologie’ anhängen? Aber wer ist sein Gesprächspartner?
Oder ist „universe“ metaphorisch zu deuten: Meint es den
‚Raum’ des Diskurses? Das liegt am nächsten, doch
warum sagt Hassan nicht, was er ‚eigentlich’ meint?
Sollte es allzu trivial scheinen? Schließlich ist es keine neue
Erkenntnis, dass der akademische Diskurs vom Meinungsstreit
bestimmt ist. Demnach wird zitierter Passus seinem Anspruch, die
Voraussetzungen der folgenden Darstellung zu klären, mitnichten
gerecht. Er schafft im Überfluss Probleme. So stellt er
lediglich klar, was den Leser erwartet: unverständliche
Prosa. Hassan selbst aber meint, den Erfordernissen der
Wissenschaftlichkeit Genüge zu tun:
“I
have preferred to admit my complicity with postmodernism […]
without renouncing the exigencies of clarity and criticism.”
(xii)
Wenig
später desavouiert Hassan dieses Desiderat:
“All
this, I realize, will satisfy no one who requires a more exact
“definition“ of postmodernism. But human actions trace no
perfect circle or square; as historic events they escape axiomatic
definition. Postmodernism, like any other movement – say
romanticism, nearly as moot – is a complex of cultural actions.
Such actions also resist sharp differentiation from other actions
they assume. Thus any particular trait of postmodernism may find
precursors in other eras, other movements. This, I suspect, is true
of any single trait in any cultural movement.” (xv)
Gern
wüsste man, was “Definitionen” im Allgemeinen von
“axiomatischen Definitionen“ unterscheidet. Auch
wäre von Belang, ob „precursors“ auf
Übereinstimmungen oder bloße Ähnlichkeiten
abhebt. In beiden Fällen müsste der ‚Erkenntniswert’
von Begriffen wie ‚PM’ weit detaillierter begründet
werden, denn dass Begriffe noch etwas ‚bedeuten’,
wenn sie ausschließlich unspezifische Merkmale umfassen –
solche, die auch anderen Begriffen zukommen –, ist keineswegs
sicher. Gewiss, die Kombination unspezifischer Merkmale könnte
eine spezifische sein. Aber gerade dann wäre man auf
Definitionen angewiesen, die die Eigenart dieser Kombination
beschreiben. Definitionen sind aber mit Hassan nicht zu haben.
Wissenschaft kommt ohne sie aus:
„Aristotelian
definitions – man is a thinking biped, etc. – can hardly
apply to our cultural histories. How, then, proceed without
definitions? Conventionally, pragmatically, as we have always
done, by consuetude. The Postmodern Turn tilts that way; it clarifies
by putting essential terms, ideas, contexts of postmodernism into
wider play.“(xvi)
Dass
Hassan selbst sich an diese Maximen hält, ist zu bezweifeln:
Eine Konvention für den Gebrauch von ‚PM’
lässt sich einzig durch Definitionen festlegen, und Reflexionen
über den praktischen Wert möglicher Redeweisen
finden sich in The Postmodern Turn selten. Auch fragt sich,
weshalb „Definitionen“ einem wissenschaftlichen Diskurs
nicht angemessen sein sollten. Sind all jene zu disqualifizieren, die
Definitionen vorschlagen? Hassan empfiehlt, sich an die überlieferte
Wissenschaftspraxis zu halten („as we have
always done“). Aber wenn sich nichts ändern soll,
weshalb dann all diese Anstrengungen? Weshalb eine neue,
postmoderne, Ära verkünden, wenn alles beim Alten
bleibt? Doch die Verwirrung lässt sich noch steigern: So äußert
Hassan Zweifel, ob jemals eine Gesamtschau, ein Muster („pattern“)
von PM gegeben werden kann:
“Will
these international tendencies [postmoderne Tendenzen] ever coalesce
into some coherent pattern?” (xvi)
Man geht
nicht fehl, darin eine rhetorische Frage zu sehen. Doch im
nächsten (!) Satz, schlägt Hassan just
ein „pattern“ für PM vor:
“For
the moment, the only pattern I can propose is the pattern that the
essays selected here internally render. In this pattern I discern:
indeterminacy and immanence; ubiquitous simulacra, pseudo-events; a
conscious lack of mastery, lightness and evanescence everywhere; a
new temporality, or rather intertemporality, a polychronic sense of
history; a patchwork or lucid, transgressive, or deconstructive,
approach to knwoledge and authority; an ironic, parodic, reflexive,
fantastic awareness of the moment; a linguistic turn, semiotic
imperative, in culture; and in society generally, the violence of
local desires diffused into a technology both of seduction and force.
In short, I see a pattern that many others have also seen: a vast,
revisionary will in the Western world, unsettling, resettling codes,
canons, procedures, beliefs – intimating a posthumanism?”
(xvi)
Kann eine
Aneinanderreihung unverbundener Merkmale als “pattern”
gelten? Auch fragt sich, was „patterns“ von
„Definitionen“ unterscheidet. Könnte es sein, dass
es sich um einen (spektakulär scheiternden) Definitionsversuch
handelt, der freilich als solcher nicht deklariert werden darf, weil
Definitionen als obsolet disqualifiziert wurden?
Eine der
vielerlei Definitionen wird in besonderer Weise mit dem Namen Hassans
verbunden:
“The time has come, however, to
explain a little that neologism: „indetermanence“. I have
used that term to designate two central, constitutive tendencies in
postmodernism: one of indeterminacy, the other of immanence. […]
Their interplay suggests the action of a “polylectic”,
pervading postmodernism. […] By indeterminacy, or better
still, indeterminacies, I mean a complex referent that these diverse
concepts help to delineate: ambiguity, discontinuity, heterodoxy,
pluralism, randomness, revolt, perversion, deformation. The latter
alone subsumes a dozen current terms unmaking: decreation,
disintegration, deconstruction, decenterment, displacement,
difference, discontinuity [sic], disjunction, disappearance,
decomposition, de-definition, demystification, detotalization,
delegitimization – let alone more technical terms referring to
the rhetoric of irony, rupture, silence. Through all these signs
moves a vast will to unmaking, affecting the body politic, the body
cognitive, the erotic body, the individual psyche – the entire
realm of discourse in the West.” (92)
Damit ist
die erste der beiden Komponenten von „indetermanence“
‚umschrieben’. Nun gilt es, der zweiten Kontur zu
verleihen:
“[…]
I call the second major tendency of postmodernism immanences, a term
that I employ without religious echo to designate the capacity to
generalize itself in symbols, intervene more and more into nature,
act upon itself through its own abstractions and so become,
increasingly, im-mediately, its own environment. This noetic tendency
may be evoked further by such sundry concepts as diffusion,
dissemination, pulsion, interplay, communication, interdependence,
which all derive from the emergence of human beings as language
animals, homo pictor or homo significans, gnostic creatures
constituting themselves, and determinedly their universe, by symbols
of their own making.” (93)
Mit jedem
Merkmal, jedem “concept”,
steigt die Verwirrung. Wie könnten all diese Merkmale auch nur
dem Assoziationsbereich ein und desselben Begriffs zugeordnet werden?
Wie könnten sie jemals zur Klärung des fraglichen
Sachverhalts: PM beitragen?
Hassan
greift aber noch weiter aus:
“One
may well wonder: is some decisive historical mutation –
involving art and science, high and low culture, the male and femal
principles, parts and wholes, involving the One and the many as
pre-Socratics used to say – active in our midst? Or does the
dismemberment of Orpheus prove no more than the mind’s need to
make but one more construction of life’s mutabilities and human
morality? And what construction lies
beyond, behind, within, that construction?” (94)
Diese
Belege machen hinreichend klar, dass auch der ‚ideale Leser’
Hassan nicht verstehen kann – selbst wenn er mit allen Wassern
der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus gewaschen sein sollte.
Unverständlichkeit ist eine gleichsam ‚objektive’
Eigenschaft des fraglichen Textes. Nicht einmal ein Bemühen um
Verständlichkeit ist erkennbar. Die gängige Floskel,
dergleichen sei ironisch aufzufassen, nicht ‚beim Wort zu
nehmen’, hilft keineswegs weiter: Was bleibt, sieht man vom
‚Beiwerk’ ab? Worin liegt der Erkenntniswert solcher
Einlassungen? Sind Hassans Ausführungen geeignet, jene Werke der
Literatur zu erhellen, die man ‚postmodern’ nennt? Oder
bleiben sie ‚gegenstandslos’? Vor allem aber: Wie lässt
sich ‚Sinn’ daraus ‚machen’? Wie ist die
Geltung des Gelesenen zu prüfen? Oder ist alles gleich in
der Wissenschaft?
The Postmodern Turn ist unverständlich, nicht wegen des Unvermögens der Leser, sondern aufgrund einer Beschaffenheit, die es unmöglich macht, eine stimmige Übersetzung anzufertigen. Dieser Text ist also entschieden unwissenschaftlich. Fast lässt sich ein ‚privatsprachlicher’, ‚solipsistischer’ Zug konstatieren. Wie anders ist ein Autor zu charakterisieren, den ‚niemand verstehen kann’? Tatsächlich muss es verwundern, dass Hassan als einer maßgeblichen Literaturwissenschaftler unserer Tage gilt. Sollte in manchen Milieus zeitgenössischer Literaturwissenschaft jeder Text als verständlich gelten, an den in irgendeiner Weise angeschlossen werden kann? Sollte das Kriterium ‚Kohärenz’ aufgegeben worden sein, ein Text schon darum als verständlich gelten, weil einzelne Aussagen übersetzbar sind? Wird die Haltlosigkeit solcher ‚Wissenschafts’-Praxis durch Intransigenz gegen Kritik kompensiert? (Wo keine These ist, kann keine Widerlegung sein.) Der Hinweis, solcherlei Prosa sei unwissenschaftlich, wird oftmals als Ausdruck bornierter Voreingenommenheit abgetan. Das ist von Nachteil für kritische Geister. Noch mehr für die Wissenschaft.
Ihab
Hassan: The Postmodern Turn, Ohio 1987.
Wolfgang
Welsch: Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der
Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988.
1
Das gilt selbstverständlich auch für die damit
zusammenhängenden Fragen: Was unterscheidet Geistes- und
Naturwissenschaften? Können Theorien falsifiziert werden? etc.
2
Beispiele wären die Sprache der Philosophie oder der
Literaturwissenschaft, spezifischer: die Sprache der Analytischen
Philosophie oder der Positivistischen Literaturwissenschaft.
3
Eine hinreichende Bedingung für Wissenschaftlichkeit ist
Verständlichkeit nicht, denn auch von polemischen,
journalistischen oder lebensweltlichen ‚Gebrauchs’-Texten
wird Verständlichkeit erwartet.
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