Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Shanto Trdic
Die rasche Ankunft weniger
tausend Flüchtlinge auf einer winzigen Mittelmeerinsel reichte schon aus, um
einer verblüfften, vom Medienkartell wochenlang genarrten Öffentlichkeit das plötzliche
Fürchten zu lehren. Man hatte den Menschen hierzulande vorauseilend versichert,
ein Regimewechsel böte die sichere Gewähr, dass in den Staaten Nordafrikas bald
wieder Ruhe und Ordnung Einkehr hielten, dass dem Sturm der Erhebung automatisch
zivile, rechtsstaatliche Abläufe folgen müssten, die wiederum dauerhaft
demokratische Verhältnisse nach sich zögen, ohne die es nun einmal nirgends
gehen kann und darf. Diese Vorstellung war so töricht wie anmaßend, aber das
focht zunächst keinen an. Die Meinungsbildenden Eliten hatten nicht nur jedes Maß
sondern auch das rudimentäre Bewusstsein von der eigenen, wechselhaften
Historie verloren, die ihnen Aufschluss darüber gegeben hätte, wie schwer und
mühselig der Weg zum Heil sein kann. Denn das, was sie den Muslimen von Marokko
bis in den Jemen als Modell der Zukunft verhießen, funktionierte selbst dort,
wo man danach lebte, eben in Europa, nur in Ansätzen und gebar seine sinnstiftende
Kraft innerhalb der letzten, halbwegs friedlichen Jahrzehnte, die schlimmsten
Exzessen folgten. Daran mochte sich niemand erinnern. Stattdessen wurden in
Leitartikeln und Kommentaren zukunftsfrohe Zustände heraufbeschworen bzw.
herbei geschrieben, die offenbar als abgemacht, als sicher galten. Vom
Demokratiesierungsprozess war ständig die Rede, von der Macht des Volkes;
wohlgemerkt. Nun wird, ersten Meldungen zufolge, in Ägypten und Tunesien bereits gegen die just installierten
Übergangsregierungen protestiert, und auch im Jemen, in Jordanien oder dem
chaotischen Irak regt sich Unmut, sterben weitere Menschen. Offenbar kann es gar
nicht schnell genug gehen mit der Demokratie, von der alle Welt dauernd redet,
und wenn das maulen und meckern auf Anhieb nichts bringt, dann müssen richtige Taten
folgen. Ein ägyptischer Demonstrant brachte es auf den Punkt: entweder ihr gebt
uns Arbeit oder das Visum für Europa – auf der Stelle. So einfach stellt man(n)
sich das vor, und wer die Sache richtig betrachtet, der wird finden, dass die
westlichen Medien ihren Teil dazu beigetragen haben, derlei Illusionen zu
befördern, die nun platzen. Ein tunesischer Flüchtling meinte, kurz nach seiner
Ankunft auf Lampedusa, das wäre jetzt einfach der passende Zeitpunkt gewesen,
um abzuhauen. Die Flucht verglich er mit einer Taxifahrt, womit er auch ganz
richtig lag, denn das chaotische Interregnum in der Heimat versäumte einen
Seufzer lang, die Grenzen dicht zu halten – das half schon Tausenden zur
Überfahrt. Der Massenexodus schockierte, wie gesagt, die europäische
Öffentlichkeit, aber in Wahrheit war das nur ein Schuss vor den Bug; das
Schlimmste steht uns noch bevor. Fakt ist: keine Macht der Welt wird innerhalb
kürzester Zeit Millionen Menschen dauerhaft befrieden, sprich: halbwegs solide in
Lohn und Brot setzen können.
Beispiel Ägypten. Im Jahre 1900 betrug die Bevölkerung noch
etwa 12,5 Millionen Einwohner, 2000 waren es bereits 68 Millionen. Die
Gesamtbevölkerung steuert mittlerweile auf Neunzig Millionen Menschen zu. Heute
lebt fast jeder zweite Ägypter in der Stadt, ist also auf unstete
Beschäftigungsverhältnisse angewiesen, die den Sachzwängen postmoderner Abläufe
gehorchen und keine dauernde Gewähr leisten. Einen solchen Trend beobachten wir
in nahezu allen Ländern, um die es hier geht, und problematisch daran ist, dass
eine überwältigende Zahl junger Männer in dieser Warteschleife hängt, aus der
sie kein Beschäftigungsprogramm der Welt schnell und dauerhaft herauslösen
wird. Ich hatte es schon vorausgesagt, als das noch niemand hören oder lesen
wollte: diese Menschen werden früher oder später aufbrechen – nach Europa. Sie haben
angesichts dessen, was sich in ihren Heimatländern zwangsweise zusammen braut,
gar keine Wahl mehr. Die angestammten, im wesentlichen kulturell justierten Grundlagen
stehen etwaigen sinnvollen Lösungen so sehr im Wege wie das aktuelle, in seiner
Schärfe noch gar nicht absehbare Dilemma, über das täglich mittels schneller,
nichtssagender Bilder in den Medien berichtet wird. Fest steht: die
unberechenbaren Vorgänge an den entsprechenden Peripherien, das Hauen und
Stechen in der jeweiligen, unmittelbaren Nachbarschaften, all das wird die Lage
zusätzlich verschärfen. Allerorten gärt es und in Libyen tobt bereits seit
Tagen der Furor.
Der Fall Libyen ist von gesonderter Bedeutung, denn hier wird schon
wieder ein Bild gezeichnet, das mit den Verhältnissen vor Ort nicht ansatzweise
korrespondiert. Der gängige Sprachgebrauch offenbart ein weiteres Mal das
Weltbild derer, die aus sicherer Entfernung über Dinge berichten, die ihnen
schleierhaft bleiben, weil sie ihnen so fremd vorkommen. Das führt dann zu den
üblichen Verwechslungen, mittels derer man sich alles zurechtbiegt; so lange,
bis es passt.
Zunächst muss man aufräumen mit der Behauptung, hier stünde eine
´Demokratiebewegung´gegen den großen
´Bruder Führer´. In Wahrheit sind es mächtige Clans und Stämme, die der Gunst
der Stunde vertrauen um den Staatschef, als Angehörigen eines ziemlich kleinen,
eher unbedeutenden Sippenverbandes, nach über Vierzig Jahren Alleinherrschaft endlich
das Fürchten zu lehren. Man sollte nicht so kleinlich sein zu behaupten, hier
stünden zivile, so wehrlos wie unbewaffnet agierende ´Bürger´ gegen den großen,
gewaltgeilen Goliath, der sie wahllos zusammen schießen lässt. Die arabische
Welt ist die am stärksten militarisierte, bis in den kleinsten privaten
Haushalt bewaffnete Region der Welt. Orientalische Clans haben nie auf ihre
Waffen verzichtet. So auch und gerade in Libyen. Gaddafis Gegner sind mit
Mordwerkzeugen unterschiedlichster Gattungen ausreichend versorgt. Sie sind
weder unvorbereitet noch ´spontan´ in die Auseinandersetzung gegangen, wiewohl
uns die zahlreichen verwackelten Bilder, zumeist Mitschnitte per Handy, nur zu
gern eine Volkserhebung vorgaukeln, die abrupt verläuft und deren Waffe einzig
die erhobene Faust ist. Die ´Anti – Gaddafi – Front kommt nicht ohne scharfes
Geschütz aus. Sie hätte nicht binnen relativ kurzer Zeit eine Metropole nach
der anderen in ihre Gewalt bringen können, wäre es anders. Und so schnell
schwenken weite Teile des regulären Militärs nicht zur Gegenseite über. Zu Massakern
kam es auf beiden Seiten und es werden nicht die letzten gewesen sein. Aber das
gegenteilige, so romantisch in den Kram passende Bild liest sich besser: Bürger
gegen Machtmensch, die breite Masse gegen das schmale Mordkommando. Die
´Regimegegner´ scheinen auf ihrem Wege zur Demokratie über wahre Zauberkräfte
zu verfügen. Ich las es heute (26.02.2011) in meiner Tageszeitung, Irrtum
ausgeschlossen: „In der Stadt Sawiyah,
so stand da geschrieben, kämpften
Gaddafi-Einheiten gegen die aufständische Bevölkerung, die sich dort inzwischen
bewaffnen konnte, nachdem sie eine Militärkaserne erobert hatte.“ Erstaunlich,
wie man in einem einzigen Satz so viele Ungereimtheiten auf einmal unterbringen
kann. Da kämpfen also reguläre, das heißt: schwer bewaffnete Einheiten gegen
eine aufständische, völlig wehrlose Bevölkerung (wie sieht so ein ´Kampf´ dann aus?), und diese Menschen erobern ihrerseits
eine Kaserne, um sich DANN zu bewaffnen… - nachdem sie es, wohlgemerkt, vorher
schon erfolgreich mit Einheiten der Armee aufnahmen, denen man alles mögliche
nach sagen kann, aber doch kaum, das sie zimperlich agieren. Egal - erst
erobern, dann bewaffnen, in dieser Reihenfolge; das macht sicher die schiere
Masse, der wir jedes Wunder zutrauen: David gegen Goliath, wie in der Bibel.
Tatsächlich wird es in Libyen eher umgekehrt sein: die zahlenmäßig weit
stärkeren Stämme des Ostens stehen, für die Dauer der Auseinandersetzungen,
erst einmal zusammen, um vereint den nunmehr geschrumpften Gegner zu vernichten.
Vereinzelt haben sich Vertreter der politischen Elite bereits den neuen Herren
gebeugt, in bewährt treuhündischer Manier, mit kehlig vorgetragenen
Treueschwüren, die im Orient jeden Verrat begleiten, und das gilt auch für
Teile des Militärs, die allzu früh in die unmittelbare Schusslinie gerieten,
also: zu weit im gegnerischen Osten standen, wo das Kräfteverhältnis rasch
zuungunsten des noch amtierenden Regimes ausfiel. Offensichtlich beherzen diese
Opportunisten ein altes arabisches Sprichwort: es ist besser, eine Hand zu
schütteln, wenn man sie nicht abhacken kann. Ob und wann der Gaddafi-Clan vollends
überwältigt werden wird, steht zur Stunde in den Sternen. Allerdings kann es schnell
zu Verhältnissen kommen, die bereits den Propheten Mohammed zur Raserei
brachten: damals verzettelten sich die Stämme Arabiens in dauernden Fehden und
Kleinkriegen, die eine ethnisch-kulturelle Einigung schon im Ansatz vereitelten.
Egal, welcher Stamm im artifiziellen Libyen am Ende das sagen hat, ganz gleich,
welche ´Koalition auf Zeit´ möglich würde: es wird die Verhältnisse kaum
bessern, jedenfalls nicht so, wie sich das brave Staatsrechtler und ihre
Nachbeter bei uns vorstellen.
Sicher: Gaddafi war, Zweifel ausgeschlossen, ein beinharter, resolut
herrschender Potentat, der kräftig im internationalen Terrorismus mitmischte
und, allen rätedemokratischen Phantasmen seiner Sturm und Drang Jahre zum
Trotz, am Ende doch nur in der Tradition eines unnachgiebigen, eitlen
Berberführers posierte. Dennoch: unter seiner Ägide sind die Erscheinungsformen
orthodoxer Gläubigkeit deutlich abgemildert, zum Teil sogar strikt beschnitten
worden, er hat in über vierzig Jahren Regentschaft sämtliche Stämme in Schach
gehalten, auf diese Weise die staatliche Einheit gewahrt und dafür gesorgt, das
die Grenze nach Europa dicht bleibt. Libyen hat das höchste Pro – Kopf –
Einkommen Afrikas, die Sozialversicherung der Einwohner umfasst kostenlose medizinische Versorgung sowie, in
muslimischen Staaten keine Selbstverständlichkeit, großzügige Witwen, - Waisen,
- und Altersrenten. Sehr im Gegensatz zum benachbarten Ägypten ging es hier
ganz gewiss nicht um´s Fressen – salopp formuliert. Kurioserweise werden in
Libyen sogar Arbeitsplätze subventioniert, die nur auf dem Papier bestehen.
Entsprechende Gehälter zahlt der Staat dennoch aus. In diesem knapp sechs
Millionen Einwohner zählenden Land sollen sich, Schätzungen zufolge, bis zu
drei Millionen Gastarbeiter befunden haben; ein Umstand, der an Gegebenheiten
auf der arabischen Halbinsel erinnert und in der laufenden Berichterstattung
bislang allenfalls am Rande Erwähnung fand. Diese Besonderheit birgt indes weitere
Unwägbarkeiten. Die Flüchtenden versuchen derzeit verzweifelt außer Landes zu
kommen, was in den Nachbarregionen zusätzliche Tumulte nach sich ziehen könnte.
Hoffen wir, das sie es schaffen, rechtzeitig fort zu kommen, bevor unter
Umständen eine ähnliche Entführungsindustrie wie im Irak blutige Blüten treibt
und die Ursprungsländer vor weitere Probleme stellt.
Die mächtig aufmarschierenden, demnächst wohl triumphierenden Clans im
Osten Libyens sind, was den kulturellen Background betrifft, eher traditionell
eingestellt; das kann man unter anderem an den großzügigen Verschleierungen der
Frauen erkennen, denen Gaddafi das einst strikt untersagte. Ob die Führer
dieser Stämme in puncto Diplomatie auch so geschmeidig sein werden wie der
Oberst Gaddafi, sei vorerst dahin gestellt. Derzeit geht es ihnen um Macht, und
nichts als das: die Macht über ein Land, das seinen Einwohnern als bloßer Staat
stets suspekt geblieben ist, so surreal wie die Nation des Gamal Abdel Nasser,
der sie in der arabischen Welt für kurze Zeit hoffähig machte, bis auch sie an
ihr natürliches Ende kam und den religiösen wie ethnischen Besonderheiten wich,
deren Rigorismus noch in jeder Diaspora für Unruhe sorgte. Jener große Mann,
einst Hoffnung und Lichtgestalt von Millionen, Speerspitze eines
überschäumenden, rasch wieder verebbenden arabischen Nationalismus, geriet am
Ende seines nicht allzu langen Lebens in eine ähnliche Depression, die schon
den gleichsam früh verschiedenen ´Vater aller Türken´, weiland Atatürk,
übermannte. Beide ahnten wohl die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen, das
Scheitern ihrer ehrgeizigen, beinahe faustischen Ansätze. Nun erfüllt sich die
düstere Vorstellung, der sie in Wort und Tat die Stirn boten und am Ende ihrer
Laufbahn doch nervlich erlagen: ganze Nationen sinken in Trümmer und werden von
den Farnen und Schlingpflanzen der Tradition überwuchert. Es war wohl
vermessen, islamisches und westeuropäisches Gedankengut im Handstreich zu einer
Einheit verschmelzen zu wollen. Einer, allerdings, suchte das aberwitzige
Vorhaben noch zu übertreffen; solcherart, das er bei der Gelegenheit gleich
einen ganzen Kreuzzug ausrief. Man kann diesen fatalen, irrwitzigen Umstand vor
dem Hintergrund derzeitiger Ereignisse gar nicht zuende bestaunen: die Visionen
des George Walker Bush, der in der muslimischen Welt ein Leuchtfeuer der
Demokratie zu entfachen beabsichtigte, haben, beginnend im Irak, zu einem Flächenbrand
geschichtlichen Ausmaßes geführt, zu Massentumulten, die auf diesem Wege genau
das abschaffen, was sich der simple Evangelikale einst als weltumspannende
Erlösung zurecht phantasierte. Im Orient entfachen sie nun eine ganz eigene,
ungestüme Dynamik, deren Sturmwogen bereits gefährlich nahe an die alte Welt
heranbranden.
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