Erschienen in Ausgabe: No. 25 (2/2006) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
Ein neuer Beitrag zu einem alten Problem
von Daniella Jancsó und Daniel Krause
Geistes- und Naturwissenschaften werden üblicherweise anhand ihrer Gegenstände und/oder ihrer Methoden voneinander abgegrenzt. Einige Modelle behaupten eine Konvergenz beider Diskursformen, z. B. unter dem Kriterium „Ästhetizität“. Außerdem werden normative Aussagen darüber getroffen, wie sich Geisteswissenschaften (GW) und Naturwissenschaften (NW) zueinander verhalten sollen. Demgegenüber schlagen wir vor, die beiden Diskursformen in Anlehnung an ein Konzept Luhmanns über verschiedenartige „Beobachtungsperspektiven“ voneinander abzugrenzen: GW perspektivieren alle Beobachtungen auf erkenntnistheoretische Fragestellungen hin. NW verzichten auf diese Perspektivierung. Dieser Ansatz erlaubt es, das Verhältnis von NW und GW neu zu konstruieren, und zwar in Übereinstimmung mit empirischen Befunden zur Wissenschaftspraxis.
Jedes Modell zum Verhältnis von GW und NW setzt eine vorgängige Unterscheidung zwischen diesen Begriffen voraus. Für welchen Zeitpunkt ein solche Unterscheidung nachzuweisen ist, bleibt umstritten. Meist wird das 19. Jahrhundert genannt, zuweilen die Renaissance, manche Autoren plädieren für einen noch früheren Zeitpunkt.i Dabei werden verschiedene Unterscheidungsmerkmale in Anspruch genommen: die Einteilung der möglichen Gegenstände des Wissens in Artefakte und Naturgegenstände,ii die Erfindung der Begriffe „Geistes“- bzw. „Naturwissenschaft“iii oder die akademische Institutionalisierung zweier unterschiedlicher Formen des Wissens im 19. Jahrhundert.iv
Die
maßgeblichen wissenschaftstheoretischen Entwürfe des
späten 19. und 20. Jahrhunderts grenzen GW und NW anhand ihrer
Gegenstände und/oder ihrer Methoden ab. Das gilt zum Beispiel
für Dilthey:v
Als GW firmieren alle “Wissenschaften des handelnden
Menschen”. Das schließt neben den Philologien und der
Geschichtsschreibung auch die Sozialwissenschaften ein. Aus der
Beschaffenheit der Gegenstände geisteswissenschaftlicher
Forschung wird die hermeneutische Methode des „Verstehens“
abgeleitet. Sie fungiert als methodisches Unterscheidungsmerkmal:
“Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er.” Die
Naturwissenschaften werden methodisch durch das „Erklären“
gekennzeichnet.vi
Ein
methodisches „Abgrenzungskriterium“ findet sich auch im
Frühwerk Poppers. Hier werden Aussagen der „empirischen
Wissenschaft“ anhand ihrer „Falsifizierbarkeit“ von
„meta-physischen“ Aussagen unterschieden. Es liegt nahe,
die „empirische Wissenschaft“ mit den NW gleichzusetzen.
Demgemäß kündigt der Untertitel der ersten Auflage
der Logik der Forschung (1934) eine „Erkenntnistheorie
der modernen Naturwissenschaft“ an.vii
GW sind als Spezialfall von Metaphysik einzuordnen.
Das
Abgrenzungskriterium präjudiziert die weitere Ausarbeitung der
Modelle. So kann es nicht überraschen, dass Dilthey und Popper
im Detail zu verschiedenen Festlegungen gelangen. Doch in einem sind
beide sich einig: Geistes- und Naturwissenschaften sind
grundverschieden.
In
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird zunehmend eine
Konvergenz beider Diskursformen behauptet. In diesem
Zusammenhang sind Kuhn, Feyerabend, Rorty und auch der ‘späte’
Popper zu nennen.
Kuhns
The Structure
of Scientific
Revolutions
(1962) setzt sich von Poppers „Kritischem Rationalismus“
in einer entscheidenden Hinsicht ab: Methodische Standards können
in den NW nie dauerhafte Verbindlichkeit beanspruchen. Sie werden vom
gerade vorherrschenden „Paradigma“ definiert.viii
Eine endgültige Falsifizierung von Theorien ist folglich nicht
möglich.
Feyerabend
radikalisiert diesen Ansatz: Methodische Standards spielen in der
Wissenschaftspraxis eine weitaus geringere Rolle als gemeinhin
angenommen wird.ix
Mehr noch: Sie sollten gänzlich aufgegeben werden. Die
wissenschaftliche Kreativität kann davon nur profitieren.
Against Method
(1975) plädiert für eine „anarchistische“
Erkenntnistheorie:
“Science is an essentially anarchistic enterprise: theoretical anarchism is more humanitarian and more likely to encourage progress that its law-and-order alternatives.” (S.17)
Darum
gilt: „Anything
goes“.x
Ein methodisches Abgrenzungskriterium für NW und GW kann nicht
angegeben werden, und eine Abgrenzung hinsichtlich der Gegenstände
wird nicht in Erwägung gezogen. NW und GW sind von gleicher
Art.xi
Rorty
versucht in Philosophy
and the Mirror of
Nature (1979), diese ‘Konvergenzthese’
erkenntnistheoretisch zu stützen. Der Begriff „Wahrheit“soll nicht mehr verwendet werden. Alle Beschreibungen –
ob von Wissenschaftern, Dichtern oder Mystikern – haben
denselben Status. Sie sind Fiktionen:
“The utility of the “existentialist” view is that, by proclaiming that we have no essence, it permits us to see the descriptions of ourselves we find in one of (or in the unity of) the Naturwissenschaften as on a par with the various alternative descriptions offered by poets, novelists, depth psychologists, sculptors, anthropologists, and mystics. The former are not privileged representations in virtue of the fact that (at the moment) there is more consensus in the sciences than in the arts. They are simply among the repertoire of self–descriptions at our disposal” (Rorty 1979, S.362).
Auch im Spätwerk Poppers werden GW und NW der Dichtung angenähert. Literatur wird zum genus proximum beider Diskursformen:xii
“Schließlich ist die Wissenschaft ein Teil der Literatur; und wissenschaftliche Arbeit ist eine menschliche Tätigkeit wie das Bauen eines Domes. Sicher gibt es in der heutigen Wissenschaft zu viel Spezialisierung und Professionalismus, wodurch sie unmenschlich wird; doch das gilt leider von der heutigen Geschichtswissenschaft oder Psychologie fast im gleichen Maße wie für die Naturwissenschaften. [...] Es ist lange Mode gewesen und nachgerade langweilig geworden, auf dem Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften herumzureiten” (Popper 1973, S.206).
Feyerabend
arbeitet diesen Gedanken in Wissenschaft als Kunst (1984)
weiter aus. Im Anschluss an Vorschläge Riegls zum Stilwechsel in
den Künsten wird die Entwicklung der NW als eine Abfolge von
Denkstilen vorgestellt.xiii
Auch Ergebnisse der
Quantenphysik werden bemüht, wenn es gilt, die Differenz von GW,
NW und Dichtung auf dem Niveau ‘schwacher' Erkenntnisansprüche
zu nivellieren:
Literature has felt authorized to make such a jump [gemeint ist die Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien] also due to the discovery of various principles of indeterminacy in science, which led to the awareness of a common ground of uncertainty linking the two branches'' (Carpi 2004, S. 49, Hervorhebung d.V.)
Das
hebt auf Heisenbergs „Unschärferelation“ ab.xiv
Diese zeigt aber keinen „common
ground of uncertainty“ an.
Die
„Unschärferelation“ ergibt sich aus der
Schrödinger-Gleichung, der Grundgleichung der Quantenmechanik.
Diese ermöglicht Vorhersagen über das experimentell zu
beobachtende Verhalten von Systemen im Mikrokosmos. So lässt
sich die Verteilung z. B. des Impulses und des Orts eines
quantenmechanischen Objekts in einem gegebenen System exakt
bestimmen. Verteilungen sind determiniert.
Die
„Unschärferelation“ zeigt lediglich, dass Objekte im
Mikrokosmos anders als im Makrokosmos beschaffen sind.xv
Die englische Übersetzung „uncertainty
principle'' ist irreführend, und die
Rede vom „common ground
of uncertainty'' beruht auf
Missverständnissen. Die Quantenphysik ist ungeeignet, die
These von der Konvergenz von GW und NW zu legitimieren.
Die Diskussion über das Verhältnis von GW und NW nimmt, wenn sie auf deren Verschiedenheit abhebt, häufig polemische Züge an. Das ist auf explizite oder implizite Wertungen zurückzuführen, die eine Überlegenheit der einen oder der anderen Diskursform behaupten. Erstmals wurde eine solche Auseinandersetzung in den 1880er Jahren zwischen Matthew Arnold und Thomas Henry Huxley ausgetragen. Hauptstreitpunkt ist die Frage, ob das Studium der Literatur oder die NW im Mittelpunkt des Unterrichts an den Schulen stehen sollen. Arnold plädiert unter Berufung auf ein humanistisches Bildungsideal für den Vorrang der GW:
“If then there is to be separation and option between humane letters on the one hand, and the natural sciences on the other, the great majority of mankind, all who have not exceptional and overpowering aptitudes for the study of nature, would do well, I cannot but think, to chose to be educated in humane letters rather than in the natural sciences. Letters will call out their being at more points, will make them live more” (Arnold 2000, 1556).
Huxley hält diese Einschätzung für falsch:
“For the purpose of attaining real culture, an exclusively scientific education is at least as effectual as an exclusively literary education” (Huxley 2000, 1561).
Außerdem
meint er, in der industrialisierten Welt sei eine
naturwissenschaftliche Ausbildung geradezu überlebenswichtig.
Mitte
des 20. Jahrhundert wird diese Auseinandersetzung von C.P. Snow und
F.R. Leavis weitergeführt.xvi
Snow kritisiert in Übereinstimmung mit Huxley jene Autoren, die
allein das Studium der Literatur als Quelle von ‘Bildung’
anerkennen. Er verwahrt sich zwar gegen den Vorwurf, The
Two Cultures (1959) nehme eine Wertung vor. Dass „scientific
culture“ in einem günstigeren Licht erscheint als
„literary culture“, ist aber unübersehbar.xvii
Daran entzündet sich Leavis Kritik.
Solche
Diskussionen sind von zweifelhaftem Wert: Sie leben von
Übertreibungen und polemischer Einseitigkeit. Oft werden Theorie
und Praxis mindestens einer der beiden Diskursformen falsch
eingeschätzt. Auch ist die Wertung meist schon im
Abgrenzungskriterium impliziert, ohne dass dieser Zusammenhang
offengelegt würde. Trotzdem haben ‘feuilletonistische’
Diskurse mehr Einfluss auf die Allokation von Fördermitteln als
vergleichsweise nüchterne wissenschaftstheoretische Arbeiten.
Darum sind sie, trotz aller Vorbehalte, der Aufmerksamkeit wert.
Thesen
zum Verhältnis von GW und NW haben oftmals auch normativen
Charakter: Sie sprechen Empfehlungen darüber aus, wie deren
Repräsentanten miteinander umgehen sollen. So wird ihnen nahe
gelegt, sich ‘kooperativ’ oder ‘kompetitiv’
zu verhalten oder die Einseitigkeiten der jeweils anderen
Diskursform zu ‘kompensieren’. Nur selten wird ‚splendid
isolation’
empfohlen.xviii
Viele
Autoren meinen, der „Graben“ zwischen GW und NW müsse
geschlossen werden.xix
So plädieren sie für ein ‘kooperatives’
Verhältnis: Snow konstatiert in The
Two Cultures
einen status quo
wechselseitiger Ignoranz und wirbt – vor allem aus politischen
und ökonomischen Gründen – für Zusammenarbeit.
Edward O. Wilson geht noch weiter: Ziel solcher Kooperation ist die
„Einheit des Wissens“ („consilience“).
“Die Grundidee bei der Vorstellung von einer natürlichen Einheit allen Wissens ist, daß alle greifbaren Phänomene, von der Sternengeburt bis hin zu den Funktionsweisen von gesellschaftlichen Institutionen, auf materiellen Prozessen basieren, die letzten Endes auf physikalische Gesetze reduzierbar sind, ganz egal wie lang oder umständlich ihre Sequenzen sind. [...] Doch der wesentliche Punkt neben der Vorstellung von einer natürlichen Einheit allen Wissens ist, daß Kultur, und daher auch die einzigartigen Merkmale der Spezies Mensch, nur dann einen wirklichen Sinn ergibt, wenn sie in einen Kausalzusammenhang mit den Naturwissenschaften gestellt wird. Und dafür bietet sich die Biologie als nächstliegende und relevanteste aller wissenschaftlichen Disziplinen an” (Wilson 1998, S.355).
Nach
Wilson wird die „Einheit des Wissens“ durch die Anwendung
naturwissenschaftlicher Methoden in allen Forschungsbereichen
erreicht. Darum sind Wilsons Vorschläge für viele
Geisteswissenschaftler inakzeptabel. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes
soll begründet werden, warum das Unbehagen gegenüber
forcierter ‘Interdisziplinarität’ durchaus
gerechtfertigt ist.
Die
Idee eines ‘kompensatorischen’ Verhältnisses
zwischen GW und NW spielt bereits in der Arnold–Huxley Debatte
eine wichtige Rolle. Zuletzt wurde sie vor allem von Odo Marquard
vertreten: “Je moderner die moderne Welt wird, desto
unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.” (Marquard
1986, S.98f.) Die Geisteswissenschaften
erzählen „Sensibilisierungsgeschichten“,
„Bewahrungsgeschichten“ und „Orientierungsgeschichten“.
Damit kompensieren sie „Modernisierungsschäden“, die
vom naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt herrühren.xx
Ein
‘kompetitives’ Verhältnis von GW und NW wird
vor allem von politischen Entscheidungsträgern gefordert. Hier
geht es um Allokationsfragen.xxi
Die Präferenz von Politik und Sponsoren für
‘Interdisziplinäres’ kann auch erklären,
weshalb die Idee einer ‘splendid isolation’
kaum jemals vertreten wird. Ausnahmen gibt es dennoch. So schreibt
Melvin Lasky, Mitherausgeber von Encounter,
dem publizistischen Forum der Snow-Leavis-Debatte:
„Ich glaube, es gab immer zwei Kulturen, und wird sie auch immer geben. Und wenn wir es für noch so unerwünscht halten, wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern...” (Gingerich 1975, S.484).
Lasky hat Recht. Warum?
Die folgenden Überlegungen zielen auf die Differenz von GW und NW. Als Abgrenzungskriterium fungiert deren ‘Reflexionsebene’ oder ‘Erkenntnisinteresse’. Mit Blick auf Gegenstände und Methoden werden keinerlei Festlegungen getroffen. Das ist in zweierlei Hinsicht von Vorteil: Zum einen greifen NW längst auch auf Gegenstände zu, die traditionell die Domäne der GW bilden. Umgekehrt äußern sich Geisteswissenschaftler zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen. Das wird für diejenigen Modelle zum Problem, die den Gegenstandsbereich zum Abgrenzungskriterium von GW und NW erheben. Zum andern müssen Modelle mit einem methodischen Abgrenzungskriterium die unbestreitbare „Anarchie“ der Methoden durch normative Setzungen eskamotieren oder vorschnell auf die Ununterscheidbarkeit beider Diskursformen schließen. Darüber hinaus kann das hier offerierte Modell erklären, warum es bis heute – trotz aller Deklarationen über die „Einheit der Wissenschaft“ – „zwei Kulturen“ gibt: GW und NW verfolgen jenseits aller vermeintlichen methodischen Differenzen grundverschiedene ‘Erkenntnisinteressen’. Die Repräsentanten der beiden „Kulturen“ haben einander in der Tat nichts zu sagen, und dieser Umstand ist nicht beklagenswert.
Um die allzu vage
Rede von ‘Reflexionsebenen’ oder ‘Erkenntnisinteressen’
genauer zu fassen, führen wir einen Begriff aus der
Systemtheorie ein: „Beobachten“, die Einheit von
„Unterscheiden“ und „Bezeichnen“.xxii
Dieser Begriff enthält keine Vorentscheidung zugunsten des
epistemischen Realismus oder des Konstruktvismus: Zwar werden
Unterscheidungen – folgt man Luhmann – in einen
„unmarked state“ eingezeichnet, und demgemäß
kann kein Beobachtetes der Beobachtung präexistieren. Eine
realistische Deutung ist aber möglich: Ob Wirklichkeit
unabhängig von Beobachtung ein „unmarked state“ ist,
kann kein Beobachter entscheiden. Die These, Unterscheidungen gäben
präexistierende Unterscheidungen in einer „Welt-an-sich“
wieder, kann nicht widerlegt werden.xxiii
Das klingt zwar verstiegen, doch epistemischen Realismus
glaubwürdig zu begründen, war immer schon schwierig.xxiv
Trotzdem ist die Vorstellung, jene Wirklichkeit ‘vor der
Beobachtung’ sei der ‘Erkenntnis’ zugänglich,
bis heute verbreitet, und zwar auch unter Philosophen:
Voraussetzungsreiche Argumente können überzeugen,
sofern ihre conclusio plausibel erscheint. Für die realistische
Deutung von „Beobachten" gilt das umso mehr, als sie der
umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes entspricht. So
können beide Lager: epistemische Realisten wie Konstruktivisten
auf diesen Begriff zugreifen. Er ist erkenntnistheoretisch
indifferent. Das ist deswegen wichtig, weil die Behauptung, NW seien
durch eben diese Indifferenz gekennzeichnet, im Weiteren
von einiger Bedeutung sein wird.
Vorab ist zu
begründen, warum ein einzelner Begriff aus dem Vokabular
Luhmanns herausgelöst wird: Dass die „Wissenschaft der
Gesellschaft“ (1992) im Fach „Wissenschaftstheorie“
recht zögerlich rezipiert wird, mag man kontingenten Umständen
wie der traditionell eher geringen Kooperationsbereitschaft der
Soziologie gegenüber zurechnen, auch Luhmanns hermetischer
Schreibweise und teilweise extravaganten Interpretationen klassischer
Probleme der NW. In unserem Zusammenhang ist Luhmanns Entwurf
nur von begrenztem Interesse: Wissenschaft wird als Einheit
vorgestellt. Das Verhältnis von GW und NW bleibt
unberücksichtigt. Darüber hinaus sind Luhmanns Ausführungen
in mancher Hinsicht recht anfechtbar: So werden Theorien im System
Wissenschaft anhand der Unterscheidung „wahr vs. unwahr“
evaluiert. Doch in der naturwissenschaftlichen Sprache kommt diese
Unterscheidung nicht vor: „Wahrheit“ wird dem
Vokabular der Metaphysik zugerechnet. Für die GW gilt das umso
mehr: Die Hochkonjuktur von konstruktivistischen und
de-konstruktivistischen Theorien hat „Wahrheit“ aus dem
begrifflichen Inventar der GW eliminiert. Für Luhmanns
Vorschlag, „wahr vs. unwahr“ als Leitunterscheidung des
Systems Wissenschaft anzusehen, fehlen demnach die empirischen
Anhaltspunkte.xxv
Auch die
Entscheidung, jedem System genau eine operative
Leitunterscheidung zuzuweisen, ist anfechtbar. Zwar garantiert das
Übersicht, Ökonomie, Eleganz. Aber entspricht es der Praxis
der Wissenschaft? Tatsächlich werden stets mehrere
Unterscheidungen zur Evaluierung von Theorien eingesetzt, z. B.
„ökonomisch vs. unökonomisch“, „konsistent
vs. inkonsistent“, „heuristisch ergiebig vs. nicht
ergiebig“, „anschlussfähig (gegenüber
vorangehenden und nachfolgenden Beobachtungen) vs. nicht
anschlussfähig“.xxvi
Ist es erforderlich, ist es vertretbar, diese Unterscheidungen einer
einzelnen Leitunterscheidung zu subsumieren? Wenn ja, dann scheint
die Unterschiedung „gerechtfertigt vs. nicht gerechtfertigt“
den Intentionen der Forscher besser zu entsprechen als „wahr
vs. unwahr“.
Eine weitere
Besonderheit der Systemtheorie liegt in der rigiden wechselseitigen
Abgrenzung der Systeme. Auch das ist elegant. Doch ist es
sachgerecht? Im Spätwerk Poppers wird Wissenschaft als
Spezialfall von Kunst dargestellt, und selbst wer Popper nicht folgen
mag, muss zugestehen, dass ästhetische Merkmale bei der
Konstruktion und Evaluierung geistes- und naturwissenschaftlicher
Theorien eine wichtige Rolle spielen. Die Systemtheorie selbst ist
ein Beispiel dafür.xxvii
Kurz: Dass Luhmann
„selektiv“ rezipiert wird, rechtfertigt sich erstens aus
immanenten Problemen seiner Theorie und zweitens aus einer
veränderten Blickrichtung: Nicht die „Außengrenze“
von Wissenschaft wird fokussiert, sondern die „Binnengrenze“
zwischen GW und NW.
Kein Modell zum
Verhältnis von GW und NW wird auf alle Disziplinen gleichermaßen
gut anwendbar sein. Die folgenden Vorschläge wollen in erster
Linie an Literaturwissenschaft und Physik gemessen werden. Diese
Präferenz ist keineswegs idiosynkratisch.
Literaturwissenschaft und Physik wurden von jeher als
Prototypen von GW und NW angesehen: Kuhns Arbeiten zur Geschichte
der NW beziehen sich meist auf physikalische Probleme. Rorty
behandelt „literary criticism“ als Muster
geisteswissenschaftlicher Praxis. Dagegen bleiben
Sozialwissenschaften und Psychologie ambivalent. Ihrem
Selbstverständnis nach changieren sie zwischen GW und NW. Sie
sind als Prototypen ungeeignet.
NW beobachten. Im
Modus der Beobachtung zweiter Ordnung beobachten sie das
Unbeobachtete der Beobachtung erster Ordnung. Die Beobachtbarkeit des
Beobachteten und die Unbeobachtbarkeit des Unbeobachteten bleiben
unbeobachtet. Sie werden im Diskurs der NW nicht thematisch.
Naturwissenschaftler stellen zwar die methodologische Frage,
wie der Bereich des Beobachteten sich verschieben oder erweitern
lässt. Aber erkenntnistheoretische Fragen werden
ausgeklammert (z. B. „Was heißt es zu sagen, etwas werde
beobachtet?“ oder „Gibt es Unbeobachtetes, das sich jeder
Beobachtung entzieht?“). Das ist kein Ausdruck von Naivität,
sondern die Eigenart der naturwissenschaftlichen
Beobachtungsperspektive.xxviii
GW beobachten. Im
Modus der Beobachtung zweiter Ordnung beobachten sie das
Unbeobachtete der Beobachtung erster Ordnung. Hierin gleichen sie den
NW.xxix
Anders als NW thematisieren GW auch Beobachtbarkeit und
Unbeobachtbarkeit. Tatsächlich perspektivieren sie alle
Beobachtungen auf die Frage nach der Beobachtbarkeit des
Beobachteten und der Unbeobachtbarkeit des Unbeobachteten. Sie wird
zumeist in den Vokabularen von Systemtheorie, Dekonstruktion,
Psychoanalyse, Semiotik und Hermeneutik artikuliert. Deswegen wenden
Philologen der „alten Schule“ gegen die neuere,
erkenntnistheoretisch informierte Literaturwissenschaft ein,
literarische Texte würden nur mehr als Vorwand für
theoretische Glasperlenspiele missbraucht. Das Verhältnis von
Mittel und Zweck werde verkehrt. Die Repräsentanten der neueren
Literaturwissenschaft entgegnen, was an einem Text beobachtet werde
(oder unbeobachtet bleibe), sei nur zu begreifen, wenn seine
Beobachtbarkeit oder Unbeobachtbarkeit thematisiert werde.
„Reine“, „textimmanente“ Philologie bleibe
„unterkomplex“. Häufig wird dieses Argument weiter
zugespitzt: Es sei der Text selbst, der (Un-) Beobachtbarkeit
„performiere“, und darum sei er ein Kunstwerk.xxx
Die scheinbar weit ausgreifende „Spekulation“ sei
vielmehr der Musterfall redlicher Philologie. xxxi
Die Verschiedenheit
der geistes- und der naturwissenschaftlichen Beobachtungsperspektive
tritt besonders deutlich hervor, wenn NW auf Gegenstände
zugreifen, die herkömmlich den GW zugeordnet werden:
Neurophysiologische Analysen der Wirkung lyrischer Texte und Arbeiten
über die evolutionäre Genese und Funktion von Literatur
(Biopoetics) klammern die Frage nach der (Un-) Beobachtbarkeit ihres
Gegenstands konsequent aus. Für geisteswissenschaftliche
Analysen ist dies die leitende Fragestellung.xxxii
Umgekehrt gilt, dass Geisteswissenschaftler, wenn sie auf
„naturwissenschaftliche“ Gegenstände zugreifen,
recht besehen nicht diese selbst beobachten, sondern deren (Un-)
Beobachtbarkeit. Die Beobachtungsperspektive verschiebt sich vom
Gegenstand auf das Verhältnis des Gegenstandes zur Beobachtung.
Geisteswissenschaftler überspringen gleichsam die physikalische
Ebene der Beobachtung, um sich unvermittelt erkenntnistheoretischen
Problemen zuzuwenden. Daraus entstehen zuweilen Probleme.xxxiii
Dieses
Modell hat mindestens eine contraintuitive Konsequenz: Die Philologen
der „alten Schule“ müssen als Naturwissenschaftler
eingeordnet werden. Das ist bei näherer Betrachtung aber nicht
abwegig: Als Muster solcher „textimmanenten“ Philologie
kann der „New Criticism“
gelten. Er geht aus ‚Experimenten’ I.A. Richards hervor
und steht den NW auch unter methodischen Gesichtspunkten nahe.xxxiv
Weil die
Beobachtungspektiven von NW und GW grundsätzlich verschieden
sind, gibt es kein gehaltvolles Kriterium der Wertung, das auf beide
Bereiche angewandt werden könnte: NW sind daran zu messen, wie
sie Beobachtetes und Unbeobachtetes beobachten. GW sind daran zu
messen, wie sie Beobachtbarkeit und Unbeobachtbarkeit beobachten. So
kann keiner der beiden Bereiche einen Vorrang beanspruchen. Die eine
oder die andere Diskursform für überlegen zu erklären,
ist müßig. Dabei steht es den GW durchaus zu, die NW
darüber zu belehren, was sie „eigentlich“ tun;
welche Voraussetzungen ihrer Arbeit „reflektiert“ werden
müssten. NW dürfen solcherlei Reflexionen aber getrost
ignorieren: Sie bleiben ihrem Tun äußerlich.xxxv
Forderungen nach mehr Kooperation oder Wettbewerb sind müßig,
denn dafür sind GW und NW zu verschieden. Zu fordern, die
Geistes- sollten an den Naturwissenschaften Maß nehmen und
„gesellschaftsrelevantes“ „Wissen“ erzeugen –
etwa im Sinne einer „Sozialtechnologie“ oder
weltanschaulichen „Orientierungswissens“ –, ist
vollends verfehlt: Das können sie nicht. Eine Gesellschaft, der
Reflexion nichts gilt, hat GW schlichtweg nicht nötig. Auch die
„Einheit des Wissens“ ist eine Chimäre: Zwar wird
sie lautstark eingeklagt – doch dabei bleibt es. Nach allem,
was hier gesagt wurde, kann das nicht überraschen: NW können
auf „geisteswissenschaftliche“ Gegenstände und
Methoden zugreifen (und umgekehrt) – in diesem Sinne ist
„Interdisziplinarität“ möglichxxxvi
–, eine Verschmelzung der beiden charakteristischen
Beobachtungsperspektiven ist aber unmöglich und nicht einmal
wünschenswert.
Eine
Gemeinsamkeit der beiden Diskursformen ist aber festzuhalten. Sie
verbindet GW und NW mit Kunst und Religion.
Von Geistes- wie Naturwissenschaftlern sind Äußerungen überliefert, die von „Transzedenzerfahrungen“ berichten.xxxvii Im ersten Fall sind diese Erfahrungen mit ästhetischer Erfahrung verbunden. Im zweiten Fall mit der Anschauung einer als „schön“ oder „erhaben“ erlebten Natur:
„The most beautiful thing we can experience is the mysterious. It is the source of all true art and science” (Einstein 2005).
In solchen Aussagen manifestiert sich eine gewisse Unbefangenheit im Umgang mit manchen religiös oder metaphysisch konnotierten Begriffen. Für Naturwissenschaftler ist sie durchaus charakteristisch, schließlich sind sie nicht professionell mit Unbeobachtbarem befasst. Ihnen fehlen die ‘nach-kantischen’ erkenntnistheoretischen Skrupel, mit den Geisteswissenschaftler sich tagtäglich plagen. So können sie wie selbstverständlich auf Begriffe zurückgreifen, die unter Geisteswissenschaftlern längst „dekonstruiert“ sind. Ob deren abgeklärte, skeptische Haltung vorzuziehen ist, sei dahingestellt. Denn „Transzendenzerfahrungen“ oder „Präsenzeffekte“ (Gumbrecht) bleiben, was immer die offiziellen Selbstauskünfte darüber sagen mögen, der wichtigste Ansporn wissenschaftlicher wie künstlerischer Betätigung:
“There are similar satisfactions experienced by the scientist and artist in the creative process. As Arthur Koestler points out in The Act of Creation, the marvelous clarity that enraptures a scientist when he oder she discovers a law is shared by a poet when the words of a poem fall into a pattern that seems to fit exactly – or when a felicitous image unfolds in the mind of the artist to express the unexpressible. He views the sense of oceanic wonder as the emotive aspect of both art and science. It is the most sublime expression of self-transcending emotion – an emotion that is the root of the scientist’s quest for ultimate causes and the artist’s quest for the ultimate realities of experience” (Friedman 1999, S. 10).xxxviii
Wir danken Herrn Dr. Bernd Donner für wertvolle Hinweise zur Quantenphysik.
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J.J. Modern Quantum Mechanics.
Ed. San Fu Tuan. New
York et al.: Addison–Wesley, 1994.
Simonyi,
Károly. Kulturgeschichte der
Physik. Budapest: Akadémiai
Kiadó, 1990.
Snow,
C.P. The Two Cultures: and a Second Look. Cambridge: Cambridge
University Press, 1963.
Sokal,
Alan: Transgressing the boundaries: Towards a transformative
Hermeneutics of Quantum Gravitiy, in: Social Text, 46-47
(1996): 217-252.
Sokal,
Alan und Bricmont, Jean: Impostures intellectuelles, Paris:
Jacob, 1997.
Wilson,
Edward O. Die Einheit des Wissens. Transl.
Yvonne Badal. München: Goldmann, 1998.
iVgl.
z.B. Maier 1949.
iiIn
diesem Zusammenhang wird oft Giambattista Vico erwähnt, so etwa
in Rentsch 1991, S.30. Dabei ist unter „Artefakten“
alles vom menschlichen Geist Geschaffene zu verstehen, unter
„Naturgegenständen“ alles vom göttlichen Geist
Geschaffene. Vico hat letztlich aber nicht die Differenz, sondern
die Einheit allen Wissens im Blick. Siehe dazu Hösle 1990,
S.62.
iiiWann
der Begriff „Geisteswissenschaften“ erstmals gebraucht
wird, ist unklar. “Das Wort Geisteswissenschaft bzw. sein
Plural ist nicht, wie meist im Anschluß an Dilthey und
Rothacker behauptet wird, von Schiele in seiner Übersetzung der
Logik J.St. Mills als Übertragung des englischen
Terminus moral science zum ersten Male geprägt worden.
Es wird vorher schon in verschiedener Bedeutung verwendet”
(Ritter 1974, Band III, S. 211). Wahrscheinlich erscheint es im
heutig gebräuchlichen Sinne erstmals 1847 in Calinichs Philos.
Propädeutik für Gymnasien, Realschulen und höhere
Bildungsanstalten sowie zum Selbstunterricht.
ivVgl.
z. B. Rüegg 2004.
v
Diltheys Entwicklung von der Einleitung in die
Geisteswissenschaften (1883) zum Der Aufbau der
geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910)
erschwert eine zusammenfassende Darstellung. Eins ist aber sicher:
Dilthey hat stets die Verschiedenheit der beiden Diskursformen
betont. Im Gegensatz zu Vico kann er als Verteter eines
wissenschaftstheoretischen Dualismus in Anspruch genommen werden.
viBeide
Begriffe: „Verstehen“ und „Erklären“
bleiben problematisch (vgl. z. B. Makkreel 1991, S.175ff). Trotzdem
prägen sie bis heute die Diskussion.
vii„Metaphysische“
Aussagen sind nach Popper nicht per se sinnlos. Andernfalls stünde
die Sinnhaftigkeit seiner eigenen Aussagen in Frage, denn dass sie
falsifizierbar sind, darf man bezweifeln. Oder sollte man Kuhns The
Structure of Scientific Revolutions als Falsifikation der Logik
der Forschung betrachten?
viii
Der Ausdruck “Paradigmen”
meint in seiner engsten Bedeutung eine individuelle Problemlösung,
die zum Muster weiterer Forschungen wird: “These [paradigms] I
take to be universally recognized scientific achievements that
for a time provide model problems and solutions to a community of
practitioners” (Kuhn 1962, S. viii).
ix
Tatsächlich haben Naturwissenschaftler und Mathematiker
methodische Reglementierungen kaum je für sinnvoll
gehalten. „Gauß soll einem Freunde auf die Frage nach
den Fortschritten einer dringenden Arbeit geantwortet
haben: „Alle Formeln und Resultate sind fertig, nur den Weg
muß ich noch finden, auf dem ich dazu gelangen werde.“
Ich glaube nicht, daß Gauß diese gesagt hat, er war
nicht so aufrichtig; gedacht hat er es gewiß oft“
(Boltzmann: Vorlesung über Maxwells Theorie der Elektricität
und des Lichtes; zitiert nach Simonyi 1990, S.30.).
x“The
only principle that does not inhibit progress is: anything goes.”
(Feyerabend 1975, S.23) Weshalb ausgerechnet Feyerabend
emphatisch vom „Fortschritt“ der Wissenschaft spricht,
bleibt sein Geheimnis.
xiKuhn
mag nicht so weit gehen. In späteren Publikationen versucht er
solcherlei anarchistische und relativistische Weiterungen
seiner Forschungen einzudämmen. Feyerabend
dagegen bekennt: “I loved to shock people...”
(Feyerabend 1995, 142).
xiiUmgekehrt
könnte man fragen, ob Kunst nicht unter Bedingungen der Moderne
in wissenschaftliche Reflexion „aufgehoben“ wird. Dafür
gibt es reichlich Indizien. Man denke an Duchamps Invektiven gegen
die „retinale“ Kunst des Impressionismus und an Kossuths
Konzeptkunst.
xiii
„Riegl hat recht, wenn er sagt, daß die Künste eine
Fülle von Stilformen entwickelt haben und daß diese
Formen gleichberechtigt nebeneinander stehen, außer man
beurteilt sie von dem willkürlich gewählten Standpunkt
einer gewissen Stilform aus. [...] Die Behauptung Riegls trifft auch
auf die Wissenschaften zu. Auch sie haben eine Fülle von Stilen
entwickelt, Prüfungsstile eingeschlossen, und die Entwicklung
von einem Stil zu einem andere ist der Entwicklung, sagen wir, von
der Antike zum gotischen Stil durchaus analog.“ (Feyerabend
1984, S. 76)
xiv
Tatsächlich gibt es nur ein „principle
of ‚indeterminacy’“.
xv
Vgl. Sakurai 1994, S.34-36, 47-48, 98 und Nolting 1997, S.86-87,
173-175.
xviDie
Sekundärliteratur zur Snow-Leavis-Debatte ist uferlos. Einer
der umfassendesten neueren Beiträge ist Cordle 1999.
xvii
„Most of our fellow human beings, for instance, are underfed
and die before their time. In the crudest terms, that is the
social condition. There is a moral trap which comes through the
insight into man’s loneliness: it tempts one to sit back,
complacent in one’s unique tragedy, and let the others go
without a meal. As a group, the scientists fall into that trap less
than others. They are inclined to think that it can be done, until
it’s proved otherwise. That is their real optimism, and it’s
an optimism that the rest of us badly need. In reverse, the same
spirit, tough and good and determined to fight it out at the side of
their brother men, has made scientists regard the other culture’s
social attitudes as contemptible” (Snow 1964, S.7).
xviiiKaren
Gloy nimmt in „‘Kultur’ versus
naturwissenschaftlich–technologische Welt: Ein Tableau”
eine ähnliche Einteilung vor. Sie unterscheidet das
„Nebeneinander”, das „komplementäre
Miteinander” und das „Ineinander der Paradigmen”
(Gloy 2000, S.13ff.) . Sie versäumt allerdings, deskriptive und
normative Aussagen über GW und NW voneinander zu trennen.
xixZwei
Beispiele: “Ziel dieses Bandes ist es, zur Auflösung des
dualen Wissenschaftssystems beizutragen. Die Autoren gehen der Frage
nach, ob die gängige Annahme von der Existenz der “two
cultures”, der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften,
nicht nur falsch, sondern auch gefährlich sein könnte. Sie
untersuchen, ob nicht Wissenschaft ihrem Ursprung und ihrem Wesen
gemäß nach wie vor eine Einheit ist” (Mainusch et
al. 1993, S.7); “Wichtig ist auch das interdisziplinäre
Bemühen, das traditionelle Deutungsmuster von den “zwei
Kulturen” (Natur- und Geisteswissenschaften) oder vom
Gegensatz “Erklären – Verstehen” zu
überwinden und den Diskurs über die Differenz und
Verknüpfung der beiden großen Wissenschaftsbereiche zu
forcieren. [...] Der Graben zwischen den GW und den NW, der immer
wieder gezogen wird, ist keineswegs unüberwindlich”
(Reinalter 1999, S.16).
xxDie
Vorstellung, dass NW Schäden kompensieren, die auf GW
zurückgehen, findet sich kaum; es sei denn, man zöge
solche Autoren in Betracht, die naturwissenschaftlichem Denken eine
disziplinierende und darin therapeutische Wirkung zuschreiben: „Die
Naturforscher fingen nun an, ein gewisses Gewicht darauf zu legen,
daß ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen
Einflüssen gehalten seien, und es kam bald dahin, daß
viele von ihnen, darunter Männer von hervorragender Bedeutung,
alle Philosophie als unnütz, ja sogar als schädliche
Träumerei verdammten“ (Helmholtz 1855, zitiert nach
Simonyi 1990, S.396).
xxi
Dabei sind die NW deutlich im Vorteil. Vgl. „Geförderte
Schwerpunktprogramme je Wissenschaftsbereich 1997 bis 2004“
auf der Homepage der DFG.
xxii
„Das Unterscheiden-und-Bezeichnen ist als Beobachten eine
einzige Operation; denn es hätte keinen Sinn, etwas zu
bezeichnen, was man nicht unterscheiden kann, so wie umgekehrt das
bloße Unterscheiden unbestimmt bliebe und operativ nicht
verwendet werden würde, wenn es nicht dazu käme, die eine
Seite (das Gemeinte) und nicht die andere (das Nichtgemeinte) zu
bezeichnen.“ (Luhmann: 1997, S. 94f) Entscheidend ist, dass
jede Beobachtung ein Unbeobachtetes erzeugt, weil eine Seite der
Beobachtung stets unbezeichnet und folglich unbeobachtet bleibt.
xxiii
Formaler gesprochen: „Der Begriff „Beobachtung“
impliziert eine konstruktivistische Erkenntnistheorie“ ist
kein analytischer Satz.
xxiv
Das prägnanteste Beispiel sind wohl Descartes Meditationen.
xxv
„Wenn man also wissen will, was Wahrheit ist, muß man
[…] diesen Beobachter [den Wissenschaftler, d. V.]
beobachten, um herauszufinden, wie er mit der Unterscheidung
wahr/unwahr umgeht […].“ (Luhmann 1992, S. 181) Was
aber, wenn „dieser Beobachter“ mit „wahr/unwahr“
nicht umgeht? Kann die Bedeutung von „Wahrheit“
dann überhaupt festgestellt werden? Und hat es Sinn, Ausdrücke
zu verwenden, deren Bedeutung nicht festgestellt werden kann?
xxvi
Selbst wenn sich herausstellt, dass alle dieser
Unterscheidungen auch in anderen Systemen zur Anwendung kommen,
können System-Differenzen modelliert werden, und zwar über
die relative Gewichtung, das ranking der Unterscheidungen.
xxviiAuch
in den NW finden sich reichlich Belege: “The theory is of
uncomparable beauty“, schreibt Einstein über die
allgemeine Relativitätstheorie; „Die Physik ist ethisch
neutral, obwohl der Physiker es nicht ist. Der Physiker ist jedoch
überzeugt davon, daß auf physikalische Theorien zwar
keine ethischen, wohl aber ästhetische Kategorien anwendbar
sind.“ (Simonyi 1990, S.35)
xxviii
Dass sich Naturwissenschaftler als Privatperson für
erkenntnistheoretische, selbst metaphysische Fragen interessieren
können, sei nicht bestritten. Darauf geht die Schlussbemerkung
dieses Aufsatzes ein.
xxix„Daß
hier auch die Beobachtung erster
Ordnung eine Rolle spielt […] ist durch die neueren
Untersuchungen in wissenschaftlichen Laboratorien hinreichend
belegt. Aber das schließt […] eine draufgesetzte
Beobachtung zweiter Ordnung keineswegs aus. Das
Vermittlungsinstrument, das die strukturelle Kopplung der
Beobachtung erster und zweiter Ordnung sicherstellt, sind
Publikationen, die in der Perspektive erster Ordnung […]
produziert und gelesen werden, aber zugleich zum Durchblick auf die
Beobachtungsweise anderer Wissenschaftler (und reflexiv dann
auch auf die eigene) führen und erst darin ihren eigentlichen
wissenschaftlichen Sinn gewinnen. […] Die Arbeit an
Publikationen sichert mithin die Kontinuität des
ausdifferenzierten Wissenschaftssystems auf der Ebene des
Beobachtens zweiter Ordnung.“ (Luhmann 1997, S. 105f)
xxx
Im Bereich der Germanistik werden Kafka und Kleist besonders häufig
in diesem Sinne rezipiert.
xxxi
Recht besehen hat eine konstruktivistische Literaturwissenschaft
dieses Argument aber nicht nötig: Sie muss – und darf –
eine präexistierende Bedeutung des Textes nicht unterstellen:
Text ist, was als Text konstruiert wird. So laufen die Einwände
„konservativer“ Philologen ins Leere.
xxxii
Ein weiteres Beispiel ist der Streit um das Phänomen
„Bewusstsein“. Naturwissenschaftler beobachten
biochemische Vorgänge im Hirn; dass Bewusstsein mehr
ist, wird nicht bestritten, aber weil dieses „Mehr“
unbeobachtbar sei, könne es wissenschaftlich nicht
berücksichtigt werden. Für Philosophen ist das
„Unbeobachtbare“ aber die zentrale Kategorie in der
Auseinandersetzung mit Bewusstsein. Die Differenz der beiden
Perspektiven scheint unaufhebbar.
xxxiii
„Man gelangt […] zur Quantenphysik als einer Theorie,
die nur noch das Beobachten von Physikern durch Physiker beschreibt
[…] und die Realität korrelativ dazu als unbestimmbar
beschreibt.“ (Luhmann in: Jahraus 2001, S. 232) Kein Physiker
wird diese Deutung akzeptieren. Tatsächlich ist die
Quantenphysik kaum besser geeignet, den Konstruktivismus zu
legitimieren als irgendeine andere Theorie. Die Schwierigkeiten
eines allzu forschen geisteswissenschaftlichen Zugriffs auf
Fragestellungen der Naturwissenschaften hat Sokal – in
parodistischer Übertreibung – vorgeführt. Vgl. Sokal
1996, 1997.
xxxiv
I.A. Richards testet die Reaktion seiner Studenten auf ihnen
unbekannte literarische Texte. Die Interpretationen und
Wertungen divergieren so stark, dass ihm die Wissenschaftlichkeit
der Philologie nicht gewährleistet scheint. Deswegen etabliert
er „close reading“ als Prinzip einer
literaturwissenschaftlichen Propädeutik. Leavis erhebt es zur
allein maßgeblichen Methode der Philologie. In der
amerikanischenVersion des „New Criticism“ werden
Texte schließlich von allen möglichen Kontexten isoliert.
Die „isolierende“ Betrachtungsweise ist ein in den NW
gebräuchliches Verfahren. (vgl. Richards
1926, 1929 und Brooks 1947).
xxxv
Das bringt bereits Helmholtz auf den Punkt: „Die Naturforscher
wurden von den Philosophen der Borniertheit geziehen; diese von
jenen der Sinnlosigkeit“ (zitiert nach Simonyi 1990, S.396).
xxxvi
Gelungene Beispiele finden sich in Rentschler 1988.
xxxvii
Wie „Transzendenz“ im Einzelnen zu deuten ist, mag offen
bleiben. Hier kommt es lediglich darauf an, dass Geistes- und
Naturwissenschaftler in einem eng umgrenzten Bereich metaphysisches
Vokabular verwenden.
xxxviii
Jerome Friedman erhielt 1990 den Nobelpreis für Physik.
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PeterPalm 25.10.2012 12:16
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