Erschienen in Ausgabe: No 61 (3/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Mike Mohring
Was verstehen Sie
unter einer „Volkspartei“? Welchen Ansprüchen muss eine Partei genügen, um sich
mit diesem Titel schmücken zu dürfen? Handelt es sich um eine Partei, die in
ihren Wahlergebnissen regelmäßig beweist, den größten Teil der Bevölkerung
hinter sich versammeln zu können? Oder zeichnet sich diese Partei durch ihre
Mitgliederstärke aus? Ist es eine Partei, deren Programm so gestaltet ist, dass
sich jeder Bürger dieses Landes damit identifizieren kann? Oder ist es vielleicht im Sinne der
„Volx“-Bewegung eines bekannten deutschen Boulevardblattes eine Partei, die
sich auch „der kleine Mann“ leisten kann?
Landläufig wird die
Union als eine der „großen Volksparteien“ bezeichnet. Nicht nur hinter den
Kulissen dreht sich jedoch seit Jahren die Diskussion um die Frage, inwiefern
wir diesem Anspruch noch gerecht werden können. Stetig sinkende Wahlergebnisse
in Ost wie West – der zunehmende Schwund an Mitgliedern, all das lässt sich –
nicht nur in unserer – Partei beobachten. Zwar regieren CDU und CSU seit dem
Herbst 2009 im Bund wieder mit ihrem Wunschpartner FDP in einer bürgerlichen
Koalition. Doch darüber darf nicht vergessen werden, dass das Zweitstimmenergebnis
von 33,8Prozent das schlechteste für die Union seit 1949 gewesen ist. Von
den zwei Millionen Wählern mehr, die vier Jahre zuvor 2005 CDU/CSU gewählt
haben, gingen rund 1,1Millionen zur FDP und 900000 blieben zu
Hause. In angestammten CDU-Hochburgen gingen seit 2005 mehr als 10Prozent
der Wähler verloren. In den Ländern erzielte die CDU/CSU zuletzt in
Baden-Württemberg im März 2006 ein Ergebnis jeweils von 44 %. Bei den
Landtagswahlen im größten Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, setzte sich der
Absturz im Mai 2010 mit dem Verlust der Regierungsverantwortung fort. Die CDU
verlor bei knapp 13,3Millionen Wahlberechtigten gegenüber der Landtagswahl
2005 mehr als eine Million Wähler und konnte nur noch 2,68Millionen der
Zweitstimmen für sich gewinnen. Die FDP konnte lediglich 130000 auf ihre
Seite ziehen, 330000 frühere CDU-Wähler blieben einfach zu Hause, und
immerhin 260000 konnten SPD, Grüne und LINKE für sich gewinnen. Vor allem
aber zeigt dieses Wahlergebnis eines: Enttäuschte CDU-Wähler landen nicht
automatisch bei der FDP und sichern damit bürgerliche Mehrheiten. Sollte es
diese Hoffnung in der Union gegeben haben, so hat sie getrogen.
Seit Jahren wurden
und werden immer neue Ideen erwogen und Konzepte erdacht, mit denen man dieser
Entwicklung zu begegnen versucht. Während über viele Jahre das Interesse im
Mittelpunkt stand, sich neuen Wählerschichten in der Mitte der Gesellschaft zu
öffnen, rücken dabei jetzt jene Stammwähler wieder stärker in den Mittelpunkt
die mehr und mehr den Wahlen fernbleiben. Dieser Wählergruppe ist mit der
ebenfalls interessanten Gruppe der Wechselwähler eines gemeinsam: Die einen wie
die anderen erwarten von einer Partei – von „ihrer“ Partei vor allem eins: ein
klares Profil mit einer klaren politischen Botschaft.
Die Bundestagswahl
2009 und die nordrhein-westfälische Landtagswahl 2010 werfen die Frage auf, ob
es richtig war, bei der Formulierung politischer Botschaften und strategischen
Aufstellung der CDU von einer Vorstellung leiten zu lassen, die sich
vereinfacht auf folgende Annahmen stützt: Die Gesellschaft werde immer stärker
durch Individualisierung und Pluralisierung geprägt. Die traditionellen Milieus
mit einer engen Parteibindung, wie dem katholischen Kirchgänger oder dem
gewerkschaftlich orientierten Arbeiter würden immer unbedeutender. Politik, die
vor allem diese Milieus bedient, habe es schwer, andere Wählerschichten zu erreichen.
Ein flaches Profil
und weiche Botschaften haben nicht dazu geführt, mehr neue Wähler zu gewinnen
als die CDU an anderer Stelle verloren hat.
Es war ein
Kurzschluss, zu glauben, Wähler, die sich weniger stark an bestimmte Milieus
oder Parteien gebunden fühlen, mit einem möglichst vagen politischen Angebot
von sich überzeugen zu können. Im Gegenteil: Wenn eine wachsende Zahl der
Bürgerinnen und Bürger zunehmend alles unübersichtlich findet und Orientierungsschwierigkeiten
hat, wächst das Bedürfnis nach einer klaren politischenFührung, die ihre Maßstäbe offenlegt und
konsequent nach außen vertritt. Das ist im Übrigen auch eine Frage der politischen
Lauterkeit. Demokratische Kultur lebt von erkennbaren und wählbaren politischen
Alternativen. Es ist an der Zeit, Botschaften wieder eindeutig zu formulieren
und Politik daran auszurichten. Damit erfüllt Politik auch eine ihrer
ureigensten Aufgaben, nämlich Orientierung zu geben, quasi Leuchtturm zu sein
und einen Weg aufzuzeigen, den die Gesellschaft in ihrer ganzen Bandbreite
gehen kann.
Die Stärke der
Volkspartei CDU war und ist, dass sie eine Union verschiedener politischer
Traditionsstränge ist, des christlich-sozialen, liberalen und konservativen.
Diese Ausprägungen standen nie nebeneinander und schließen einander auch nicht
aus. Sie sind in ihrer Unterschiedlichkeit aufeinander bezogen und bedingen
einander. Vereinfacht kann man sagen: Mittel für die soziale Sicherung müssen
zunächst erwirtschaftet werden. Deshalb kann das Christlich-soziale nicht ohne
liberale Orientierung an den Prinzipen der Marktwirtschaft funktionieren.
Marktwirtschaft funktioniert jedoch auf Dauer nicht, wenn Unsicherheit die Erfahrung
ist, die Menschen vor allem mit ihr verbinden. Deshalb brauchen die Liberalen
die Einrede der Christlich-Sozialen. Jedes soziale Gemeinwesen und jede Wirtschaft
braucht starke Institutionen, eindeutige Regeln, Wertbindungen und nationalen
Zusammenhalt. Deshalb funktionieren Partei und Gesellschaft nicht ohne das
konservative Element. Die Bindungskraft der Konservativen ist gefordert, angesichts
sozialer und wirtschaftlicher Realitäten Kontinuität im beständigen Wandel zu
gestalten. Aus dem Gleichgewicht dieser drei Strömungen wuchsen die
Voraussetzungen, mit denen sich die Union zu einer Volkspartei entwickeln konnte,
die sich auch in den Wahlergebnissen niederschlug. Die sprichwörtliche „gute
alte Zeit“ ist aber meist eine Fiktion, eine rückwärtsgewandte Utopie. Jede
Generation aktiver Politiker in der Union ist deshalb stets aufs Neue
gefordert, dieses Gleichgewicht neu zu bestimmen, weil jede Zeit ihre eigenen
Fragen stellt. Es ist noch immer diese Balance, die der Union dazu verhilft,
Volkspartei zu bleiben: So kann sie weiterhin breite Schichten der Bevölkerung
erreichen, sich selbst als Partei und das Land gleichmäßig weiterentwickeln.
Deshalb tut es auch
der CDU gut und sichert ihr die politische Gestaltungskraft für die Zukunft, wenn
sie immer wieder danach fragt, was es heute und morgen bedeutet,
christlich-sozial, liberal oder konservativ zu sein. In der öffentlichen Debatte
ist es oft einfacher das soziale oder das liberale Element zu betonen und im
Wettstreit mit dem politischen Mitbewerber in den Fokus zu rücken. Das Element
des Konservativen wird in der Öffentlichkeit nicht selten mit reaktionärem
Denken verwechselt. Der angebliche Makel des „rückwärtsgewandten“ und damit
„rückständigen“ Politikers, der mit diesem Missverständnis einhergeht, verleiht
einem daher schnell das Gefühl, in der öffentlichen Debatte mit dem Rücken zur
Wand zu stehen. Es erfordert Mut, diesen Weg dennoch zu gehen. Und es erfordert
Standhaftigkeit, stets aufs Neue darauf hinzuweisen, das erst mit dem Element
des Konservativen das Profil der Union vollständig – und damit auch erklärbar
wird.
Die CDU-Fraktion im
Thüringer Landtag hat sich immer wieder dem Ringen um dierichtige Balance der Strömungen gestellt. Und
sie hat dabei immer wieder darauf geachtet, das Konservative nicht nur mit zu
benennen, sondern auch ganz gezielt in den Fokus zu rücken. Die CDU-Fraktion im
Thüringer Landtag hat deshalb in einer Vortrags- und Gesprächsreihe die Frage
gestellt: „Was heißt heute konservativ?“, was zeichnet modernen, zeitgemäßen
Konservatismusaus. Die Vorträge dieser
Reihe bilden den Kern dieses Bandes. Hinzugekommen sind weitere Beiträge von
Vertretern aus Politik und Gesellschaft, die nicht direkt aus dem Blickwinkel
dieser Fragestellung heraus entstanden sind. In ihnen spiegeln sich – je nach
Standpunkt - auch die anderen Strömungen innerhalb der Union wider. Wir haben
uns ganz bewusst entschieden, die Debatte um das konservative Element innerhalb
der Union mit diesen Beiträgen zu flankieren, weil wir davon überzeugt sind,
dass sich erst im Zusammenspiel aller drei Elemente ein vollständiges Bild
unserer politischen Grundlagen und Überzeugungen zeichnen lässt.
I
Verbindlicher
Ausgangspunkt politischen Denkens ist für die gesamte Union das christliche
Menschenbild. Mit diesem Menschenbild und seinen Konsequenzen befassen sich die
ersten vier Vorträge. Der Thüringer Landesbischof i.R. Prof. Dr. Christoph
Kähler grenzt das christliche Menschenbild gegen den anthropologischen
Optimismus des untergegangenen Sozialismus – der Mensch vermag alles, muss sich
aber auch alles zurechnen lassen – genauso ab, wie gegen die Resignation, die
aus dem Gefühl des Ausgeliefertseins Schuld auf Kosten der eigenen
Verantwortung für das Ganze stets beim anderen sucht.
Dem stellt er das
christliche Verständnis des Menschen gegenüber, der „zunächst und zuerst der
Empfangende ist“, das in eine größere Wirklichkeit hineingesetzte Geschöpf und
nicht primär der Schaffende oder Schöpfer seiner Welt, für die er allerdings
auch Verantwortung trägt. Das schützt vor der Hybris und Überforderung des
anthropologischen Optimismus und der ethischen Unterforderung einer
resignativen Haltung. Der Mensch ist zugleich als Ebenbild Gottes mit unveräußerlicher
Menschenwürde, Souveränität und Freiheit begabt, aber auch der fehlerhafte und
in Schuld verstrickte Mensch.
Der frühere
italienische Kultusminister Rocco Buttiglione, Präsident der UDC, geht
in einem mitgeschnittenen Redebeitrag der Frage nach, wie die Dauerhaftigkeit
und Stabilität der Demokratien gewährleistet werden kann. Für ihn ist die Verankerung
der Demokratie in festen Werten ausschlaggebend, und den maßgeblichen Wert
sieht er in der Idee der menschlichen Person, die in Europa in der christlichen
Tradition wurzelt. Die unverfügbare Beziehung der Person zu Gott, die christliche
Überzeugung, dass der Mensch seinem Wesen nach frei ist, begrenzt auf
demokratieförderliche Weise den Handlungsspielraum politischer Macht und der
Ideologien. Dabei ist es für ihn politisch unerheblich, ob dem Christentum eine
unmittelbar religiöse oder lediglich kulturprägende Bedeutung beigemessen wird.
Dass das christliche
Menschenbild Ausgangspunkt konservativen Denkens sein kann, zeigt der Mainzer
Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder. Da der Mensch nicht perfektionierbar
und auch nur unvollkommen in der Lange ist, seine Welt zu erfassen und zu
gestalten, empfiehlt Rödder eine Politik auf Sicht als einzig vernünftige Konsequenz
und Ausgangspunkt konservativen Denkens. Das führt zu einer Wertschätzung des
erfahrungsgestützten Common sense, zu einer Politik, die aus der Mitte heraus
und nicht von den Rändern her formuliert wird. Die Skepsis lehrt
Bescheidenheit: Der Gesellschaft gebührt Vorrang vor dem Macht- und Obrigkeitsstaat
und dem sozialen Fürsorgestaat. Politik kann sich um günstige Bedingungen für
gelingendes Leben bemühen, ausfüllen muss sie jeder einzelne. Der Staat ist
nicht der Glücksagent der Lebenszufriedenheit. Der Konservatismus sei daher
seinem Wesen nach antiextremistisch und unideologisch.
II
Der zweite Teil des
Bandes ist Reflexionen über die Grundwerte der CDU – Freiheit, Solidarität und
Gerechtigkeit – gewidmet. Der Staatsrechtler Prof. Dr. Paul Kirchhof
widmet sich dem Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. Als konservativ
bezeichnet er eine dynamische, in der Kontinuität der Werte stehende Lebens-
und Denkkonzeption, zu der die gleiche Würde des Menschen, die Ideen des
Friedens, der Demokratie, des Sozialen, der Freiheit und des Parlamentarismus
gehören. Freiheit zielt für Kirchhof auf Verantwortung, sie setzt eine innere
Bindung voraus. In der den Rahmen setzenden Verfassung sieht er ein Konzentrat
gewachsener Kultur.
Der frühere
Ministerpräsident des Freistaat Thüringens Dieter Althaus und seine
Nachfolgerin im Staatsamt und Landesvorsitz der CDU Christine Lieberknecht
richten in den beiden folgenden Beiträgen den Blick auf die Wertetrias der
Union und dort insbesondere auf Solidarität und Gerechtigkeit. Für Althaus
wurzelt die Solidarität im Gebot der Nächstenliebe. Sie zu üben, ist zunächst
eine Aufgabe des unmittelbaren Lebensbereichs, und erst danach sind der Staat
und die Gemeinschaft in der Verantwortung. Zur Solidarität gehöre zwingend die
Subsidiarität. Der Maßstab der Gerechtigkeit ergibt sich für den früheren
Ministerpräsidenten aus der gleichen Würde jedes Menschen und ist eine
Bedingung der Freiheit. Gerechtigkeit ziele auf gerechte Chancen, aber sei kein
Versprechen gleicher Ergebnisse. Lieberknecht wendet den Grundwert der
Gerechtigkeit zunächst auf die Familienpolitik an, die – ganz im Geist des
Subsidiaritätsprinzips – nicht gerecht sein könne, wenn sie die Vielfalt der
Lebensentwürfe in der Gesellschaft nicht zur Kenntnis nimmt. Für die
Bildungspolitik stellt sie Chancengerechtigkeit als zentrales Postulat heraus
und verweist schließlich auf die Generationengerechtigkeit mit der
Haushaltskonsolidierung als einer Grundvoraussetzung.
Der ehemalige
Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Prof. Dr. Norbert Walter, stellt
heraus, dass Gerechtigkeit und Solidarität nur unter den Bedingungen einer leistungsfähigen
Staats- und Marktordnung gedeihen können, die nur der Staat selbst gewährleisten
kann. Diese Ordnungen lassen sich umso leichter schaffen, je klarer eine
Gesellschaft einer gemeinsamen Ethik folgt, die sich aus philosophischen, religiösen
oder kulturellen Quellen speist. Walter bricht aber vor allem eine Lanze für
den innersten Kreis wechselseitiger Solidarität, die Familie, die wie keine
andere Institution die Eigenliebe begrenze und in bedeutendem Maß das Soziale
gewährleiste.
Die Personal- und
Unternehmensberaterin Mechthild Löhr erinnert daran, dass die soziale
Marktwirtschaft eine Ordnung ist, die gedanklich im christlichen Menschenbild
und liberalen Überzeugungen verankert ist und in deren Zentrum Freiheit und
soziale Verantwortung stehen. Sie leitet daraus ethische Ansprüche ab, die an
diese Ordnung zu stellen sind und zu denen auch die Gemeinwohlverpflichtung der
Unternehmen gehört. Löhr widmet sich dann dem Mittelstand, der, wie sie
überzeugend nachweist, seiner sozialen Verantwortung im hohen Maß gerecht wird;
nicht zuletzt durch die lebensweltliche Verankerung der kleinen und mittleren
Betriebe.
III
Die anschließenden
fünf Beiträge sind dem Zusammenhalt der Gesellschaft gewidmet. Jürgen
Liminski, deutscher Journalist, Publizist, Buchautor und Vater von
10 Kindern bricht eine Lanze für die
Familie. Wie er ausführt, ist sie zur Herausbildung des Humanvermögens, verstanden
als umfassende Daseinskompetenz, unverzichtbar. In den Familien werden Werte
vermittelt und solidarisches Verhalten eingeübt. Liminski weist auf die Zeit
hin, die Familien benötigen, um stabile Beziehungen ausbilden zu können und
plädiert nachdrücklich dafür, sie vor allem Familien mit kleinen Kindern zu
lassen. Gute Familienpolitik lässt sich nach seiner Überzeugung durch die Ziele
Leistungsgerechtigkeit und Wahlfreiheit leiten.
Der Präsident des
Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, setzt sich mit den Folgen antiautoritärer
Pädagogik auseinander und entwirft unter der Überschrift „Mut zur Erziehung“ in
zehn Anmerkungen ein Konzept zeitgemäßer Pädagogik. Dabei baut er unter anderem
auf eine Renaissance der Prinzipien Arbeit und Leistung und weist auf die
Bedeutung von Vorbildern hin. Kritisch setzt er sich mit der Ganztagsbetreuung
auseinander. Mit Blick auf aktuelle pädagogische Diskussionen fordert er eine
„Debatte um Inhalte und Werte statt um vage Schlüsselqualifikationen und
Kompetenzen“. Krause versteht sich als Anwalt behutsamer Weiterentwicklung.
Nicht das Bewährte müsse sich vor dem Neuen, sondern das Neue vor dem Bewährten
rechtfertigen.
Bundesbildungsministerin
Annette Schavan reflektiert in ihrem Beitrag bleibende bildungspolitische
Herausforderungen und orientiert sich dabei an der Frage, wie durch Bildung
Teilhabe- und Lebenschancen verbessert werden können. Sie widmet sich dabei
besonders der frühkindlichem Bildung und der dualen Berufsausbildung. Schule
hat für Schavan die Aufgabe, Grundlagen zu vermitteln, auf die sie sich
angesichts des schnell wachsenden Wissens konzentrieren müsse. Die Bildungsministerin
will, dass sich Deutschland zur Talentschmiede entwickelt, und erwartet, dass
Bildung den Heranwachsenden hilft, Antworten auf die vier von Kant formulierten
Grundfragen zu finden: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich
tun? Was ist der Mensch?
Der ehemalige
Hörfunkchef des Mitteldeutschen Rundfunks, Johann Michael Möller, geht
der Frage nach, welche Bedeutung der Heimat unter den Bedingungen der
Globalisierung noch oder wieder zukommt. Nach Reflexionen über die in Teilen problematische
Geschichte des Begriffs fasst Möller ihn neu als „Gegenbegriff zu einer
vermachteten Gesellschaft“, der heute die totale Vermachtung durch die Ökonomie
drohe. Möller entfaltet diese These im Kontext der Stichworte Migration und
Integration und der Bedingungen im Web 2.0. Er sieht eine Phase „des aktiven
Sich-wieder-Einbettens in eine Welt natürlicher, sozialer und kultureller
Bindungen“ heraufziehen.
Der Direktor des
Instituts für Zeitgeschichte, Prof. Dr. Horst Möller, stellt in seinem
Beitrag offene und geschlossene Geschichtsbilder gegenüber. Da Erinnerung immer
Rekonstruktion ist und ihre Interpretation nach Generationen und Orten
schwankt, wendet sich Möller dagegen, Geschichtsbilder in „zwangsneurotischen
Geschichtstheorien“ zu zementieren. Nur eine offene Geschichtskultur ist für
den Wissenschaftler eine demokratische Geschichtskultur, die einzig in der Lage
ist, das Humane offen zu halten. Der Historiker wendet sich dagegen, Themen zu
tabuisieren, weil dies nur der Legendenbildung Vorschub leiste.
Der Staatsrechtler
und Staatsphilosoph Prof. Dr. Josef Isensee befasst sich mit den Bedingungen
gelingender Integration in Deutschland und skizziert dazu die Herausforderungen
im Bereich der Schulpolitik, des Staatsangehörigkeitsrechts, der Rechtskultur
und des Staates als Solidargemeinschaft. Er warnt davor, kulturelle
Unterschiede zu tabuisieren und bezeichnet den Staat als das Gehäuse einer bestimmten
Kultur, selbst wenn diese sich nicht in nationale Grenzen einschließen lasse.
Der Staat, bis hin zur Interpretation der Verfassung, ist für Isensee von dieser
Kultur abhängig. Den Deutschen wünscht er eine Zukunft jenseits von Größenwahn
und Kleinmut.
Ist die
Integrationspolitik eine der zentralen Herausforderungen für die Zukunft, so
ist eine andere – mit erheblichen Schnittmengen zur Integration der Gesellschaft
– in der demographischen Entwicklung zu sehen. Ihren Folgen widmet sich unter
dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit Prof. Dr. Kurt Biedenkopf.
Der frühere sächsische Ministerpräsident fordert von der Politik
„enkeltaugliche“ Entscheidungen. Eine Forderung, die für Biedenkopf die
Sozialsysteme, die Umweltpolitik, die Schwerpunkte in den öffentlichen
Haushalte, aber auch das Wertegerüst des Staates und der Gesellschaft betrifft.
Vehement plädiert er dafür, Entwicklungen, die aus dem Ruder gelaufen sind,
wieder einzufangen und zu begrenzen – und prophezeit dem demokratisch
organisierten Gemeinwesen den Untergang, sollte dies nicht gelingen. Zentraler
Hebel ist für ihn der unlösbare Zusammenhang zwischen Freiheit und
Verantwortung, der sich zuerst in den kleinen Lebenskreisen bewährt und nicht
aufgelöst werden darf.
An die zentralen
Gesichtspunkte der umfassend verstandenen Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit
knüpft der frühere bayerische Landtagspräsident Alois Glück an. Er bestimmt
längerfristiges Denken als Kern konservativen Denkens und fragt nach einer zukunftsfähigen
Kultur, nach Leitbildern für ein gutes Leben, die sich von unserer nach seiner
Überzeugung nicht zukunftsfähigen Lebensweise unterscheiden. Er führt dazu aus,
was er unter einer Kultur der Verantwortung, zeitgemäßer Bürgerlichkeit und
langfristiger Zukunftsverantwortung versteht. Das Subsidiaritätsprinzip ist für
Glück dabei Verantwortungs- und Strukturprinzip gleichermaßen.
IV
Bleibt zum Schluss
zu fragen: Was haben drei Jahre intensiver Diskussionen über den Begriff des
Konservativen und die Einbindung des Begriffs in das Gefüge der drei Strömungen
für unserSelbstverständnis beigetragen?
Vieles: Ein zeitgemäßer, moderner Konservatismus ist eben nicht die Sehnsucht
nach alten, vermeintlich besseren Zeiten. Er klebt nicht einfach aus Prinzip an
dem, was gerade ist, denn er würde mit jeder Reform widerlegt. Er ist auch kein
System aus Dogmen, denn dann wäre er Ideologie, was er am allerwenigsten ist.
Konservatismus, so zeigt sich, ist vielmehr ein Denkstil, der auf unserem
christlichen Menschenbild aufbaut. Einem Menschenbild, das das Entwurfsvermögen
jedes Einzelnen in den Vordergrund stellt und das dem Staat die ihm gebührende
Rolle zuweist.
Für uns ist dieses,
durch die Menschenwürde und die Grundrechte unseres Grundgesetzes geschützte
Menschenbild das Christliche, in dem der Mensch als Ebenbild Gottes gedacht
wird, dem deshalb unveräußerliche Menschenwürde zukommt. Zu diesem Menschenbild
gehört die Freiheit. Ein Mensch, der wie eine Marionette an den Fäden Gottes
hängt, widerspricht christlichem Denken. Der Mensch lebt unter dem Zuspruch des
Evangeliums, aber auch unter einem Anspruch, dem er nur als freie Persönlichkeit gerecht
werden kann. Er hat den Auftrag, die Welt zu gestalten. Gestalten heißt,
Verantwortung zu tragen. Freiheit verwirklicht sich in der selbst gewählten
Bindung und Verantwortung. Nach christlichem Verständnis ist der Mensch zugleich
auf den Nächsten hin orientiert, mit dem er in gleicher Würde verbunden ist.
Deshalb gehören Solidarität und Gerechtigkeit zum christlichen Menschenbild.
Zum Menschsein
gehören Grenzen, nicht zuletzt ganz grundsätzliche Grenzen der Erkenntnis, bei
allem Forschertrieb, der uns eigen ist. Zu diesen Grenzen gehören aber auch
jene, die uns durch unsere Abhängigkeit von Kultur und Geschichte gesetzt sind.
Auch wenn wir versuchen, sie zu überwinden und wenn es ohne diese Versuche
keinen Fortschritt gäbe, wissen wir doch: Wir stehen auf den Schultern unserer
Vorfahren und werden in einen kulturellen Kontext hineingeboren, der schon da
ist. Er ist nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes. Wir können uns nicht an
jedem Ort und zu jeder Zeit neu erfinden, und größere oder kleinere Gemeinwesen
können das schon gar nicht.
Daraus folgt
dreierlei: Zunächst das Denken in längeren Linien und Generationen. Die Neigung
zur historischen Orientierung vor dem nächsten Schritt in die Zukunft und das
Bemühen, immer im Blick zu haben, wie sich Entscheidungen, die wir heute
fällen, auf Kinder und Enkel auswirken. Nachhaltigkeit ist ein zutiefst
konservatives Prinzip. Dazu gehört zweitens eine skeptische Grundhaltung. Der
Optimismus, alles wird besser, wenn es nur anders wird, ist nicht konservativ.
Konservative wollen Bewährtes bewahren und fahren politisch auf Sicht. Daraus
ergibt sich schließlich ein Standpunkt zur Frage der Beweislast. Sie liegt zunächst
bei dem, der Neues einführen will.
Durch die Beiträge
zu diesem Band zieht sich die Wertschätzung für die personale Verantwortung,
die sich in den kleinen Lebenskreisen unmittelbar erleben, lernen und praktizieren
lässt. Im sozialen Nahraum und dem näheren Umfeld lässt sich Verantwortung
nicht wegdelegieren. Dort ist der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung
kein abstraktes Prinzip, sondern konkret. Er verflüchtigt sich, wenn der
Bezugspunkt der Verantwortung in abstrakte Höhen entschwindet. Die kleinen und
größeren Gemeinschaften in der Gesellschaft, angefangen von der Familie, sind
Orte der Eigenständigkeit und des Eigensinns, die den Einzelnen auch vor
Vereinnahmung schützen, ihm Halt und Orientierung geben.
Dem Schutz dieser
Gemeinschaften dient das Subsidiaritätsprinzip, nach dem nicht nur die
Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ins Verhältnis zueinander
gesetzt, sondern eben auch die Zuständigkeiten geordnet werden: Vorfahrt für
die jeweils kleinere und basisnähere Einheit, der die nächst höhere Ebene
hilfreicher Beistand, aber nicht Vormund zu sein hat. In diesem Punkt zeigt
sich die größte Differenz zu den unterschiedlichen linken politischen
Richtungen, die in Eigensinn und Eigenständigkeit der kleinen Lebenskreise als
Sand im Getriebe ihrer Gesellschaftsentwürfe betrachten. Erst recht sind
Konservative daher resistent gegen ideologische Großfeldversuche, die
versprechen, die beste aller Gesellschaften zu errichten und glauben, deshalb
buchstäblich über Leichen gehen zu dürfen.
Konsequenzen hat die
Kulturabhängigkeit des Menschen über den engeren Lebenskreis hinaus. Tradierte
Werte, Sprache, Religion, intellektuelle Traditionen und institutionelle Arrangements
geben den Menschen Orientierung und Halt. Je mehr selbstverständlich ist und
nicht immer wieder neu verhandelt werden muss, desto reibungsloser und
leistungsfähiger ist ein Gemeinwesen. Konservative werden immer versuchen,
diese lebenspraktischen Orientierungspunkte und Halteseile in allem Wandel zu
erhalten oder neu zu verknüpfen. Das schließt die Wertschätzung der Heimat und
der Beheimatung, des demokratischen Verfassungsstaates und der Nation als
Herkunfts-, Willens- und Zukunftsgemeinschaft ein. Sie ist zuletzt im gewandelten
revolutionären Ruf „Wir sind ein Volk“ und im Echo einer inzwischen zwanzig
Jahre währenden innerdeutschen Solidarität eindrucksvoll bestätigt worden.
Diese Nation muss offen und anschlussfähig sein, ihre emotionalen Potentiale
gilt es zur Integration des immer heterogener werdenden Landes zu nutzen.
Garant der Freiheit
ist in Deutschland der demokratische Staat des Grundgesetzes, der die Ordnungen
garantiert, in denen Wirtschaft und Gesellschaft sich entfalten können und
sollen. Er hat sich in mehr als 60 Jahren bewährt. Seine Leistungsfähigkeit und
die politische Kultur zu erhalten, auf der er fußt, ist eine der zentralen Aufgaben,
die Bürger und Politik nur gemeinsam erfüllen können und müssen. Er muss vor
Überforderung geschützt werden, um leistungsfähig bleiben zu können. Gerade für
den Staat gilt das Gebot der Begrenzung. Und er muss seine Gestaltungskraft in
der europäischen Integration wahren, die Teil der deutschen Staatsraison ist.
Dass dies alles
keine folgenlosen Erwägungen sind, zeigt ein Beitrag der vier
CDU-Landtagsfraktionsvorsitzenden von Brandenburg, Hessen, Sachsen und
Thüringen, der im Januar 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
veröffentlicht wurde.[1]
Dort heißt es: „Wir müssen unsere Wähler auf der Grundlage einer erkennbaren
christlichen Orientierung mit Botschaften zur Leitkultur, zur Bedeutung von
Bindung und Freiheit, zur Familie, zum Lebensschutz und zum Patriotismus
ansprechen.“ Auf dieser Grundlage lassen sich klare politische Botschaften
definieren, die - wie eingangs festgestellt – genau jene Wählerschichten zu
vermissen scheinen, die es bei vergangenen Wahlgängen vorzogen, ihr Recht zur
Stimmabgabe nicht wahrzunehmen. Es geht demnach darum nachhaltige Politik zu
gestalten: Wir brauchen einen Staat, der eben nicht Vergangenes einfach nur
verwaltet, sondern in der Gestaltung des Heute auch das Morgen mit bedenkt.
Das Motto des FAS-Beitrags
bringt auch das Anliegen dieses Bandes auf den Punkt: „Mehr Profil wagen“,
heißt eben auch, den konservativen Blickwinkel auf den politischen Alltag nicht
zu verleugnen. Der Band will Konservative dazu ermutigen, ihren Standpunkt
offensiv in die Waagschale zu legen. Gleichzeitig will dieser Band aber auch
Vertreter der christlich-sozialen und der liberalen Strömung einladen, einmal
die Perspektive zu wechseln, Sachverhalte und Grundsätze in einem anderen Licht
zu betrachten. Viele werden dabei feststellen, dass sich der eine Blickwinkel
niemals eindeutig von dem anderen trennen lässt. Das gesamte Spektrum der
Unionspolitik erinnert an den Blick in ein Kaleidoskop: Das Christlich-Soziale,
das Liberale und das Konservative sind die Facetten, die zusammenwirken und je
nach Blickwinkel in anderem Licht erscheinen, – aber erst gemeinsam ergeben sie
das ganze Bild.
[1] Christean Wagner (Hessen),
Saskia Ludwig (Brandenburg), Steffen Flath (Sachsen), Mike Mohring (Thüringen),
Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung, „Mehr Profil wagen!“, vom 10.1.2010.
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