Erschienen in Ausgabe: No. 25 (2/2006) | Letzte Änderung: 19.12.15 |
Eine Antwort aus dem deutschen Osten
von Stefan Groß
Die Kirchen in Deutschland leeren sich, die
evangelischen mehr noch als die katholischen. Immer mehr Gotteshäuser werden
„umgewidmet“, werden Kulturstätten und Ausstellungsräume. Der Kirchgang wird
zum kulturellen Event, entleert jeder Form des religiösen Bekenntnisses.
Gebaut werden nur noch Moscheen. Der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden
war die große Ausnahme, und er war kein christlich-religiöses, sondern ein
kunsthistorisches, bzw. kulturpolitisches Ereignis. Die christlichen Kirchen im
Osten fristen nur noch eine gesellschaftliche Randexistenz, vergleichbar mit
der SPD im sächsischen Landtag. Nirgendwo in Europa ist die Zahl der
Kirchenzugehörigkeit so dramatisch gesunken wie in der DDR und im Osten nach
der Wiedervereinigung. Während in Amerika über 80 Prozent an einen persönlichen
Gott glauben, sind es in Ostdeutschland nur 14 Prozent.
Das Gespenst der Säkularisierung geht um. Nichts hält sich hartnäckiger als das
bewußte Eingeständnis zum A-Religiösen. Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall, fünfzehn
Jahre in einer – auch in religiösen Dingen – freien Demokratie bleibt zumindest
dieses Phänomen konstant – der bewußte Verzicht zum religiösen Bekenntnis.
Vierzig Jahre Totalitarismus, vierzig Jahre Zwangsideologie, all dies ist
verloren, dem Zeitstrom zum Vergessen gereicht. Doch: Die Ideologie hat gewirkt
– der deutsche Osten bleibt in Sachen Religion protestantisch, er protestiert
in aller Nachhaltigkeit. Fast, so könnte man glauben, kämpft er gegen jede neue
Zwangsvereinnahmung. Die neue Freiheit, selbst wenn diese durch
Arbeitslosigkeit und Depression zerrüttet ist, gilt es zu retten. Im
frenetischen Freiheitstaumel wird das Religiöse, zumindest in seiner
christlich-kirchlichen Ausprägung, ignoriert. Die Angst ist die Angst vor dem
Zwangskorsett, vor einer domestizierten Vereinnahmung, wie sie der pragmatische
Sozialismus praktizierte. Man fürchtet Übereinstimmungen mit dem alten System.
Alles, so der neue Imperativ der Freiheit, was sich einer wie auch immer
geprägten Autonomie andersartig verpflichtend gegenüberstellt, schadet dem
Subjekt.
Die Politikverdrossenheit, die Depression – all dies reicht zu einem
Strukturwandel der Öffentlichkeit in Sachen religiöse Einkehr nicht aus. Statt
dessen versteift man sich auf einen Pseudo-Kommunismus, der sich nachhaltig in
der Links-Wählerschaft hält, und glaubt mit ihm die geistige Situation der Zeit
umzuprogrammieren. Das klassische Religiöse hat dabei keine Chance, es ein
Stück weit zurück zu erobern, das kann und soll – dies haben Feuerbach aus
philosophischer Sicht und Marx und Engels aus einer antidokrinär soziologischen
Sichtweise „wissenschaftlich nachgewiesen“ – nicht gelingen.
Insbesondere an ostdeutschen Schulen hält sich der Antireligionseffekt stoisch.
Hier wird jede Resozialisation in Sachen Religion verweigert. Ohne das
eineindeutige Zugeständnis des Lehrers, keine Überzeugungsarbeit zu leisten,
an deren Ende ein Taufbekenntnis steht, „Sie machen uns nicht religiös“, läuft
nichts. Ja, die ausdrückliche Rückversicherung im Religionsunterricht nur
geschichtliche Daten zu liefern, ist geradezu die Voraussetzung, um überhaupt
Wissen zu vermitteln, was in Anbetracht des schlechten Abschneidens bei der
Pisa-Studie auch tatsächlich notwendig ist. Die Vermittlung religiöser Sinn-
und Wertvorstellungen wird zum Kampf mit einer Schülerschaft, die dieses
Wissen radikal absorbiert, der Mathematik- oder Sportlehrer hat es da
einfacher.
Zwar weiß man von Jesu Christus, nur man verlegt seine Existenz auch gern
einmal in das 19. Jahrhundert oder datiert diese in die Zeit des alten Ägyptens
vor. Schon auf die Frage, wer denn dieser Jesus sei – fragende Gesichter und
der Informationskampf, mehr über diesen zu berichten, wird zum Grabenkampf
gegen die Bildzeitung, die eine größere Faszination auslöst, und gegen die man
permanent streitet und natürlich verliert. Es ist für viele junge Ostdeutsche
überhaupt unschicklich, passt überhaupt nicht in ihr Weltbild, sich mit dem
klassischen Kanon abendländischer, und dies heißt auch christlicher Kultur zu
beschäftigen. Spätestens beim Reformationsthema ist man schockiert,
Reformation, Novemberrevolution? Immerhin ist Luther bekannt, der ja
schließlich für die Bauernaufstände verantwortlich gewesen sein soll und in
Mühlhausen enthauptet wurde – so die überzeugte Leer-Meinung.
Doch: Gelingt es dem Lehrenden, von der tradierten, rein funktionalen
Wissensvermittlung abzusehen, und Inhalte ohne religiösen Hintergrund zu
liefern, ohne den damit verbundenen Glaubensbezug zur Bergpredigt
beispielsweise, dann wächst Interesse, dann entscheiden sich zumindest die in
der Kernzeit des Sozialismus Geborenen zu einem kurz geführten Stellungskrieg,
dann kommt soziales Engagement und das Interesse an einer sozialeren
Gesellschaft zum Ausdruck. So sehr die Rede vom Religiösen, insbesondere die
Generation zwischen 30 und 60 erschreckt, so sehr läßt sich mit der Idee des
Humanen zumindest kurzfristig überzeugen.
Ja, der Sozialismus war revolutionär, war revolutionär, was zumindest die
Leugnung des religiösen Wissens betrifft. Absorbiert wurde, zumindest in
DDR-Zeiten aber nicht nur das Religiöse, sondern auch die indoktrinierte Lehre,
über die Geschichte des Sozialismus und Kommunismus ausgiebig informiert zu
sein. Auch hier schreckte jeder Informationsgewinn ab, der durch eine starre
Wissensvermittlung erkauft wurde. Religion und sozialistischer Parteipragmatismus
waren beide verpönt, reizten nicht, waren nicht en vogue.
Was vom sozialistischen Bildungskanon übrig blieb, war ein Lippenbekenntnis,
das bereits 1994, als die viel gehüteten sozialen und familiären und
freundschaftlichen Bünde zusammenbrachen, erlosch. Für das Christliche kam das
unspektakuläre Aus schon viel eher. In polemischer Absicht hatte bereits
Kierkegaard auf das Phänomen der Säkularisierung in Dänemark hingewiesen, als
er schrieb: „Jedermann ist heute Christ, ohne daß irgend jemand wirklich Christ
ist. Daß Gott in Jesus Christus Mensch geworden und in der Welt erschienen ist,
was hat dieser Glaube, der dem Verstand ewig paradox, ja, absurd erscheinen
muß, der uns nur geschenkt werden kann als eine Gnade von oben her, dann aber
einen Sprung darstellt in einen Bereich jenseits aller Vernunft, was hat dieser
Glaube, frage ich, mit jener lauen, äußerlichen Bürgerlichkeit zu tun, in der
unsere Bürger ohne die mindeste innere Bewegung durch Taufe, Konfirmation,
Trauung hindurchgehen?“
Die Religionsferne, so scheint es zumindest, ist genetisch und geschichtlich
codiert, ist einer ganzen Generation im Osten in die Wiege gelegt, antrainiert.
Nicht nur der Kommunismus zeitigt sich für die Absorbierung des Religiösen
verantwortlich, auch ein Blick in die Geschichte belehrt über antireligiöse
Affekte. Der deutsche Osten war lutherisch-protestantisch. Diese von Anfang an
bestehende „Staatstreue“ der evangelischen Kirchen hat zweifellos viel zur
inneren Entleerung des Protestantismus beigetragen, wie sie nun heute in den
neuen Ländern zu beobachten ist. Lange, allzu lange galt eben auch „der
Sozialismus“ als Staatsdoktrin und Glaube der Herrschenden, inklusive der
verbissene Atheismus, und das Volk stellte sich wohl oder übel, meist
widerwillig zwar, aber früh resignierend, darauf ein, was offenbar nicht ohne
langfristige seelische Beschädigungen geblieben ist.
Auch die Aufklärung mit ihren Zentren in Berlin und Halle war prägend; der
deutsche Idealismus mit seiner Wiege in Jena, für die philosophische
Infragestellung des Religiösen verantwortlich. Ebenfalls war die deutsche
Klassik in Weimar nicht dem Ideal des Glaubens, sondern einer strengen
Geschichts- und Naturwissenschaft verpflichtet. Die deutsche Klassik um Goethe
und Schiller hatte wesentliche Teile der christlich-protestantischen Botschaft
in einen, wenn nicht glaubenslosen, so doch glaubens-indifferenten, allgemein
„modern-humanistischen“ Geisteskanon überführt, und in den Bildungszirkeln der
Sozialdemokratie waltete eine entschieden atheistische, „streng
wissenschaftliche“ Weltanschauungslehre, wie sie der in Jena lehrende
einflußreiche Darwinist und „Monist“ Ernst Haeckel vertrat. Die Aussichten für
traditionell christlich orientiertes Denken und Alltagsleben standen schlecht,
und der Kampf Bismarcks nach der Reichsgründung 1871 gegen den katholischen
„Ultramontanismus“ als Störfaktor für die in Berlin praktizierte nationale
Politik tat ein Übriges.
Man kann die Feststellung wagen: Seit etwa 1880 war der weitaus größte Teil der
Bevölkerung auf dem Gebiet der späteren DDR, also die (im Vergleich zu anderen
Ländern) gut gebildeten Arbeiter- und Kleinunternehmermassen in Berlin,
Leipzig, Halle, Magdeburg, Merseburg, Bitterfeld, im Erzgebirge und im
Thüringer Wald, bereits weitgehend entchristlicht. Das religiöse Gefüge wurde
immer wieder gesprengt, das Licht der Aufklärung überwucherte den Glauben.
Im Grunde bedurfte es gar nicht der Dazwischenkunft diktatorischer, streng atheistisch
ausgerichteter Regimes wie Nationalsozialismus und Kommunismus, um die heutigen
Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gründlich von der christlichen
Kirche und ihrer Botschaft wegzurücken. Ihre Kirchenferne ist zur Zeit
vielleicht noch etwas prononcierter als etwa in Bayern oder im Rheinland, sie
ist aber habituell dieselbe wie dort und wie in anderen Ländern Westeuropas.
Doch, was ließe sich fragen, ist das Prinzip der Verweigerung noch heute? Die
Gründe für das ausgeprägte Religionsdefizit sind vielfältig. Das sogenannte
kollektive Sozialgefüge, das die Idee der christlichen Nächstenliebe säkularisiert
hat, der blinde Glaube an die Rettung durch den Kommunismus, an ein
Wertesystem, das sich zumindest vordergründig einer sozialen Utopie verschrieb,
sind zerbrochen. Der Ostdeutsche bleibt, was soziale oder religiöse Versprechen
und Heilserwartungen betrifft, indifferent. Was bleibt ist Gesinnungsleere und
altbewährte Alltagsflucht. Ohne es zu wissen, stellt man sich apodiktisch auf
den Standpunkt, um es mit Hegel zu formulieren, daß man aus der Geschichte
nichts lernen kann; was bleibt ist der Versuch bescheidener Selbsterfahrung,
der sich jeder Form von Verbindlichkeit verweigert. Die neue Form des
Religiösen kulminiert in der Bindungsunfähigkeit, im Single-Sein, denn hier
muß man sich auf nichts Verbindliches einlassen, hier ist man Mensch, hier
darf man sein. Anything goes – so auch die vielverbreitete Gesinnung im Osten.
Man flüchtet sich also lieber in Dance Floors, Events und in den, so es möglich
ist, Konsumrausch.
Doch, wie Hölderlin meinte, „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Im
Kleinen keimt Hoffnung. Neben der Fitness-Religion, die als pseudokultureller
Ersatz über die Tage der Einsamkeit hinweghilft, neben dem zunehmenden Interesse
an einer mystischen Sektenkultur, die „Erlösung“ verspricht, zeigen sich
gegenläufige Tendenzen. Es fällt auf, daß sich neuerdings gerade in den neuen
Ländern im Raum der evangelischen Kirche spontan „christliche Bruderschaften“
und „christliche Orden“ zusammenfinden und formieren, die ein von Grund auf
erneuertes Christentum anstreben, eine leidenschaftliche, aus tiefer Lebenserfahrung
gespeiste Erneuerung des Glaubens und eine „Reform an Haupt und Gliedern“, wie
sie einst auch Luther ins Auge gefaßt hatte.
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