Erschienen in Ausgabe: No 62 (4/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Du
gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!"
Vielleicht
wäre die „kleine Wahrheit“ aus dem Kult-Buch "Zarathustra" des
Philosophen Friedrich Nietzsche, diese "böse Handlungsanleitung für
gekränkte frauenbesuchende Männer nie geschrieben worden, hätte er nicht das
Mädchen getroffen, dem er jetzt mit so starken Absichten entgegengeht.",
schreibt die auf erstklassige Künstlerbiografien spezialisierte Kerstin Decker.
Das Mädchen ist die 21-jährige Lolja Salomé, die dem "Übermenschen",
dem "Hochgebirgsdenker" begegnet ist und ihn in einen nahezu
magischen Bann zieht. Lou Andreas-Salomé avanciert zu seiner
"Glaubensgenossin", seinem "Geschwistergehirn", einer
"Inkarnation seines Übermenschenideals". Sie scheint Nietzsches
"personifizierte Philosophie" zu sein. Er macht ihr mehrfach einen
Heiratsantrag und sie lehnt ihn immer wieder ab. Sie stürzt ihn in tiefste
Depressionen, bleibt aber dennoch für sein restliches Leben mehr oder weniger
mit ihm verbunden.
Im
"Zarathustra" wird Nietzsche der Welt verkünden, dass "das Weib
zur Erholung des Soldaten" sei. Doch von "Lou Andreas-Salomé werden
sich noch viele zu erholen haben. Diese Frau wird auf Dauer wenig Begabung
zeigen für das Rollenfach ihres Geschlechts. Sie steht, im Sinne Nietzsches,
jenseits von Gut und Böse, diese Vokabeln erreichen sie nicht.", so die
Autorin. Männer waren in ihren Leben stets etwas Höheres, Elementareres als ein
Lehrer oder ein Mann je sein könnte. Sie waren ihr Heimat. Und zuweilen gab sie
diese auch weiter. Der 21-jährige René Maria Rilke, der Name Rainer wurde ihm
von Lou verliehen, fühlte sich ein Leben lang mit der 15 Jahre Älteren seelisch
verbunden. Er war auch der erste, der sich körperlich mit ihr vereinen durfte.
Ihrem angetrauten Ehemann gelang dies zeitlebens nicht.
Was
hatte diese Frau an sich? Ihr überaus starkes Selbstbewusstsein, das sich
bereits in frühester Kindheit entwickelte, kann es nicht allein gewesen sein.
Welche Faszination ging also noch von dieser mit einem unglaublichen Intellekt
gesegneten, russischen Generalstochter aus, die "in fast ärgerlicher Weise
schon immer vorweg weiß, was kommt, und worauf es hinaus soll.", wie es
ihr langjähriger, nicht minder verzweifelter Freund Paul Reé einmal treffend
formulierte. Lou Andreas-Salomé bewohnt nicht wie die meisten Menschen
"ebenerdige geistige Ein- bis Dreizimmerapartments; ihr Denken ist
platzgreifend...". Vielleicht hat Nietzsche gar nicht so unrecht gehabt
mit seinem Theorem von der "vollkommenen, bedingungslosen Hingabe"
des Weibes. In Lous Fall, so Kerstin Decker, "hat er nur die entscheidende
Konkretion vergessen: unbedingte Hingabe ja, aber an sich selbst, an die eigene
Zukunft. (...) Lou von Salomé war der General ihres Lebens."
Kerstin
Decker folgt den biografischen Spuren dieser faszinierenden Persönlichkeit. Sie
baut "Gedankenschiffe" und umsegelt ganz im Sinne ihrer Protagonisten
deren geistige Welt. Eingewobene Romanauszüge der Autorin Lou sowie Gedichte
und Briefe ihrer Verehrer bilden einen wertvollen und ergänzenden Teil einer
durch und durch feinfühligen, wenn auch nicht leicht zu lesenden,
herausfordernden, aber unglaublich bereichernden Biografie auf höchstem Niveau.
Gleichzeitig legt die Autorin ein sehr gut recherchiertes Werk vor und bringt
alles in einen kohärenten Zusammenhang. Gedanken und Gefühlen der Personen, die
nicht auf tatsächliche Zeitzeugnisse zurückzuführen sind, nähert sich Decker
behutsam an, wägt ab, variiert.
Nie
zwingt sie ihre Interpretation auf, sondern erzeugt eine Art literarischen
Schwebezustand, so dass der Leser sich eigenständig positionieren kann.
Entstanden
ist eine Biografie, die sich durch Tiefe und Substanz auszeichnet sowie den
kompromisslosen Lebensentwurf der exzentrischen "Autorin ihres
Daseins" wunderbar nachverfolgen, ihn nahezu selbst erleben lässt. Kerstin
Decker arbeitet den Kern Lou Andreas-Salomés feinfühlig heraus. Sie lässt den
Leser teilhaben an deren ganz ungewöhnlichem Wesen, "von ganz kindlicher
Reinheit und Lauterkeit des Sinns und zugleich wieder von unkindlicher, fast
unweiblicher Richtung des Geistes und Selbständigkeit des Willens und in beiden
ein Diamant (...) Ein Diamant der funkelt, aber er ist undurchdringlich. Kein
Stein ist härter als er."
In
gewissem Sinne war diese ungewöhnliche Frau die legitime Vorfahrin der Kinder
des frühen 21. Jahrhunderts.
Kerstin
Decker
Lou Andreas-Salomé
Der bittersüße Funke Ich
Propyläen
Verlag, Berlin (Oktober 2010)
367
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3549073844
ISBN-13:
978-3549073841
Preis:
22,95 EURO
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