Erschienen in Ausgabe: No 62 (4/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
Geneigte Leser, zumal Günter Altner, haben vorgeschlagen, diesen Handbuchartikel aus dem „Lexikon des Sozialismus“, hg. von Thomas Meyer u.a., Bund-Verlag, Köln 1986, zur Diskussion zu stellen. Das geschieht hier in leicht bearbeiteter Form – und erweitert durch den energiepolitischen Passus aus Helmut Schmidts Bilanz „Ausser Dienst (2008). Fortgesetzt wird so die Konfrontation von politischer Dialogethik, in deren Perspektive der Artikel verfaßt ist, und der, sich als verantwortungsethisch verstehenden, Politik des hochgeachteten Bundeskanzlers a. D. Helmut Schmidt. Ein Denk- und vielleicht Lehrstück zur politischen Ethik ...
von Dietrich Böhler
Moral und Politik bezeichnet die
Themenstellung der politischen Ethik. Sie ergibt sich aus dem bleibenden
Konflikt zwischen der Interessendurchsetzung und Selbstbehauptung eines
Staatsvolkes oder einer Interessengruppe und
der Anerkennung moralischer Grundsätze, die zu Partnerschaftlichkeit und
Konsensbemühung bzw. Kompromißbereitschaft auffordern. Die beiden Elemente
dieses Konflikts sind zwar Pole eines unauflösbaren Spannungsverhältnisses,
stehen sich aber weder in der Geschichte noch in der Gegenwart
(Zivilisationskrise als Menschheitskrise) wie völlig unvereinbare Extreme
gegenüber. Denn die Interessendurchsetzung hängt zumindest langfristig von
Kompromissen zwischen den einander entgegenstehenden Interessengruppen bzw.
Nationen ab. Kompromisse aber setzen, wie alle Übereinkünfte und Verhandlungen,
ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen voraus, das auf der gemeinsamen
Anerkennung moralischer Grundsätze beruht.[1] Als
Grundeinsicht politischer Ethik kann daher gelten, daß Interessendurchsetzung
und (einsehbar verbindliche) Moral ein Spannungsverhältnis mit
Vermittlungstendenz darstellen.
Als in der frühen Neuzeit, vor allem von Niccolo Machiavelli, und im
Absolutismus, etwa von Jean Bodin, die moralfreie Selbstbehauptung des Staates
durch Machtpolitik zum Inbegriff der politischen Rationalität, nämlich der
Raison des Staates und seiner Souveränität, wurde, traten zugleich der
christliche Humanismus und das Naturrecht der Aufklärung auf den Plan. Durch Entwicklung
eines Völkerrechts (Hugo Grotius) und durch den Versuch, den bürgerlichen
Friedenszustand auf einen Staatsvertrag bzw. Sozialvertrag aus wohlverstandenem
Eigeninteresse zu gründen (Thomas Hobbes), sollten einerseits rücksichtslose
Staatsraison, andererseits egoistische Selbstbehauptung moralisch eingegrenzt
werden. Unabhängig davon, nämlich zunächst vor dem Hintergrund von Luthers
Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben und vom christlichen Handeln in „zwei
Reichen“, ist der Ansatz zu einer Ethik des Kompromisses und der
Schuldübernahme entwickelt worden. Aufgrund seiner Verantwortung für die reale
Welt (z.B. als Politiker) soll der Christ zum Kompromiß zwischen dem absoluten
Liebesgebot Jesu (Nächstenliebe, Bergpredigt) und den Möglichkeiten bzw.
Bedürfnissen der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität bereit sein.
„Politik“ in der Komplementarität von Positivismus/Expertokratie und
Dezisionismus/Existentialismus
Wenn im 20. Jahrhundert das
Verhältnis von Moral und Politik bestimmt wurde, dann meist in einem
eigentümlich verkürzten Sinn sowohl
des Moral- wie auch des Politikbegriffs. Denn unter dem Einfluß des deutschen
Liberalismus und vor allem Max Webers hat sich der Zeitgeist daran gewöhnt,
Moral (Ethik) als in doppeltem Sinne subjektive bzw. private Gesinnungs- und
Handlungsorientierung anzusehen, Politik hingegen als in doppeltem Sinne
intersubjektive Ausübung von Herrschaft über und von Verantwortung für ein
Gemeinwesen. Als intersubjektiv gilt die Politik, (1) insofern ihre mit
Gewaltsamkeit verbundene Herrschaftsausübung rechtsstaatlich legal ist und vom
jeweiligen Staatsvolk als legitim angesehen wird, und (2) insofern ihre
Verantwortungsausübung verfahrensgemäß sowie zweckrational ist und auf einer
theoretischen Situationsanalyse als auch auf „wertfreiem Expertenwissen“ beruht.
Der letzte Punkt ist für das
Politikverständnis in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation
charakteristisch: Es unterstellt, daß sich die Intersubjektivität der Politik
insbesondere durch die vermeintliche Objektivität von Situationsanalyse und
Expertenwissen ergibt, also aufgrund der monologischen Einstellung des
Analytikers und objektivierenden Theoretikers. Diese Einstellung macht die
Gesellschaft bzw. einen gesellschaftlichen Problem- und Planungsbereich zum
Objekt und geht davon aus, daß hinreichendes Wissen über dieses Objekt und
zulängliche Planung dieses Objekts möglich ist, ohne daß Analyse und Planung
grundsätzlich auf Kommunikation und Verständigung mit diesem „Objekt“
angewiesen wären. Das ist das expertokratische oder technokratische
Selbstverständnis der Politik (Expertokratie). In der westlichen Zivilisation
ist es durch den Positivismus zur Herrschaft gekommen, wurde in den letzten
Jahrzehnten aber scharfer Kritik unterzogen.
Die angedeutete Verkürzung des
Politikverständnisses betrifft den Sinn der Politik als öffentlicher Sache (res
publica) im demokratischen Rechtsstaat, und zwar sowohl hinsichtlich der
Situationseinschätzung wie auch der Entscheidungsfindung, die beide nicht bloß Angelegenheit
von Experten und Politikern sein können und sein dürfen. Vielmehr müssen beide,
wenn sie rational und demokratisch-republikanisch sein sollen, Sache des
öffentlichen Dialogs sein.Das
vorherrschende Verständnis des politischen Entscheidungsprozesses im Sinne
einer einsamen verantwortungsethischen Entscheidung (Max Weber) oder im Sinne der
verwandten Situationsethik Jean-Paul Sartres läßt ein solipsistisch bzw. individualistisch
verkürztes Moralverständnis in die Politik einfließen. Dadurch wird in der
Politik das wirksam, was Karl-Otto Apel als Arbeitsteilung und als Verhältnis
wechselseitiger Ergänzung sowie Ausschließung oder „Komplementarität“ von
Positivismus einerseits und Existentialismus bzw. Dezisionismus andererseits
beschrieben hat:
„Der Existentialismus ist die Philosophie der privaten, rein subjektiv
verbindlichen und insofern irrationalen Wertentscheidungen. Der Positivismus (Szientismus) ist die Philosophie
der wertfreien Rationalität, die im öffentlichen Lebensbereich durch
Sachverständige (‚Experten‘) zur Geltung gebracht wird. Die ebenfalls
wertneutrale ‚Verfahrens‛-Rationalität der öffentlichen Praxis ergibt sich dann
daraus, daß die wissenschaftliche und technologische Ermittlung von
Wenn/dann-Regeln, die Ursachen und Wirkungen bzw. Mittel und Zwecke verknüpfen,
im politisch-wirtschaftlichen und politisch-juristischen Denken als Kalkulation
der Folgen und Nebenfolgen von Handlungen zur Geltung gebracht wird. Die
Philosophie dieser im wertneutralen Sinne ‚praktischen‘ Ergänzung der
wissenschaftlichen Experten-Rationalität durch das Bedenken von Folgen und
Nebenfolgen ist der amerikanische Pragmatismus.“
Bei Weber und in dem, von diesem
beeinflußten, „Kritischen Rationalismus“ Karl R. Poppers werden diese Elemente
so zusammengebracht, daß man hier gewissermaßen vom offiziellen
Selbstverständnis der liberal verfaßten, wissenschaftlich-technischen
Zivilisation sprechen kann. Der Kern dieses Selbstverständnisses ist die
Komplementarität von wissenschaftlich-theoretischer Rationalität plus
politischer Verfahrens- und Zweck-Rationalität einerseits und privater,
irrationaler Zwecksetzung und Wertentscheidung andererseits.
Den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Komplementaritätsauffassung
von Moral und Politik und ihrer (Weberschen) Zuspitzung zur Komplementarität
zwischen individueller Gesinnungsethik und politischer
Erfolgsverantwortungsethik bilden vor allem Machiavellis Politikbegriff und
Luthers Rechtfertigungslehre bzw. Zwei-Reiche-Lehre. Am Vorabend und in den
ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind Machiavelli und Luther,
dieser freilich arg mißverstanden, vom deutschen Liberalismus aktualisiert
worden – zumal von den Lutheranern Max Weber und Friedrich Naumann.
Im Blick auf das Italien der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, das in rivalisierende Fürstentümer und
Stadtstaaten zerfallen war, zu denen auch der rücksichtslos machtpolitische
Vatikanstaat gehörte, und darauf, daß glaubwürdiges Christentum nur noch in
individueller bzw. weltabgewandter Lebenspraxis zu finden war, kam Machiavelli
zu dem Schluß, daß Politik und (christliche Liebes-) Ethik zweierlei sind.
Zwischen der strategisch geschickten Selbstbehauptung und Machtbehauptung eines
Gemeinwesens bzw. Machthabers und der Nächstenliebe im Umgang mit dem einzelnen
Nächsten bestehe ein grundsätzlicher Konflikt. Daher beschreibt und entwirft
Machiavelli Politik als wertneutrale Kunst, als Technik des strategischen
Handelns der Menschenführung und Staatslenkung, der diplomatischen und
militärischen Machtbehauptung; Politik könne sich nicht nach moralischen Normen
richten, weil sie es meistens mit politischen Gegnern bzw. egoistischen
Menschen zu tun habe und vor allem auf „Notwendigkeiten“, Notlagen und
Sachzwänge, reagieren müsse. Unter solchen Bedingungen müsse ein Herrscher
alles daransetzen, Erfolg für sein
und in seinem Gemeinwesen zu erzielen.
Im Blick auf solche strategisch
machtpolitischen Handlungsbedingungen wird seit Machiavelli als „Staatsraison“,
als Rationalität der Staatsführung, das moralfreie erfolgsbezogene
Zweck-Mittel-Kalkül angesehen: die „Zweckrationalität“. Davon ausgehend hat Max
Weber die Idee einer politischen Verantwortungsethik entwickelt, der er die
Liebesethik Jesu und die Wahrhaftigkeitsmoral Kants als personale
Gesinnungsethik gegenübergestellte. Denn eine solche müsse in der politischen
Realität scheitern; gelebt werden könne sie eigentlich nur von Heiligen, die
nicht für die Durchsetzung von Interessen anderer und für die Bewahrung eines
Gemeinwesens verantwortlich sind.
Für das Politikverständnis und
die politische Praxis in der
Bundesrepublik, und zwar sowohl in der SPD
wie auch in der FDP und CDU/CSU, aber ebenso der anderen
westlichen Industriegesellschaften sollte es von entscheidender Bedeutung
werden, daßnach dem Vorbild Webers und
Naumanns die Moral zur Gesinnungs- und Privatsache subjektiviert und die
Politik, unter dem Titel der Verantwortungsethik, zum eigengesetzlichen Bereich
der Zweckrationalität und Sachzwänge erklärt wurde. Scheinbar legitimiert durch
die „lutherische Scheidung“ von Politik und Heilsverkündigung, von „äußerer
Macht oder Logik, die in den Dingen selber liegt“ und „unserem persönlichsten
Ich“ (F. Naumann), konnte sich ein selbstgenügsames Politikverständnis
durchsetzen. Die offizielle Politik verstand sich weithin als
verantwortungsethisch und entzog sich moralisch-politischer Kritik, indem sie
diese als „gesinnungsethisch“ abqualifizierte.
Eine solche Abqualifizierung
bedeutet freilich den Ausschluß der Kritiker aus der seriösen politischen
Diskussion und ihre Verbannung in ein Ghetto der Schwärmer und Idealisten, die
leicht als trojanische Pferde oder gar geistige Wegbereiter des Kommunismus oder
Terrorismus verdächtigt werde oder aber der Angstpropheten, deren Warnungen zur
Massenpsychose bzw. zur Hysterie verleiten. Nach diesem Muster verfuhr Konrad
Adenauer mit den Atomphysikern der Göttinger Achtzehn, die als Kritiker einer
Atombewaffnung auftraten; nach diesem Muster verfuhren die Parteispitzen von CDU und SPD mit der Ostermarschbewegung der frühen 60er Jahre; analog
verfuhr die CDU – gegen scharfen
Widerspruch Gustav Heinemanns und Willy Brandts – mit der Studentenbewegung;
dementsprechend verfuhren die CDU und
Kanzler Helmut Schmidt mit der grün-alternativen Bewegung und auch mit der
Friedensbewegung der 80er Jahre.
Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue
Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation
Heute werden von den Kritikern neuartige moralische Forderungen
gegenüber dem Staat erhoben. Sie ergeben sich, wenn elementare
Staatszielbestimmungen (wie Schutz des Lebens, Wahrung des Friedens, Garantie
der persönlichen Freiheit) und Verpflichtungen des Rechtsstaats auf Menschen-
und Bürgerrechte ernst genommen werden, indem man sie einer Situationsanalyse
der globalen technischen Zivilisation und einer Folgenanalyse der Politik
gegenüberstellt; z.B. der Innen-, der Wirtschafts- und Energiepolitik, der
Wissenschafts- und Technologiepolitik und nicht zuletzt der Militärpolitik. Das
Verhältnis von Politik und Moral ist in der technischen Zivilisation dadurch
ein grundsätzlich anderes geworden, daß zahlreiche politische Maßnahmen und
politisch zu verantwortende technisch-industrielle Projekte bzw. Praktiken,
aber auch Konsumgewohnheiten schädliche Nebenfolgen haben, die weit über den
Lebensbereich der einzelnen Nation und weit über den Zeitraum der Gegenwart
hinaus wirken oder sogar eine planetarische Wirkungsdimension erreichen.
Beispielsweise bedeutet die Inbetriebnahme eines einzigen Atomkraftwerks durch
die sogenannte Entsorgungsnotwendigkeit das Risiko radioaktiver Verseuchung ca.
über eine halbe Million Jahre und macht technische Schutzmaßnahmen sowie
politische Sicherheitsvorkehrungen, die die Bürgerfreiheit in Frage stellen,
für etwa 7000 Generationen erforderlich.
Der Ausweitung des menschlichen
Handlungsbereichs, 1973 von Karl-Otto Apel und 1979 von Hans Jonas
grundsätzlich bedacht, entspricht eine Ausweitung und qualitative Veränderung
der Ethik und insbesondere der Verantwortungsethik selbst. Denn während Webers
Verantwortungsethik nur die Solidarität von Interessen einer Gemeinschaft und
in gewisser Weise eines Staatsvolks unterstellte, so daß sie den Politiker
allein für den Erfolg im Sinne dieser Binneninteressen verantwortlich machte,
wird heute eine Solidarität der
Menschheit und eine politische Verantwortung für die Menschheit gefordert. Solidarität hat dabei den im Godesberger Programm entfalteten
Doppelsinn (a) einer Verbundenheit der Menschen als Interessensubjekte in einer
ökologisch-ökonomisch verflochtenen Welt und (b) einer weltweiten gegenseitigen
Verpflichtung, die Interessen der anderen beim eigenen politischen Handeln zu
beachten. Auf dieser universalistischen Ebene einer neuen Verantwortungsethik und nicht etwa auf einer apolitischen
Ebene der Gesinnungsethik sind heute signifikante Argumente und Forderungen der
kritischen Öffentlichkeit angesiedelt.
Die kritische praktische
Philosophie ist zu dem Ergebnis gekommen, daß das Verhältnis von Politik und
Moral kein unmittelbares sein kann, sondern ein mehrstufiges, das über
Diskurse, über öffentliche Sinn- bzw. Bedürfnisermittlung, demokratische
Mehrheitsentscheidung und deren verfassungsrechtliche Normenkontrolle
vermittelt sein soll. Für die Ethik bedeutet dies, daß sie kommunikative Diskursethik wird. Für die Politik folgt daraus: Sie
gilt nur insoweit als moralisch legitim und wirklich rational, als ihre
Entscheidungen nicht allein (in praktischen Diskursen) einer Überprüfung im
Hinblick auf das Moralprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
standhalten, sondern auch auf einer bestmöglichen Situationsanalyse (im theoretischen
Diskurs) einschließlich öffentlicher Verständigung mit den Betroffenen über
ihre Bedürfnisse (kommunikative Sinnermittlung) beruhen. Daraus ergibt sich der
Rahmen einer Vermittlung von Diskursethik und rechtsstaatlich demokratischer
Politik:
(1)Reflexiver Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips* durch Besinnung auf den normativen
Gehalt des argumentativen Dialogs als desjenigen Anerkennungs- und
Verpflichtungsverhältnisses, das logisch unhintergehbar ist, weil jeder, der
etwas behauptet bzw. bestreitet oder bezweifelt, schon die Rolle eines
Argumentationspartners übernommen hat;
(2)Verhältnisbestimmung
der Idealität/Kontrafaktizität des Moralprinzips zur Realität (Faktizitiät) der
natürlichen und gesellschaftlichen Lebens- bzw. Kommunikationsbedingungen (zur
Aufhebung der Alternative „Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik“);
(3)Analyse der
gesellschaftlichen und ökologischen Situation (im politisch zu fördernden
theoretischen Diskurs);
(4)und zwar unter Einschluß einer öffentlichen Verständigung mit gegenwärtigen
Betroffenen über ihre Bedürfnisse und mit Anwälten möglichen betroffenen Lebens
einschließlich nichtmenschlicher Lebewesen bzw. Ökosysteme (als politisch zu
verwirklichende kommunikative Sinnermittlung);
(5)konkrete praktische
Diskurse zur Prüfung der moralischen Verantwortbarkeit der jeweils
vorgeschlagenenpolitischen Maßnahme,
nämlich im Blick auf das Moralprinzip (als öffentlich durchzuführende
politische Beratung unter Beteiligung von Philosophen, Theologen und Anwälten
von Lebensbedürfnissen wie Ökologen);
(6)politische Entscheidung
nach dem Verfahren des Mehrheitsbeschlusses, der jedoch auch in der Sache
revidierbar bleiben und
grundrechtlicher Normenkontrolle unterworfen sein muß.
Aus den Verfahrensschritten (5),
(2) und (1) dieses Orientierungsrahmens würde beispielsweise eine Kritik von
Helmut Schmidts „Maximen politischen
Handelns“ und ihrer Anwendung auf die Energiepolitik folgen. Denn sein
Plädoyer für eine energiepolitische Risikostreuung (Energiemix) durch Einsatz aller Energiearten, einschließlich der
Atomenergie, unterstellt einfach die Verantwortbarkeit und gleiche moralische
Legitimität aller Energieformen; zudem geht sie ganz traditionell von der
kurzfristigen Perspektive des Erfolgsverantwortungsethikers aus, der in seiner
Nation jetzt Erfolg haben will.
‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolitik nach Helmut Schmidt
Weil einer Atomenergiepolitik die langfristige Verantwortungsperspektive
fehlt, die sich aus dem Moralprinzip und der (von diesem mitgebotenen)
Verantwortung für die natürlichen Lebensbedingungen ergibt, ist sie in einem
praktischen Diskurs nicht zu rechtfertigen, kann also nicht als „moralisch,
d.i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten“ (Kant) – ist daher in einem rein
argumentativen Dialog nicht zustimmungsfähig. Helmut Schmidts Bekräftigung des
eigenen Standpunkts als vernünftig und seine Ablehnung anderer Standpunkte als
unvernünftig bzw. „irrational“ und gar „psychotisch“ entbehrt nicht nur eines
Maßstabs für „vernünftig“, sondern erweist sich als hinfällig, wenn sie anhand
des diskursethischen Vernunftmaßstabs und
dessen Anwendung auf praktische Fragen geprüft wird. Denn dieser Maßstab
lautet, daß nur solche Argumente als vernünftig gelten, die die Zustimmung
aller verdienen und daher auch in einer idealen Argumentationsgemeinschaft
konsensfähig wären. Und jene Anwendung besteht in der selbstkritischen Frage
„Würden die gegenwärtigen oder künftig lebenden Betroffenen, wenn ihnen die
beschlossene Handlung H und deren Folgen bekannt würden, mit konsensfähigen
Gründen dagegen argumentieren können?“
An den Verfahrenschritten (3) und
(4) des diskursethischen Orientierungs- und Urteilsrahmens müßte Helmut
Schmidts politische Ethik scheitern, insofern ihrer Situationsanalyse die
methodisch-solipsistische und theoretisch objektivierende Einstellung des
Experten zugrunde liegt, der eine Situation ohne Verständigung mit den zur
Situation gehörenden Menschen richtig zu erkennen glaubt, indem er diese
einfach als Objekte seiner Analyse traktiert. Die Experteneinstellung
verzichtet nicht nur auf Kommunikation, sondern hat eine dialogzerstörerische
Tendenz, weil sie diejenigen, mit denen sie kommunizieren sollte, zum Objekt
ihrer Kausalerklärungen macht und daher vorweg unterstellt, über die Motive und
Interessen der verobjektivierten Menschen besser Bescheid zu wissen als diese
selbst. So nahm Schmidt etwa die Gegner der Kernenergie kaum als gleichberechtigte
Dialogpartner ernst, sondern analysierte sie als Träger von „Urängsten“ bzw.
von Aggressionen gegen den Staat.
*
Ob sich die expertokratische
Einstellung und die Energiepolitik des beliebten Altbundeskanzlers – nach zwanzig Jahren fortgesetzten Diskurses – verändert haben, mögen die Leser seiner Bilanz
„Ausser Dienst“, München 2008, prüfen.
Dort lesen wir auf S. 88 f.:
„Noch in den fünfziger Jahren war den meisten Deutschen die Kernkraft als
wünschenswert erschienen; einige Jahrzehnte später hat Deutschland als eines
von wenigen Ländern aus Angst vor der Kernkraft den >Einstieg in den
Ausstieg< beschlossen und hält bis heute daran fest, obgleich die Kernkraftwerke
inzwischen aus Gründen der Vernunft, nämlich aus ökologischen und ökonomischen
Gründen, in aller Welt gebaut werden. Als in den späten sechziger Jahren in den
USA viele Studenten wegen des Vietnam-Kriegs protestierten, setzten deutsche
Jugendliche die Protestbewegung fort, weil sie eine >Rückkehr des Faschismus<
befürchteten. Als in den siebziger Jahren der >Club of Rome< mit zwei
Berichten ziemlich irrational das >Ende des Wachstums< verkündete, fand
er nirgendwo mehr geängstigte Anhänger als bei uns Deutschen. In den achtziger
Jahren protestierten Hunderttausende Deutsche zweimal gegen den
NATO-Doppelbeschluß. Für die Zukunft ist nicht auszuschließen, daß eine
andauernde hohe Massenarbeitslosigkeit, welcher der Gesetzgeber mit
vernünftigen, jedoch unpopulären Arbeitsmarkt- oder sozialpolitischen Schritten
zu begegnen sucht, abermals einen Nährboden für psychotische Reaktionen bieten
kann, wie bereits 2003 die Ablehnung von Kanzler Schröders durchaus
vernünftiger und notwendiger >Agenda 2010< gezeigt hat.“
Diskursethische
Vermittlung von Moral und Politik
Der diskurs- bzw. dialogethische
Rahmen der Vermittlung von Politik und Moral verwirft das
methodisch-solipsistische und theoretisch objektivierende Selbstverständnis des
Expertenpolitikers und ersetzt es durch ein kommunikatives Verständnis der
öffentlichkeitsbezogenen Situationsanalyse und Politik. Zudem setzt es an die
Stelle des solipsistisch verantwortungsethischen Selbstverständnisses des
Staatsmannes, der seine Entscheidungen letztlich als die eines ‚Einsamen vor
Gott’ versteht und dessen letzte Werte einer Glaubensentscheidung entstammen,
ein dialogisches Verständnis der politischen Verantwortung als eines
kommunikativ-diskursiven Prozesses zur Folgenbeurteilung und Entscheidung
anhand des intersubjektiv gültigen Diskursmaßstabs, der zugleich Moralprinzip
ist. Bezogen auf politische Realität ist dieses Moralprinzip freilich
kontrafaktisch. Daher behält es den Status eines regulativen Prinzips auch
dann, wenn man es als politisch-ethischen Imperativ formuliert: „Bemühe dich um
Argumente und solche Entscheidungen, deren Wirkungen auch in einer idealen Kommunikations- und
Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären; und bemühe dich darum, zur
Realisierung solcher Verhältnisse beizutragen, die den Anerkennungs- und
Dialogstrukturen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft so nahe wie möglich
kommen!“
In der politischen Praxis muß
aber immer mit einer erheblichen Spannung zwischen der kontrafaktischen
Vorwegnahme einer rein argumentativen und unbegrenzten, insofern idealen
Kommunikationsgemeinschaft und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen samt
den möglichen nondialogischen Verhaltensweisen Dritter gerechnet werden. Alles
andere wäre nicht nur „Blauäugigkeit“ sondern Verantwortungslosigkeit. Der
zweite Verfahrensschritt des diskursethischen Schemas besteht deshalb in einer
Ergänzung des Moralprinzips durch eine moralische Strategie, die noch einmal
den Gesichtspunkt der Verantwortung für den Erfolg unter realen Bedingungen
(freilich nicht im eingeschränkten Sinne Webers) zur Geltung bringt. Und zwar
wird das regulative Idealprinzip der
kommunikativen Moral ergänzt durch das regulative Realprinzip einer kommunikativen Moralstrategie: „Trage Sorge
dafür, daß die schon existierenden
Bedingungen der möglichen Realisierung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft
(so die biologische Existenz der realen menschlichen
Kommunikationsgesellschaften und die Existenz der kulturellen
Realisierungsbedingungen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft) bewahrt
werden!“
Die Aufgabe einer Vermittlung der
(nunmehr unverkürzt, nämlich kommunikativ und universal verstandenen) Moral mit
der (nunmehr ebenfalls unverkürzt als „öffentliche Sache“ verstandenen) Politik
läßt sich dann mit Apel als politisch
ethische Strategie angehen. Es ist die Strategie, jeweils das regulative
Idealprinzip mit dem regulativen Realprinzip so zum Kompromiß zu bringen, daß
die Bewahrung von (politisch-moralisch unverzichtbaren) realen
Lebensbedingungen eine realistisch einschränkende Funktion bei der Befolgung
des gewissermaßen idealistischen Moralprinzips übernehmen muß. Das bedeutet,
daß solche politischen Handlungsorientierungen zu revidieren sind, die sich
ihren angestrebten – mehr oder weniger als ideal angesehenen –
Gesellschaftszuständen durch Mittel annähern, die unverzichtbare biologische
oder soziale bzw. kulturelle Lebensgrundlagen gefährden oder zerstören. Wenn in
Situationsanalysen (in öffentlich theoretischen Diskursen) sorgfältig gezeigt
worden ist, daß eine solche Gefährdung oder Zerstörung der Fall ist, müssen
solche Mittel als politisch unmoralisch, weil unverantwortlich, verworfen
werden. Dies dürfte heute etwa zutreffen für politische Handlungsorientierungen
wie: wirtschaftliches Wachstum durch Energieverbrauchssteigerung, welche auf
Kosten der Umwelt und künftiger Generationen geht; wirtschaftliches Wachstum
durch undifferenzierten sinnlosen Einsatz der Mikroelektronik, der die
Erwerbsarbeit vieler vernichtet; Friedenssicherung durch atomare Abschreckung
und Hochrüstung, die zu Lasten der Dritten Welt (Rüstung tötet täglich) sowie
auf Kosten der Volkswirtschaft (Rüstung ist kontraproduktiv) geht und, vor
allem, die Lebensgefahr für die Menschheit permanent steigert.
Wenn Regierungen von solchen
Handlungsorientierungen oder von solchen Mitteln nicht ablassen, stellt sich
die Frage des zivilen Ungehorsams und politischen Streiks als eines möglichen
legitimen oder sogar politisch-moralisch gebotenen Schutzes von
Verfassungsgütern bzw. Lebensbedingungen.
Literatur:
K.-O. Apel, Transformation der
Philosophie, Bd. II, 1973, S. 358 ff., ders. (Hg.), Praktische
Philosophie/Ethik. Reader zum Funk-Kolleg, Bd. 1, 1980;
D. Böhler, Rekonstruktive
Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion:
Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, 1985;
D. Bonhoeffer, Ethik, hg. von E.
Bethge, 51961;
W. Brandt, Über den Tag hinaus.
Eine Zwischenbilanz, 1974;
E. Eppler, Ende oder Wende. Von
der Machbarkeit des Notwendigen, 31979;
ders., Die tödliche Utopie der
Sicherheit, 1983;
Funk-Kolleg Praktische Philosophie/Ethik:
Dialoge. 2 Bde., hg. von K.-O. Apel/D. Böhler u.a., 1984;
Funk-Kolleg Praktische
Philosophie/Ethik: Studientexte. 3 Bde., hg. von K.-O. Apel/D. Böhler u.a.,
1984;
J. Habermas, Technik und
Wissenschaft als „Ideologie“, 1968;
G. Heinemann, Präsidiale Reden,
1975;
O. Höffe, Strategien der
Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse, 1975;
H. Jonas, Das Prinzip
Verantwortung, 1979
I. Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, hg. von K. Vorländer, 31965;
ders., Zum ewigen Frieden. Ein
philosophischer Entwurf, hg. von Th. Valentiner, 1963;
K.-R. Popper, Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., 51977;
H. Schmidt, Maximen politischen
Handelns. Bemerkungen zu Moral, Pflicht und Verantwortung des Politikers, 1981;
W. Schweitzer, Politische Ethik
(Politik und Moral), in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, 31961;
M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, 41973;
ders., Politik als Beruf, in:
Gesammelte politische Schriften, 31971.
*
(Nachtrag 2009)
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, 1988;
Th. Bausch u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der
Marktwirtschaft, EWD-Band 3, 2000;
D. Böhler u. B. Rähme, Konsens, in: Historisches Wörterbuch
der Rhetorik, Bd. 4, hg. von G. Ueding, 1998;
J. Habermas, Die Einbeziehung der Anderen. Studien zur
politischen Theorie, 1996;
H. Jonas, Fatalismus wäre Todsünde, hg. von D. Böhler, 2005;
H. Schmidt, Ausser Dienst. Eine Bilanz, 2008.
[1]
Insofern sind Kompromisse zu messen (und d.h. kritisch zu prüfen) an der
Vernunftidee eines strikt argumentativ begründeten Konsensus.
* >Handle so,
daß die Maxime und die Wirkungen deines Handelns die Zustimmung aller als Argumentationspartner verdienen.<
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