Erschienen in Ausgabe: No 62 (4/2011) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Robert Lembke
Die dramatischen
Ereignisse in Japan, minütlich nahegebracht durch die modernen Medien, scheinen
erste Auswirkungen auf hiesige Debatten zu haben: Jene Stimmen werden wieder
laut und lauter, die einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie fordern. Der
Schwall der Erregung ist offenbar so stark, dass sogar aus Regierungskreisen
bereits eine Aussetzung der Laufzeitverlängerung für die deutschen
Atomkraftwerke in Aussicht gestellt wird.
Aktuell befasst sich mit dieser Frage auch das
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Genauer geht es dabei darum, ob der von
der Regierung durchgeboxte Kompromiss der Laufzeitverlängerung auf
verfassungskonforme Weise zustande gekommen ist. Dieselbe Regierung, die sich
aktuell einer Klage ausgesetzt sieht, will nun angesichts der Katastrophe in
Japan und eines möglicherweise heraufziehenden Sturms in der Bevölkerung von
selbst einen Rückzieher machen.
Ob die Verlängerung der Laufzeit der deutschen
Atommeiler rational ist oder nicht, ist eine Frage, die sich angesichts der
politischen Grabenkämpfe und Debatten nur schwer beurteilen lässt. Experten
haben jedoch darauf hingewiesen, dass die fehlenden Kapazitäten aus Atomstrom
kurz- und mittelfristig mit Strom aus Kohlekraftwerken überbrückt werden
müssten. Außerdem ist zu bemerken, dass die halbe Welt (u.a. USA, Frankreich,
Japan und China) weiterhin oder sogar verstärkt auf Kernenergie setzt. Der
sofortige Ausstieg wäre also in jedem Fall ein neuer „deutscher Sonderweg“
inmitten einer globalen Prävalenz der Kernenergie. So gesehen spricht einiges
dafür, dass der Atomausstieg tatsächlich verfrüht wäre – und die Entscheidung
nicht bloß jene lobbyistische Konzession an die Energiekonzerne, als die sie
gebrandmarkt wurde.
Andererseits wäre das idealistische
Voranschreiten der viertgrößen Volkswirtschaft der Welt in Sachen Energie ein
nicht zu unterschätzendes Fanal für die sogenannte „Weltgemeinschaft“. Dies ist
wohl auch der Grund für die allseitige Entrüstung und den Gang nach Karlsruhe –
dass die Regierung im Begriff ist, eine einmalige Chance zu verpassen, um
Zeichen zu setzen für eine lebenswerte, zukunftsfähige Gesellschaft.
Wenn nun also– und danach sieht es zur Stunde aus – die politische Stimmung in Deutschland
kippen wird und der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Atomausstieg kommt, so
mag dass die richtige oder die falsche Entscheidung sein. Was einzig fest
steht, ist ihr irrationales Zustandekommen: Denn erst die diffuse, auf weite
Teile der Bevölkerung und der Politik überspringende Angst vor dem Japan-GAU führt nun vielleicht dazu, eine
Entscheidung zu revidieren, die offenbar bisher nicht ausreichend
gerechtfertigt werden konnte und deshalb der Mehrheit der Bevölkerung
irrational erscheint.
Was dabei übersehen wird – „Angst ist ein
schlechter Ratgeber“, sagt ein Sprichwort –, ist die geringe Parallelität
zwischen dem japanischen Ereignis und unserer Lage. Die Wahrscheinlichkeit
eines solch starken Erdbebens, begleitet von einem Tsunami, tendiert für
Deutschland gegen Null. Die Katastrophe in Japan sollte uns also zwar
menschlich berühren und im Idealfall zu spontaner Hilfe veranlassen, aber ihr
sollte rationalerweise kein Einfluss auf die Entscheidung pro oder contra
Atomkraft verstattet werden. Überdies wird etwa das Problem der Endlagerung von
der Frage nach dem Gefahrenpotential eines laufenden Atommeilers gar nicht
tangiert.
Es ist letztlich ein armseliges Bild von
Politik, das sich hier abzeichnet: Die Sorge um Nachhaltigkeit und der Wunsch
nach einer zukunftsfähigen Gesellschaft werden geflissentlich ignoriert, die
eigene Unsicherheit und Angst jedoch umstandslos auf das Volk projiziert. Im
besten Fall ließe sich die Funktionsweise deutscher Politik in der Energiefrage
noch in Anlehnung an eine Regel aus der Mathematik illustrieren. So wie minus
mal minus plus ergibt, so – bleibt zu hoffen – ergibt irrational plus
irrational vielleicht rational.
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