Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 28.11.11 |
von Benjamin Stehle
In der Nacht zum Freitag
verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973 (2011), die ein
militärisches Eingreifen in Libyen legitimiert. Die Resolution wurde mit zehn
zu null Stimmen bei fünf Enthaltungen (darunter Deutschland sowie die Veto-Mächte
Russland und China) angenommen.
Aus moralischer Perspektive erscheint die Entscheidung, ob man in den
Konflikt in Libyen intervenieren soll, relativ einfach: intuitiv werden die
meisten Menschen das Bedürfnis empfinden, Zivilisten zu helfen, die von schwerer
Artillerie oder aus der Luft angegriffen werden.
Darüber hinaus ist es jedoch
unabdingbar, sich die politische
Dimension eines möglichen Eingreifens zu vergegenwärtigen. Hierbei
unterscheiden sich die Überlegungen je nach geographischer Lage und nach
strategischem Interesse: Europäer befürchten große Flüchtlingsströme aus
Nordafrika; die USA berücksichtigen bei ihrem Handeln mögliche Konsequenzen für
bzw. Wechselwirkungen auf weitere Unruheherde in der arabischen Welt,
zuvorderst in Bahrain, Saudi-Arabien und im Jemen. Beide fürchten eine
langfristige, teure und zu Hause unbeliebte Verwicklung in kriegerische
Handlungen. Weiterhin sind für beide Akteure ökonomische Überlegungen von
zentraler Bedeutung: eine anhaltende Eskalation der Gewalt in Libyen könnte auf
den bereits unter Druck stehenden Ölmarkt verheerende Auswirkungen haben, die
wiederum mittelfristig das weltweite Wirtschaftswachstum ersticken würden.
Russland und China stehen, vor
allem hinsichtlich ihrer eigenen internen Probleme, jeglichen Interventionen
skeptisch gegenüber. (So gesehen kann das Stimmverhalten dieser beiden Länder
sogar als Zugeständnis wider die eigene Haltung gedeutet werden.) Kritiker
einer Intervention, vor allem in der arabischen Welt, verweisen auf die
negativen Auswirkungen der (zumeist humanitär begründeten) militärischen
Interventionen der letzten beiden Jahrzehnte (v.a. Somalia, Bosnien, Kosovo und
Irak). Sie befürchten, dass die intervenierenden Mächte eine Ordnung nach ihrem
Gusto hinterlassen werden und damit den Aufständischen ihr Bestreben nach
Selbstbestimmung verwehren.
Vor dem Hintergrund dieser nur
grob skizzierten Überlegungen wird deutlich, wie komplex die Frage, ob die
internationale Gemeinschaft in Libyen intervenieren soll, tatsächlich ist. Ihre
Beantwortung ist abhängig von Hoffnungen, Befürchtungen, ökonomischen sowie
politischen Kalkülen. Im Ergebnis führt die Gesamtheit der partikularen
politischen Interessen häufig zu einer inkohärenten Haltung der internationalen
Gemeinschaft, was wiederum deren Wirkkraft erheblich einschränkt.
Dabei lässt sich ein
Grundproblem der internationalen Beziehungen erkennen, dem sich die
internationale Gemeinschaft bzw. die Vereinten Nationen in regelmäßigen
Abständen gegenübersehen. Auf den Punkt gebracht treffen universelle Werte bzw.
das universelle Bedürfnis, Menschen in Not zu helfen, auf partikulare
politische Interessen. Letztere dominieren hierbei häufig das tatsächliche
Handeln der Staaten, was letztlich zu einem uneinheitlichen Vorgehen der
internationalen Gemeinschaft führt. Dies bedingt, dass das Vorgehen von der
Weltgemeinschaft als wenig legitim empfunden wird und mindert darüber hinaus
die Erfolgsaussichten der Agierenden selbst.
Dieses grundsätzliche
Spannungsfeld anerkennend erarbeitete eine von Kofi Annan eingesetzte
Kommission zu Beginn dieses Jahrhunderts ein Konzept bzw. eine Norm, die nur
vier Jahre später, auf dem UN Weltgipfel 2005, einstimmig angenommen wurde: die
Responsibility to Protect (zu
deutsch: Schutzverantwortung). Eine der Implikationen dieser Norm war ein
Wandel des staatlichenSouveränitätsbegriffs. Staatliche Souveränität bedeutete von nun an
nicht mehr nur ein Recht auf Nichteinmischung sondern zugleich eine damit
einhergehende Schutzverantwortung gegenüber der eigenen Zivilbevölkerung. Kommt
ein Regime oder eine Regierung dieser inhärenten Schutzverantwortung nicht
nach, erlischt automatisch ihr Anspruch auf Nichteinmischung.
Im Konkreten Fall stellt sich
also zuvorderst die Frage: Kommt Gaddafis Regime der Verantwortung, die Zivilbevölkerung
zu schützen, nach? Da diese Frage hinsichtlich der Geschehnisse in Libyen
eindeutig verneint werden kann, lässt sich bei konsequenter Anwendung der neuen
Norm folgende Schlussfolgerung ziehen: da die regierenden Kräfte in Libyen
nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, ihrer Schutzverantwortung gegenüber
der eigenen Bevölkerung nachzukommen, geht ebendiese Verantwortung auf die
internationale Gemeinschaft über. Weiterhin besitzen nach dieser Lesart die
Souveränitätsansprüche des Gaddafi-Regimes keine Legitimität mehr.
Die Betrachtung des Konflikts
aus dieser Sichtweise verändert zunächst einmal die Fragen, die wir uns selbst
stellen. Diese lauten zuweilen häufig: Sollen wir die mutigen Aufständischen
unterstützen und ihnen zum Sieg verhelfen? Sollen wir den Tyrannen Gaddafi
endlich fallenlassen und vertreiben? Müssen wir eingreifen, um große
Flüchtlingsströme nach Europa zu verhindern oder um den Strom des schwarzen
Goldes gen Norden aufrecht zu erhalten? Unter Berücksichtigung der neuen Norm
lautete die alles entscheidende Frage jedoch: Was können/müssen wir tun, um
unserer Schutzverantwortung der libyschen Zivilbevölkerung gegenüber gerecht zu
werden?
Wenngleich das tatsächliche
Handeln zunächst einmal bei beiden Herangehensweisen identisch sein kann, so
unterscheiden sich die jeweiligen Ansätze dennoch fundamental. Was sich
wandelt, ist das den Eingriff herbeiführende Motiv. Es geht nicht darum,
westliche Moralvorstellungen in Nordafrika anzuwenden. Es geht nicht darum,
geopolitische Interessen zu verfolgen und die Region gezielt umzugestalten. Es
geht nicht darum, ein prowestliches oder anti-islamistisches Regime in Libyen
zu installieren. Es geht schlicht um die Anerkennung der völkerrechtlichen
Schutzverantwortung gegenüber der libyschen Zivilbevölkerung. Unter dieser
Prämisse erscheint ein Eingreifen normativ geboten, durch das Völkerrecht
gedeckt und am ehesten erfolgsversprechend, da es den größtmöglichen Konsens
innerhalb der internationalen Gemeinschaft herbeiführen könnte.
Eine Intervention, die mehr
will als die Zivilbevölkerung vor massenhaften und systematischen Angriffen
durch Gaddafis Truppen zu schützen hätte demgegenüber legitimatorische
Schwierigkeiten sowie unabsehbare politische und wirtschaftliche Konsequenzen
für die gesamte Region.
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Warszawski 20.03.2011 09:43
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