Erschienen in Ausgabe: No. 27 (1/2007) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
von Miguel Àngel Quintana Paz
(Universidad
Europea Miguel de Cervantes Valladolid
(Spanien))
„Ethik
der Befreiung“ ist nicht nur der bekannte Name des
philosophischen Vorschlags vom argentinischen Philosophen Enrique
Dussel, sondern auch der Titel seines wichtigsten Werksi.
Der Abschnitt, mit dem ich mich im folgenden auseinandersetzten
möchte, ist einer der letzen Paragraphen dieses Buches; und sein
Zweck ist zu bedenken, in welchem Masse die Verwendung der Gewalt ein
Mittel der ethischen Befreiung (in ihrer Praxis) sein könnte.
Ich denke (und ich werde zeigen), dass dieser Abschnitt sehr
repräsentativ für die wahre Deutung seiner Philosophie
ist.
Enrique
Dussels Philosophie ist eine Philosophie der Befreiung. Und er
betrachtet die Revolution als strategisches und den Krieg als
instrumentelles Moment der Befreiung. Es taucht hier nun die Frage
auf, in welchem Masse die Gewalt in diesen Kontexten legitim sein
kann. Dafür ist eine Definition der Begriffe ‚Legitimität’,
‚Legitimation’ und auch der besagten ‚Gewalt’
vonnöten. Für Dussel bedeutet Gewalt immer illegitim
ausgeübte Herrschaft (und nicht einfach nur irgendeine Form der
Herrschaft, im Gegensatz zu den anarquistischen Utopien).
Was ist
nun eine legitime Herrschaft für Dussel? Wenn wir die vorherigen
Kapitel des Buches betrachten, so ist ein institutionelles System
legitim, wenn es den drei in seiner Ethik präsentierten
Kriterien (formal, materiell und der Durchführbarkeit)
entspricht. Das bedeutet, wenn seine Kriterien symmetrisch und
argumentativ von allen seinen Mitgliedern entschieden werden. wenn es
eine Entwicklung und eine Reproduktion des Lebens ermöglicht und
wenn es die Zwangsmittel organisiert, die es erlauben „jene zu
lenken, die nicht bereit sind die gültig akzeptierten Beschlüsse
zu erfüllen“ (S. 369). Nichtsdestoweniger kann es
geschehen, dass solch ein System hinterfragt wird, wenn es diese
Kriterien nicht erfüllt (d.h. nicht mehr als legitim angesehen
wird), hinterfragt von einer Gemeinschaft, die sich entweder nicht
als Teilnehmer am Dialog sieht, die nicht zufrieden ist mit der
Reproduktion und der Entwicklung des Lebens in besagtem System, oder
die das Funktionieren dieses Systems in der Zukunft als nicht gegeben
erachtet. In diesem Moment hat diese Gemeinschaft eine neue
Legitimität, die ihr ihrerseits erlaubt Zwang auszuüben
auf das alte System, um es zu ändern. Diese Zwangsausübung,
obgleich noch nicht in einem institutionellen System (das nur in der
Zukunft existiert) legitimiert, ist ebenfalls schon legitim, genauso
wie es jene des akzeptierten Systems war.
Die
Legitimität überwindet somit einerseits ihre
positivistischen Konzeptualisierungen (à la Kelsen) nur das zu
sein, was legal ist, andererseits ihren Weberschen Aspekt, der
jeglicher Legitimation (charismatischer, traditioneller, rationaler
oder legaler) vorgibt, mit sich eine Herrschaft zu bringen, die
verpflichtet die Legitimation anzuerkennen (und die uns somit ohne
normatives Kriterium lässt, welches uns erlauben würde zu
beurteilen, welche Legitimation ethisch besser oder schlechter
ist). Habermas seinerseits, der im symmetrischen Dialog solch ein
normatives Kriterium sieht, gebe kein komplementäres
materielles Kriterium an und gebe den Forderungen jener, deren Leben
nicht durch das System garantiert ist, keine eigene Legitimität
(unabhängig von einem dialogischen Akzeptieren).
Die
legitime Revolution ist jene, die die drei bereits erwähnten
Kriterien erfüllt, das System dem diskriminierten Anderen öffnet
und somit ein neues System schafft, wo der Andere nicht mehr
diskriminiert wird (obwohl in der Zukunft es notwendig sein wird,
dieses System neuen Subjekten zu öffnen, die jetzt noch
ausgeschlossen bleiben und die sich dessen erst bewusst werden). Wenn
die Art dies zu erreichen nicht friedlich sein kann (was nur von den
taktischen Möglichkeiten abhängt, die sie anbieten), kann
man den Kampf oder den Krieg beginnen, die nicht als Gewalt sondern
als legitimer Zwang gesehen werden.
Der Autor
merkt weiter an dass in speziellen Fällen, in denen der
Unterdrücker formal die Menschenrechte anerkennt, die
friedlichen Mittel eines Gandhi oder M. L. King gewöhnlich
nicht zum Erfolg führen. Von dieser Machbarkeit aus werden auch
andere in der Geschichte getroffene Massnahmen beurteilt.
Zunächst
möchte ich bemerken, dass, wenn auch der grösste Teil der
Gedanken Dussels mir sehr interessant erscheint, es seine Sicht der
Gewalt ist, die mir in seiner Theorie am problematischsten erscheint.
Deshalb habe ich sie als Thema dieser Auseinandersetzung und der
nachfolgenden Diskussion gewählt.
Meiner
Meinung nach sind in der Theorie Dussels über die Gewalt, oder
„den illegitimen Zwang der zu Waffen greift“ wie er sie
nennt, etliche grobe Widersprüche zu bemerken, sowohl auf einem
theoretisch-philosophischen als auch auf dem heuristischen
Niveau der soziopolitischen Realität der Zeitgeschichte, der er
zu entsprechen vermeint. Dieses zweite Niveau, obwohl nicht weit
ausgeführt, besteht aus im Text verstreuten Beispielen und
den Fussnoten, die dem Verständnis des Werks sehr dienlich sind.
Die Widersprüche auf diesem Niveau sind nicht nur die Konsequenz
der Widersprüche auf dem theoretisch-philosophischen
Niveau, sondern auch Resultat einer meiner Meinung nach
voreingenommenen Analyse der Realität, die, wenn man sie nicht
durch die Brille einer so widersprüchlichen Theorie sieht, sehr
unterschiedlich ausschauen kann. Ich werde somit zunächst
beginnen, die Widersprüche auf dem Niveau der heuristischen
Analyse der politischen Realität aufzuzeigen, die obwohl diese
nicht das Zentrum des Problems darstellen, doch auch die
widersprüchlichen Punkte der Theorie des Autors aufzeigen.
Wir nennen
Gewalt die Anwendung von Waffen in einem Kampf der Tote, Verwundete
und Zerstörung verursacht. Ich glaube, dass dieser Gebrauch des
Wortes (selbst wenn er nicht genau mit Dussels Begriff übereinstimmt,
der eine solche Anwendung jeweils als legitimen bzw. nicht legitimen
Zwang bezeichnet) sich eher dem allgemeinen Sprachgebrauch
annähert und auch einfacher ist, als das Syntagma „legitimer
Zwang“ in welchem man Waffen verwendet.
In den
verschiedenen Anwendungen der Gewalt, die im Buch in Beispielen
erwähnt werden, sind folgende Widersprüche erkennbar:
a) Das
formale Kriterium der intersubjektiven Übereinkunft wird nicht
erfüllt. Die Führer der amerikanischen Befreiungskriege, um
ein Beispiel zu nennen, zählten niemals auf einer der Debatte
und dem Dialog entsprungenen Übereinkunft aller Mitglieder
ihrer Gesellschaft. Weiter wurden nicht alle Möglichkeiten des
Dialogs mit ihren Gegnern ausgeschöpft.
b) Das
materielle Kriterium wird nicht erfüllt. Leben wird im Krieg
nicht geachtet, sondern es geschieht genau das Gegenteil, sogar auf
dem einfachsten, biologischen Niveau. Des weiteren ist es seltsam zu
hören, dass das Leben der nordamerikanischen Kolonisatoren, wenn
auch nicht in einem biologischen sondern in einem globaleren Sinn vor
der Unabhängigkeit in Gefahr war. Hiesse das etwa das Kanada
oder Australien, Länder, die damals nicht unabhängig
wurden, schliesslich ‚starben’ aufgrund einer Gefahr für
ihr ‚kulturelles’ Leben? Ihr heutiger Wohlstand scheint
darauf nicht hinzudeuten.
Mit der
Rechtfertigung der Nichterfüllung des materiellen Kriteriums der
Ethik, das zwiespältig als „dem Leben ein tolerierbares
Niveau geben“ definiert wird, kann jeder Unzufriedener (und die
Unzufriedenheit ist dem Menschen inherent), der einige seiner
Mitstreiter versammelt es als legitim betrachten, Gewalt auszuüben,
wenn er glaubt, faktische Möglichkeiten des Erfolgs zu haben.
(Er würde seiner Meinung nach die drei Kriterien Dussels
erfüllen). Dussel behauptet, dass eine Regierung illegitim wird
- ipse facto - wenn sie nicht ihren Bürgern ein passendes
materielles Niveau zur Verfügung stellt (S. 374). Das würde
bedeuten, dass die katastrophalen ökonomischen Massnahmen
Allendes, die das ökonomische Niveau des Landes in Rekordzeit
senkten, ihn und seine Regierung illegitim vor Pinochet machten, und
dass jeder Regierender in einer ökonomisch schwierigen Situation
berechtigterweise seines Postens enthoben werden kann (selbst wenn er
demokratisch gewählt wurde) durch ‚unzufriedene’
Guerrilleros. Dies erscheint mir inakzeptabel. Dass der ökonomische
Erfolg die politische Legitimität ersetzt, ist kurioserweise das
selbe Argument des Neoliberalismus, der die Politik der Ökonomie
unterordnen möchte: Etwas ist politisch gültig, wenn es und
nur wenn es ökonomisch erfolgreich ist, wenn es Reichtum
produziert.
c) Was das
Kriterium der Durchführbarkeit betrifft, so ist es sicher, dass
es erfolgreiche ‚Revolutionen’ gegeben hat (wie jene im
Buch angeführte: Cuba, Nicaragua...), zweifelhaft aber ist, ob
das Erreichte in diesen ‚erfolgreichen’ Revolutionen
wirklich eine Erweiterung des Kreises der nicht Unterdrückten
bedeutet, oder ob nicht das Gegenteil der Fall ist, das heisst, nicht
ein Erfolg sondern vollständiges Versagen vorliegt. Die
Zuspitzung der sozialen Ungleichheiten und das Absinken des
Lebensniveaus nach solchen ‚erfolgreichen’ Revolutionen
lässt dieselben nicht mehr erfolgreich erscheinen, so dass
ihre reale Durchführbarkeit nicht sichtbar ist. Andererseits,
wenn wir die grosse revolutionäre Dichte in Lateinamerika
betrachten und gleichzeitig den geringen Anteil an
erfolgreichen (die ausserdem wie im Fall von Nicaragua oder Cuba auf
spezielle, fast nicht wiederholbare Umstände zurückzuführen
sind), scheint das Prinzip einer realen Durchführbarkeit des
Gebrauchs der Waffen ausgeschlossen.
Die
aufgezeigten Widersprüche auf dem heuristischen Niveau sind
nicht nur eine Konsequenz der Analyse der Beispiele. Sie sind
Korrelat der schon im blossen theoretischen Niveau präsenten
Widersprüche.
a) Das
formale Prinzip der symmetrischen Übereinkunft wird im
Augenblick der Realisierung eines bewaffneten Kampfes nicht erfüllt.
Zunächst gibt es innerhalb der revolutionären Gruppe kein
solches Übereinkommen, sondern es wird im allgemeinen der
grossen Masse (oder zumindest jenen, die nicht einverstanden sind)
das Prinzip des bewaffneten Kampfes auferlegt von einigen ‚Köpfen’
auferlegt. Weiter ist die Übereinkunft nicht
universell, da sie nicht auf jene, die der Gruppe fern sind, zählen
kann (eine neue geschlossene Totalität), die das System bilden,
gegen das sie sich erhebt und mit welchem sie keinen Dialog mehr
führt, sondern das sie zerstört. Die revolutionäre
Gruppe konstituiert somit eine unterdrückende Totalität in
ihrem Inneren (gegen die ‚Pazifisten’) und eine
Diskriminierung des der Gruppe Fremden (die mutmasslichen
‚Unterdrücker’). Das heisst diese ist zumindest
genauso untolerierbar geschlossen und unethisch wie das hegemoniale
System, welches deshalb seinerseits sich dessen bewusst wird und mit
guten ethischen Gründen die Aufständischen (Terroristen,
Guerilleros) bekämpft. Wir stehen vor der Tatsache dass sich
zwei Gruppen gegenseitig mit „guten ethischen Gründen“
zerstören bzw. umbringen. Ist dies die Arbeit der Vernunft, eine
Erlaubnis zum gegenseitigen ‚legitimen’ Morden?
b) Das
materielle Prinzip des Lebens ist unversöhnbar mit der Gewalt
oder dem bewaffneten Kampf, mit der Zerstörung des Lebens
des ‚Bösen’, des ‚Unterdrückers’
auf allen seinen Niveaus. Dies ist so evident, dass es keiner
weiteren Erklärung bedarf.
c) Die
beiden vorigen Widersprüche zeigen die Unmöglichkeit der
Durchführbarkeit des vorsätzlichen Mordens eines anderen
menschlichen Wesens mit „guten ethischen Gründen“,
formalen oder materiellen. Das Kriterium der Durchführbarkeit
kann somit niemals gültig sein, und wenn es erfüllt wird
(wenn man eine gewaltsame Revolution als durchführbar ansieht)
ist es eine „andere Sache“, die sich erfüllt und
nicht etwas in Übereinstimmung mit der Ethik. Eine andere Sache
wird gemacht- im Namen der „legitimen Revolution“.
Die
Präsenz der aufgezeigten Widersprüche bringt uns zur Frage,
ob es nicht möglich wäre, Kriege zu vermeiden, in denen
beide Parteien glauben, die ethische Vernunft zu besitzen (was
übrigens immer der Fall ist) und in welchen sich
widersprüchlicherweise die Vernunft die gegenseitige Zerstörung
beider Parteien gestattet, die ihrerseites glauben, das materielle
und formale Kriterium und das Kriterum der Durchführbarkeit zu
erfüllen, obwohl keine der beiden diese erfüllt, wie ich
aufgezeigt habe. Im Angesicht der Gewalt ist es Aufgabe der
Vernunft einen anderen Weg der Lösung von Konflikten
anzubieten und nicht die Gewalt als solchen zu rechtfertigen. Das
hermeneutische, ethisch-diskursive oder
nihilistisch-altruistische Denken (cf. Gianni Vattimo) bietet
zumindest die Möglichkeit die Vernunft als Schutz anzusehen,
Schutz gegenüber der Idee, dass Menschen andere Menschen
aufgrund irgendwelcher Motive töten. Im Grunde genommen löscht
der Mensch, der tötet, den ‚Anderen’ aus, denjenigen
dem er nicht zuhört oder den er nicht versucht zu verstehen. Die
Ethik der Befreiung, so rücksichtsvoll in anderen Aspekten
gegenüber der Figur des „Anderen“, sollte hier nicht
von ihrem Weg abweichen.
Der
Pazifismus sollte nicht als blosse mehr oder weniger nützliche
Taktik abgetan werden. Immer neigt das kriegerische Tier Mensch dazu
solche Taktiken als unmöglich anzusehen (Gandhi und M. L. King
mussten hart kämpfen um die Sinnhaftigkeit des unbewaffneten
Kampfes glaubhaft zu machen). Der Wunsch der Rache, das Ressentiment,
der Wunsch der Selbstrechtfertigung nach dem Verbrechen, all dies,
und getarnt als „legitimer Kampf“, „Befreiung mit
Waffen“ usw. sollte, Nietzsche folgend, aus dem ethischen
Diskurs eliminiert werden. Des weiteren ist der friedliche Weg immer
nützlicher als der bewaffnete Kampf. Krieg schafft mehr
Probleme als er löst, er ist niemals (im Gegensatz zu dem was
Dussel zu zeigen scheint) eine ‚effiziente’ Methode. Die
Situation der diskriminierten Völker in der Welt (deren Existenz
unbestreitbar ist) ist oft nicht viel schlechter als jene in Gandhis
Indien oder der der Schwarzen im Amerika M. L. Kings. Wenn ihr Weg
damals möglich war (und nicht nur möglich, sondern der
einzige wirklich ethische und vernünftige war, wie ich gezeigt
habe), wäre es auch heute nicht fehl am Platz, dem Frieden, wie
es in einem Lied heisst, eine Chance zu geben: All
we are saying, is give peace a chance ...
i Enrique Dussel: Ética de la liberación en la edad de la globalización y la exclusión. Madrid: Trotta, 1998. (Es gibt eine Deutsche gekürzte Übersetzung: Prinzip Befreiung: kurzer Aufriss einer kritischen und materialen Ethik, hrsg. von Raúl Fornet-Ponse. Aachen: Wissenschaftlicher-Verlag Mainz, 2000. Die Zitate folgen der Spanischen, nicht gekürzten, Version).
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