Erschienen in Ausgabe: No 62 (4/2011) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
von Jörg Bernhard Bilke
Als
Werner Stiller, Oberleutnant unter Markus Wolf (1923-2006) im Ostberliner
„Ministerium für Staatssicherheit“, am 18. Januar 1979 die Fronten gewechselt
hatte und zum „Klassenfeind“ nach Westberlin übergelaufen war, soll Minister
Erich Mielke (1907-2000) mehrere Wutanfälle erlitten haben. Schließlich war die
Verhaftung des um Haaresbreite Entkommenen schon für den 20. Januar angesetzt
gewesen, wie er Jahrzehnte später in den Akten lesen konnte. Der abtrünnige
Nachrichtenoffizier, nach dessen Angaben rund 70 DDR-Agenten in Westdeutschland
und im Ausland verhaftet oder durch Enttarnung nach ihrer überstürzten Flucht neutralisiert
werden konnten, tat gut daran, mit CIA-Hilfe 1981 in die Vereinigten Staaten
überzusiedeln und dort unter falschem Namen ein Wirtschaftsstudium zu
absolvieren. Von 1983 bis 1990 arbeitete er bei der 1869 gegründeten
Investment-Bank Goldman Sachs in New York und London, nach der
Wiedervereinigung Deutschlands war er Börsenmakler und Bankdirektor in
Frankfurt/Main, seit 1996 lebt er als Immobilien-Makler und Geschäftsmann in
Budapest, da er durch seine erste Frau, eine gebürtige Ungarin, die nach seiner
Flucht in Ostberlin zurückgeblieben war, die Landessprache beherrschte.
Im
Sommer 1982, während er noch in St. Louis/Missouri studierte, begann Werner
Stiller mit der Niederschrift seines ersten Buches „Im Zentrum der Spionage“
(1986) über die knapp sieben Jahre 1972/79, die er als Leiter des Referats
„Physikalische Grundlagenforschung und Nukleartechnik“im Sektor „Wissenschaft und Technik“ der
„Hauptverwaltung Aufklärung“ verbracht hatte, zuständig für die Ausspähung
westdeutscher Kernforschungsinstitute. Angeworben worden war der am 24. August
1947 in Weßmar bei Merseburg geborene Physiker („Arbeiterkind aus
Sachsen-Anhalt“) während seines Leipziger Studiums 1966/71, zunächst als
inoffizieller (1970), dann, seit 1. August 1972, als hauptamtlicher
Mitarbeiter. Dieses erste Buch, an welchem der in Pullach bei München ansässige
„Bundesnachrichtendienst“ mitgeschrieben
hatte, um Spuren zu verwischen, wies zahlreiche Schwächen auf. Einmal sollte,
aus verständlichen Gründen, die Ausschleusungsaktion Werner Stillers und seiner
Freundin Helga Michnowski anders als tatsächlich verlaufen dargestellt werden,
um die „Hauptverwaltung Aufklärung“ des
Markus Wolf mit falschen Informationen zu füttern, dann aber sollte das stille
Wirken des Pullacher Dienstes bei Anwerbung und Führung des Agenten in
günstigstem Licht erscheinen, eine Legende, mit der Werner Stiller im zweiten
Buch gründlich aufräumt.
Kennern
beider Geheimdienste, die auf deutschem Boden vier Jahrzehnte lang
gegeneinander arbeiteten, dürfte das vergleichende Studium der Bücher Werner
Stillers ein hohes Vergnügen bereiten! Schließlich hatte die „Hauptverwaltung
Aufklärung“ damals eine empfindliche Niederlage erlitten, die sie am 19. August
1985 zu kompensieren suchte. Damals trat Hansjoachim Tiedge, geboren 1937 in
Berlin und Mitarbeiter des „Bundesamtes für Verfassungsschutz“ in Köln, wo er
für Abwehr der DDR-Spionage zuständig war, am Grenzübergang
Helmstedt/Marienborn in den SED-Staat über und enttarnte eine Reihe von
Westagenten. Er konnte später an der Ostberliner Humboldt-Universitäteine Dissertation über die Abwehrarbeit des
Verfassungsschutzes schreiben, wurde aber vom KGB aus Sicherheitsgründen am 23.
August 1990 nach Moskau ausgeflogen, wo er noch heute lebt. Der Straftatbestand
des Landesverrats ist seit 2005 verjährt, die Pension, die er von dem Staat
bezieht, den er verraten hat, wird ihm monatlich nach Moskau überwiesen. Sein
Buch „Der Überläufer“ erschien 1998.
Bei
Werner Stiller war alles ganz anders und viel gefährlicher! In den ersten
Kapiteln seines zweiten Buches erzählt er von Kontaktgesprächen schon 1969 mit
Leipziger MfS-Leuten, bis er schließlich im Sommer 1970angeworben wurde. Irgendwann muss dann bei
ihm, dessen Verpflichtung zur Geheimdienstarbeit auch aus Abenteuerlust, wie er
selbst schreibt, erfolgt ist, der Gedanke aufgekeimt sein, über die von ihm
geführten Westagenten mit dem „Bundesnachrichtendienst“ in Kontakt zu kommen.
Zwei misslungene Versuche, den einer angeworbenen Sekretärin im „Deutschen
Atomforum“ in Bonn und den einer Ostberliner Medizinstudentin, die im
Einsatzgebiet als weiblicher „Romeo“ auftreten sollte, schildert er
ausführlich. Glück hatte er schließlich am 11. Januar 1978, als er nach
Oberhof/Thüringen fuhr, um dort seinen „inoffiziellen Mitarbeiter“ Günter
Sänger aus dem Siemens-Kabelwerk in Neustadt bei Coburg zu treffen, der mit
einem Tagesvisum über den kleinen Grenzverkehr einreisen wollte.
Beim
Abendessen im Panorama-Hotel lernte er eine attraktive Kellnerin kennen, zehn
Jahre älter als er, durch die ihm ein Jahr später die Flucht in den Westen
gelang, während sie mit ihrem 17jährigen Sohn Michael über Warschau nach
Helsinki ausgeschleust wurde. Sie weihte er nicht nur darüber ein, dass er
MfS-Offizier im Einsatz wäre, was bei ihr Entsetzen auslöste, sondern auch,
dass er mit ihr fliehen wollte, weshalb der „Bundesnachrichtendienst“, der
Fluchthilfe leisten sollte, informiert werden müsste. Dass gelang ihm schließlich
über Helga Michnowskis in Coburg lebenden Bruder Herbert Kroß, der, unter
Einhaltung aller konspirativen Regeln, den Standortkommandanten des
Bundesgrenzschutzes in Coburg verständigte. Das alles war, bei mehreren
Unsicherheitsfaktoren, ein höchst riskantes Unternehmen, das in einem solchen
Fall mit dem Tod durch Erschießen hätte enden können. In der Tat sind die
sieben Kapitel bis zum Übertritt des „Schakals“ (S. 72-125), so der MfS-Name
des gejagten Doppelagenten, auch die spannendsten des ganzen Buches!
Was man
hier über das Innenleben zweier Geheimdienste erfährt, lässt auch den Laien
noch nachträglich erschauern. Der Grenzübertritt wäre fast daran gescheitert,
dass auf dem selbsterteilten „Dienstauftrag“ vorgesehene Daten fehlten. Nach
Akteneinsicht Jahrzehnte später schrieb Werner Stiller: „Wäre mir am 18. Januar
1979 nicht die Flucht über den Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin
gelungen, hätte man mich spätestens am 20. Januar verhaftet. Damals war mir der
Grad meiner Gefährdung überhaupt nicht bewusst.“ (Vorwort). Auch als er
Westberlin schon erreicht hatte, schwebte er ständig in höchster Gefahr,
entführt oder ermordet zu werden. Als er anderthalb Stunden vor Mitternacht am
Flughafen Berlin-Tegel ankam, war die letzte Maschine ins Bundesgebiet längst
abgeflogen. Die Polizeiwache des Flughafens verständigte dann das „Landesamt
für Verfassungsschutz“, die Amerikaner brachten ihn nach Berlin-Dahlem und
boten ihm Asyl in den Vereinigten Staaten an, schließlich wurde er am nächsten
Morgen nach München ausgeflogen.
Das
Buch Werner Stillers ist aber auch eine Abrechnung mit der schlampigen
Arbeitsweise des „Bundesnachrichtendienstes“, die 1999 schon einmal, in
Gabriele Gasts Buch „Kundschafterin des Friedens“, öffentlich gemacht wurde.
Die Verfasserin hatte unerkannt 17 Jahre lang als MfS-Agentin in Pullach
arbeiten können, weil ihre DDR-Reisen seit 1968, als sie Doktorandin bei Klaus
Mehnert in Aachen war, bei der Einstellung 1973 nie durchleuchtet worden waren.
Im Fall „Werner Stiller“ wäre die Ausschleusung Helga Michnowskis, die seit 15.
Januar 1979 vier Tage in einem Warschauer Stundenhotel ohne Ausweiszwang warten
musste, während polnische Geheimpolizisten schon die anderen Hotels
durchsuchten, fast misslungen! Dass sie an ihrem Arbeitsplatz in Oberhof nicht verhaftet
werden konnte, von wo sie ohnehin schon nach Polen abgereist war, daran war der
jähe Wintereinbruch in Thüringen schuld, denn die aus Berlin angereisten
Verhaftungsgenossen hatten, der übliche Materialmangel, keine Winterreifen
bekommen und mussten zwei Tage warten.
Wer zum
„Klassenfeind“ überlief, war ein „Verräter“ und wurde, sollte er ergriffen
werden, kaltblütig ermordet. Exekutionen aus politischen Gründen waren unter
Justizministerin Hilde Benjamin (1902-1989) an der Tagesordnung. Aber auch noch
nach Werner Stillers Flucht sind zwei Fälle bekannt geworden: Winfried Baumann
(1930-1980), Admiral der „Volksmarine“ und BND-Spion, erschossen am 18. Juli
1980, und MfS-Hauptmann Werner Teske (1942-1981), wegen „versuchten
Landesverrats“ erschossen am 26. Juni 1981.
Armin
Raufeisen dagegen war ein schon seit 1957 in Hannover aktiver MfS-Agent, der am
22. Januar 1979 mit Frau und zwei Söhnen überstürzt nach Ostberlin abgezogen
wurde. Der ältere Sohn Michael , schon volljährig, lehnte die
DDR-Staatsbürgerschaft ab und durfte im Dezember 1979 nach Hannover ausreisen.
Nun hatte der Vater einen Verwandten ersten Grades im Westen und wurde
folgerichtig als hauptamtlicher Mitarbeiter der „Staatssicherheit“ entlassen.
Nach mehreren Aktionen, „illegal“ auszureisen, wurde die Familie am 11.
September 1981 verhaftet und verurteilt: der Vater zu lebenslangem Zuchthaus,
er starb am 12. Oktober 1987 unter ungeklärten Umständen nach einer Gallenoperation im Haftkrankenhaus
Leipzig-Meusdorf, die Mutter saß ihre sieben Jahre bis 1988 ab, Sohn Thomas
seine drei Jahre. Alle saßen sie im Zuchthaus Bautzen II, Thomas Raufeisen hat
2009 in dem Buch „Das Ende einer Zwingburg der Stasi“ ausführlich darüber
berichtet. Auch von Edina Stiller, Werner Stillers Tochter, über ihre Sicht auf
den Vater gibt es das Buch „Verratene Kinder“ (2003).
Werner
Stiller „Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten“, Christoph-Links-Verlag,
Berlin 2010, 256 Seiten, Euro 19.90
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.