Erschienen in Ausgabe: No 63 (5/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Philipp Legrand
Der bekannten Frage von Renan „qu’est ce qu’une nation?“,
die er bei seinem Vortrag an der Sorbonne am 11. März 1882 aufwarf, wird in
diesem Artikel nachgegangen. Bei dem Terminus Nation lässt sich keine
allgemeingültige Definitionen finden. Die Genese der Nation findet sich, so
Smith, in “pre-existing ethnic ties“ und ihrer politischen Mobilisierung.[1]
Geertz, mit seiner primordialistischen Interpretation, bezeichnet eine Nation
als „eine umfassende Ansammlung von Personen, die durch gemeinsame Abstammung,
Sprache oder Geschichte so eng verbunden sind, dass sie eine eigene Rasse oder
ein eigenes Volk bilden, welches gewöhnlich als gesonderter Staat organisiert
ist und ein bestimmtes Gebiet bewohnt“.[2] Er beschreibt die
Nation als eine Art „quasi natürliche Einheit“.
Connor, als gemäßigter Primordialist, verweist auf einen „intuitive sense of
consanguinity“ im Hinblick auf nationale Identitätskonstruktionen.[3]
Die Nation ist für ihn „a
group of people who feel that they are ancestrally related”.[4]
Für ihn ist das Gefühl einer angestammten Verbundenheit entscheidend und
die „(…) national bond is subconscious and emotional“.[5]
„Wie die meisten ernsthaften Forscher betrachte ich die 'Nation' nicht als eine
ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit“ (Hobsbawm 1991: 20).[6]
Bei Deutsch ist die „Nation (..) ein Volk im Besitze
eines Staates“.[7] Seiner Definition zufolge gäbe es keine
Nation ohne eigenen Staat. „Um einen Staat in Besitz zu nehmen, müssen einige Mitglieder
dieses Volkes den Hauptteil der Führungskräfte dieses Staates stellen, und eine
größere Zahl von Volksangehörigen muss sich mit diesem Staat irgendwie
identifizieren und ihn unterstützen. Ein Volk wiederum ist ein ausgedehntes
Allzweck-Kommunikationsnetz von Menschen. Es ist eine Ansammlung von
Individuen, die schnell und effektiv über Distanz hinweg und über
unterschiedliche Themen sowie Sachverhalte miteinander kommunizieren können“.[8] Um kommunizieren zu können, bedarf es einer
gemeinsamen Sprache und die Diskussion über gemeinsame Sachverhalte sowie
Themen. Dies setzt ein gewisses gemeinsames Hintergrundwissen und ein ähnliches
Beimessen von Bedeutungen voraus. Heckmann verweist auf eventuelle
Kommunikationsprobleme, bedingt durch unterschiedliche Bildungsstände und
soziale Ungleichheiten. Die Reduktion auf die Kommunikationsfähigkeit der
Mitglieder eines Volkes beziehungsweise einer Nation erweist sich daher als
problematisch.[9]
Für Anderson, mit seinem konstruktivistischen Verständnis von Nationen, ist es
die vorgestellte politische Gemeinschaft, die eine Nation kennzeichnet: „it is an imagined political community – and
imagined as both inherently limited and sovereign. It is imagined because the members of even the
smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or
even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion“.[10]
Demnach existiert die Nation in den Köpfen ihrer Mitglieder. Die
Mitglieder können sich nicht alle untereinander kennen, haben aber eine
gemeinsame Vorstellung ihrer Gemeinschaft. Die Nation „is imagined as a community, because, regardless of the
actual inequality and exploitation that may prevail in each, the nation is
always conceived as a deep, horizontal comradeship”.[11]
Guibernau betont bei ihrer Definition von
Nation, ihr bewusstes Herausbilden durch die Beteiligten sowie die gemeinsame
Zukunftsperspektive. „By 'nation', I refer to a human group conscious of forming
a community, sharing a common culture, attached to a clearly demarcated
territory, having a common past and a common project for the future and
claiming the right to rule itself“.[12]
Eine idealtypische Nation definiert Smith „as a named and self-defined human
community sharing common myths, memories and symbols, residing in and attached
to a historic territory, and united by common codes of communication, and a
distinctive public culture, and common customs and laws”.[13]
Smith beschreibt die Gemeinschaften als von den Mitgliedern
selbst-definiert. „The
relationship of the past, especially of the “ethnic past” or pasts, to the national present is crucial“.[14]
Dementsprechend ist die Vergangenheit für die nationale Gegenwart
entscheidend.
Smith spricht von einer „self-defined human
community“ im Hinblick auf eine Nation.[15]
Allerdings scheint die Nation, entsprechend den Ausführungen von Anderson, zu
allererst vorgestellt und nicht, wie Smith argumentiert, selbst-definiert, da
zunächst die Vorstellung einer solchen Gemeinschaft vorhanden sein muss, um als
solche definiert werden zu können.
Eine Nation ist, entgegen den Äußerungen von Deutsch[16],
nicht gleich ein Staat.[17] Als Beispiel kann hier das Baskenland
angeführt werden.
Der Nationenbildungsprozess wird von vielen Historikern als „Wachstum der
Nationen“ (growth of nations), von Politikwissenschaftlern, Politikern und
einigen anderen Historikern als „Nationenbildung“ (nation-building) und von
vielen Sozialwissenschaftlern als „nationale Entwicklung“ (national
development) bezeichnet.[18] Nach Deutsch bestimmen die kulturelle Assimilation und die Mobilisierung
die Nationenbildung:[19]
„The rate of assimilation measures the second great process which, together
with the process of mobilization, determines largely the outcome of national
development”.[20]
Der Nationenbildungsprozess ist ein fortwährender Prozess, der im
staatsbürgerlichen Sinn idealtypisch eine sich jeden Tag erneuernde, durch
einen alltäglichen Volksentscheid untermauerte, Nation entstehen lässt (ähnlich
der Aussage von Renan: „Die Existenz einer Nation ist (…) ein Plebiszit, das
sich jeden Tag wiederholt, so wie die Existenz eines Individuums eine dauernde
Bestätigung des Lebensprinzips ist“).[21]
Wichtige Faktoren für ein solches „Nationenbildungsprojekt“
sind gemeinsam geteilte Werte, welche die Gesellschaft an ein solches
Projekt binden, und die Definition gemeinsamer Interessen, ohne dabei sozial
sowie politisch homogen zu werden. Dies sind keine statischen Faktoren oder
lediglich Gegebenheiten sondern vielmehr Teile eines dynamischen
Nationenbildungsprozesses. Ein solcher Prozess benötigt Institutionen, die
gewisse Aufgaben erfüllen, um einen erfolgreichen Nationenbildungsprozess zu
beschreiten. Ihnen obliegt unter anderem die Aufgabe, Entscheidungen zu
treffen, diese zu legitimieren, gemeinsame Interessen zu formulieren und zu
vertreten.
Eine Nation mit Potenzial muss folgende Bedingungen erfüllen: international
wettbewerbsfähig sein (ökonomische Dimension), die soziale Integration fördern
und aufrechterhalten (soziale Dimension), die Großgruppenidentität, Sprache
sowie Kultur aufrechterhalten und fördern (kulturelle Dimension) und ein
legitimiertes System installieren, so dass die Nation im Stande ist, politische
Aufgaben, Probleme und Fragen in einer akzeptierten Weise zu lösen (politische
Dimension). Des Weiteren müssen territoriale Interessen definiert und auf
staatlicher sowie supranationaler Ebene vertreten werden.[22]
Die Nation wird zu einem Nationalstaat durch eine entsprechende
politisch-verbandliche Organisation.[23] „Der Nationalstaat ist eine
politische Organisationsform, in welcher der Anspruch einer Übereinstimmung
politisch-staatsverbandlicher und ethnischer Zugehörigkeit gestellt wird; das
Staatsgebiet eines Nationalstaates umfaßt dabei häufig nicht nur die
Wohngebiete eines Volkes, in ihrer Gesamtheit oder in Teilen, sondern auch die
Wohngebiete weiterer ethnischer Gruppen“.[24] Guibernau meint, ein Nationalstaat „(…) is a
modern phenomenon, characterized by the formation of a kind of state which has
the monopoly of what it claims to be the legitimate use of force within a
demarcated territory and seeks to unite the people subjected to its rule by
means of homogenization, creating a common culture, symbols, values, reviving
traditions and myths of origin, and sometimes inventing them”.[25]
Der Nationalstaat zielt entsprechend darauf ab, ein homogenes Gebilde
einer Gemeinschaft darzustellen, wenn nötig auch unter Anwendung von Gewalt. Er
bezieht sich dabei auf eine gemeinsame Kultur, Symbole und Werte, die teilweise
auch erfunden werden. Als Beispiel für einen Nationalstaat wird häufig das
zentralistische Frankreich angeführt.
Bei einer Staatsnation treten ethnokulturelle Aspekte in den Hintergrund.
Charakterisierend für die Staatsnation ist die liberale und demokratische
Republik. Sie bildet sich durch staatsbürgerliche Gleichheits- und
Teilhaberrechte (Wehler 1994: 86).[26] Das föderale Kanada wird oft
als Beispiel für eine Staatsnation genannt.
Literaturverzeichnis
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Connor, Walker (1994): Ethnonationalism. The Quest for
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John; Smith, Anthony D.: Ethnicity: OxfordUniversity Press: Oxford, New York: S. 69-75.
Deutsch, Karl W. (1972):
Nationenbildung – Nationalstaat – Integration: Bertelsmann Universitätsverlag:
Düsseldorf.
Deutsch, Karl W. (1978): Nationalism and Social
Communication: The Massachusetts Institute of Technology Press: Cambridge, Massachusetts, London.
Geertz, Cliffort (1996): Welt in
Stücken: Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts: IWM-Vorlesungen zur
modernen Philosophie 1995: Passagen-Verlag: Wien.
Guibernau, Monserrat (2005):
Nationalism. The Nation-State
and Nationalism in the Twentieth Century: Polity Press: Oxford.
Heckmann, Friedrich (1992):
Ethnische Minderheiten, Volk und Nation; Soziologie inter-ethnischer
Beziehungen: Ferdinand Enke Verlag: Stuttgart.
Hobsbawm, Eric J. (1991):
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Frankfurt, New York.
Keating, Michael (2001): Nations Against the
State: The New Politics of Nationalism in Quebec, Catalonia and Scotland: Palgrave: Basingstoke, New York.
Renan, Ernest (1995): Was ist
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Smith, Anthony D. (1998a):
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Smith Anthony D. (2000): The Nation in History.
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Smith, Anthony D.
(2006): Ethnicity and Nationalism. In Delanty, Gerard; Kumar, Krishan:The
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Wehler, Hans-Ulrich (1994):
Nationalismus als fremdenfeindliche Integrationsideologie. In: Heitmeyer,
Wilhelm (Hrsg.): Das Gewalt-Dilemma: Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main: S.
73-90.
[1] Smith (1998): Nations and Nationalism in a
Global Era, 71.
[2] Geertz (1996): Welt in
Stücken: Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, 43.
[3] Conner (1994): Ethnonationalism. The Quest for Understanding, 94.
[4] Conner (1996): Beyond Reason: The Nature of the
Ethnonational Bond, 71.
[5] Conner (1994): Ethnonationalism. The Quest for Understanding, 204.
[6] Hobsbawm (1991): Nationen
und Nationalismus, 20.
[7] Deutsch (1972): Nationenbildung
– Nationalstaat – Integration, 204.
[8] Deutsch (1972): Nationenbildung
– Nationalstaat – Integration, 204.
[9] Heckmann (1992): Ethnische
Minderheiten, Volk und Nation, 50.
[10]Anderson (2006): Imagined communities, 6.
[11]Anderson (2006): Imagined communities, 7.
[12] Guibernau (2005): Nationalism. The Nation-State and Nationalism in the Twentieth
Century, 47.
[13] Smith (2006): Ethnicity and
Nationalism, 175.
[14] Smith (2000): The Nation in History, 63.
[15] Smith (2006): Ethnicity and Nationalism, 172.
[16] Deutsch (1972): Nationenbildung
– Nationalstaat – Integration, 204.
[17] Keating (2001): Nations Against the State, 3.
[18] Deutsch (1972): Nationenbildung
– Nationalstaat – Integration, 17.
[19] Vgl. Deutsch (1978): Nationalism
and Social Communication, 115-122 zur kulturellen Assimilation.
[20] Deutsch (1978): Nationalism and Social
Communication, 156.
[21] Renan (1995): Was ist eine Nation?, 57.
[22] Keating (2001): Nations Against the State, 64, 65.
[23] Heckmann (1992):
Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, 57.
[24] Heckmann (1992):
Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, 53.
[25] Guibernau (2005): Nationalism. The Nation-State and Nationalism in the Twentieth
Century, 47.
[26] Der
Historiker Wehler unterscheidet zwischen einer Volksnation (Abstammungsgemeinschaft),
einerKulturnation, die auf einer
gemeinsamen kulturellen Tradition, vornehmlich auf einer gemeinsamen Sprache,
beruht und einer Staatsnation. Wehler (1994): Nationalismus als fremdenfeindliche
Integrationsideologie 85, 86.
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