Erschienen in Ausgabe: No. 27 (1/2007) | Letzte Änderung: 27.01.09 |
Einige philosophische Anmerkungen
von Stefan Groß
Kaum
eine Thematik bewegt die Gemüter so heftig, wie die derzeit
geführten Diskussionen um die Präimplantationsdiagnostik
(PID). Im aktuellen Diskurs um Erlaubnis oder Verbot der PID zeichnet
sich immer mehr ab, daß die Ethik, die noch vor zweihundert
Jahren, bei Kant, das normativ-kritische Geschäft bestimmend
prägte, nunmehr dem Wissenschaftsdiskurs hinterherläuft.
Eine,
wie Kant glaubte, auf die Vernunft allein rückführbare
Autonomie der Person ist, zumindest in Extremsituationen, wie
bei der PID und bei der Demenz, unmöglich. Denn: Sowohl im Fall
ungeborenen Lebens als auch bei einer akuten Demenz kann von
selbstbestimmter Autonomie keine Rede sein. Bei Kant kamen
Rechtsfähigkeit und Rechtswürdigkeit nur dem
reflektierenden Individuum zu, sofern es in der Lage ist, sich sein
sittlich-moralisches Gesetz selbst aufzuerlegen, so stellt sich
vor diesem Hintergrund die berechtigte Frage: Wie verhält es
sich bei Personen, die entweder noch kein Selbstbewußtsein
haben oder nicht immer in der Lage sind, sich als Individuen selbst
zu bestimmen? Es geht also gar nicht mehr um die Frage der
Rechtsfähigkeit autonomer Subjekte, sondern um den
brisanteren Fall der Rechtswürdigkeit in Grenzsituationen. Wann,
und ab welchem Zeitpunkt kommt dem Mensch Rechtswürde zu? Dies
ist die Frage, die sich die moderne Ethik stellen muß.
Für
viele christliche Denker beginnt menschliches Leben bereits mit der
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Jede Manipulation am
Embryo stellt bereits einen Eingriff dar, der nicht toleriert wird.
Man befürchtet, daß durch die moderne Medizintechnik alle
Grenzen überschritten werden – das berühmte
Dammbruchargument. Der Mensch, so der Vorwurf aus dem christlichen
Lager, greift in die Schöpfung ein, indem er sich anmaßt,
über Leben und Tod zu entscheiden.
Es
herrscht aber nicht nur im christlichen Lager Angst vor einem
medizinischen Verfahren wie der PID; auch viele Nichtreligiöse
stellen eine derartige Diagnostik in Frage.
Ein
Blick in die deutsche Geschichte zeigt, daß der Gedanke einer
„Auswahl“ nicht nur Fiktion, sondern Realität war.
Im Nationalsozialismus fand diese genetische Selektion im
sogenannten T 4 Euthanasieprojekt von 1939 ihren Höhepunkt.
Experimente an und mit Behinderten standen in den
Konzentrationslagern nicht nur auf der Tagesordnung, sie waren Teil
eines Gesundheitsfanatismus, in dem Behinderte keinen Platz hatten.
Viele Gegner sehen in der PID daher nur eine zeitlich vorgeschobene
Auswahl.
Der
Gedanke der Selektion und die damit verbundene Idee einer Eliteclique
sind aber keineswegs „Erfindungen“ des
Nationalsozialismus. Bereits Platon und Thomas von Aquin
rechtfertigen in gewissen Fällen eine Auslese, die nicht
natürlich ist. In Platons Staat finden sich Passagen, wo
eine aktive Euthanasie nicht mit ethischen Standards kollidiert.
Geistig behinderte Kinder, so argumentiert Platon, sind entweder
durch „niedrige“ Volksschichten zu erziehen oder
ganz aus dem sozialen Verbund auszuschließen. Wer nicht dazu in
der Lage ist, am Nous teilzuhaben, dem also das intellektuelle Leben,
das Leben an sich, versagt ist, dessen Menschsein siedelt auf einer
niederen Stufe. In einer Staatsordnung, die nur auf den Elitetyp, den
starken Menschen, wie später Nietzsche hervorhebt, abzielt, hat
das „minderwertige“ Lebewesen eben keinen Platz.
Eine
Abstufung innerhalb der Menschwerdung kennen aber auch Aristoteles
und der schon genannte Thomas von Aquin. Für sie beginnt
menschliches Leben erst dann, wenn die Seele in den Leib kommt. Der
Akt der Beseelung, der bei Jungen um den vierzigsten und bei Mädchen
um den neunzigsten Tag angesetzt wird, ist ausschlaggebend für
den Status menschlichen Seins. Vor diesem Zeitpunkt ist eine
Selektion, hier eine Abtreibung, aus ethischer Sicht unbedenklich.
Der
folgende Aufsatz, der für eine eingeschränkte Zulassung der
PID wirbt, gliedert sich wie folgt. Im ersten Kapitel ist der Frage
nachzugehen, was unter einer PID zu verstehen ist (1.). Daran
anschließend sollen die Argumente der Befürworter und der
Gegner dieses diagnostisch-medizinischen Verfahrens zur
Sprache kommen (2.). Ein drittes Kapitel geht der Frage nach, wie
sich Philosophen zu dieser Thematik positionieren (3.). Im
abschließenden Absatz wird versucht, Argumente zu finden,
die eine PID – unter gewissen Rahmenbedingungen –
rechtfertigen (4.).
Laut
Embryonenschutzgesetz von 1990 ist die PID in Deutschland bislang
verboten, wenngleich England, die Niederlande und Belgien diese
erlauben. In Deutschland wird die Thematik über ein Verbot oder
über eine Erlaubnis seit mehreren Jahren diskutiert. Die Stimmen
jedoch, dieses Verbot aufzuheben, um behinderten Paaren die Chance zu
geben, ein gesundes Kind zu bekommen, werden lauter.i
Voraussetzung
für die genetische Untersuchung am Embryo ist die sogenannte
In-vitro-Fertilisation, die künstliche Befruchtung, die in
Deutschland nicht unter Strafe gestellt wird. Seit über zwanzig
Jahren wird dieses Verfahren erfolgreich praktiziert. Für
Ehepaare mit Fertilitätsproblemen ist die künstlich im
Reagenzglas befruchtete Eizelle die einzige Möglichkeit,
ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Von den im Reagenzglas
befruchteten Eizellen dürfen – laut Embryonenschutzgesetz
– nur drei Embryonen in die Gebärmutter implantiert
werden. Das Verfahren erweist sich als äußert
kompliziert und stellt für das Paar, insbesondere für die
Frau, eine hohe physische und physische Belastung dar, da man die
Implantation mehrere Male wiederholen muß. Die Chance durch
eine In-Vitro-Fertilisation ein Kind zu bekommen, liegt statistisch
gesehen bei 25 Prozent.
Bei
der PID hingegen handelt es sich um ein neuartiges Verfahren, das
zugleich für eine neue Qualität in der Gendiagnostik
steht. Die PID wird nach dem 3. beziehungsweise 4. Tag im so
genannten Achtzellstadium vorgenommen. Jede einzelne Zelle ist
zu diesem Zeitpunkt totipotent. Aus jeder einzelnen Zelle kann sich
also ein kompletter Organismus entwickeln. Bei diesem Verfahren
werden dem Embryo zwei Zellen entnommen, die auf mögliche
genetische Schäden, Erbkrankheiten oder schwerste
Behinderungen untersucht werden. Bei der Zellentnahme werden die zwei
zur genetischen Untersuchung entnommenen Zellkörper zerstört.
Aus medizinischer Sicht ist die Entnahme unkompliziert, da sich
die übrigen Zelleinheiten ungehindert weiterentwickeln
können. Die entnommenen Zellen werden in einer Zellkultur
kultiviert. Ist das Resultat positiv, ist eine schwere Behinderung
nachweisbar, wird der ganze Embryo vernichtet und nicht in die
Gebärmutter implantiert.ii
Wie
bereits hervorgehoben wurde, sehen die Befürworter der PID in
dieser Methode den Vorteil darin, kranke Zellen in einem frühen
Stadium auszusondern. Die Gegner dieses Verfahrens haben aber
davor Angst, daß hier eine Selektion zu einem frühen
Zeitpunkt vorgenommen wird. Dennoch, so ließe sich dagegen
festhalten: Wer wünscht sich kein gesundes Kind, wenn die
Möglichkeit einer „Schadensbegrenzung“ besteht?
Immer
wieder wird, insbesondere von Behindertenverbänden,
hervorgehoben,iii
daß die Zulassung dieses Verfahrens zu einer
Ausgrenzung von Behinderten führe, denn hier sei ein
verschobenes Welt- und Idealbild zugrunde gelegt, durch das
Behinderte immer wieder auf ihre Schäden, als Menschen zweiter
Klasse, reduziert werden. Tatsächlich fühlen sich viele
Behinderte durch die Art und Weise der Diskussion in ihrer
Menschenwürde verletzt, die Gefahr, daß sich dadurch
die ohnehin schon große Schere zu den „Gesunden“
weiterhin öffnet, ist ein Argument, das überzeugt. Doch
auch hier ließe sich dagegenhalten, daß es den
Befürwortern der PID nur um eine Zulassung eines diagnostischen
Verfahrens geht, der Status lebender Behinderter wird überhaupt
nicht in Frage gestellt.
Immer
wieder wird von den Gegnern der PID, als Unterstützung ihrer
Argumentation, die These von der Heiligkeit des Lebens ins Spiel
gebracht. Das Leben, so heißt es, ist unantastbar und
keiner hat das Recht, über Existenz oder Nichtexistenz zu
entscheiden. Aber auch hier läßt sich allerdings die
berechtigte Frage stellen: Ist das Argument von der Heiligkeit des
Lebens tragbar, wenn es sich um schwerste Behinderungen handelt? Kann
man diese einem werdenden Menschen zumuten, wird da die Heiligkeit
nicht zum Scheinargument? Darf man, nur weil man an
tradiert-christlichen Wertvorstellungen festhält, eine
Schwerstbehinderung in Kauf nehmen?
Kurzum:
Die Befürworter der PID wollen einen gesunden Menschen um den
Preis, daß Embryonen vernichtet werden. Die PID-Gegner wollen
keinen Dammbruch und halten an der Heiligkeit und Unantastbarkeit der
Würde des Zellhaufens fest. Dabei übersehen sie, daß
nicht jedes Familienteil in der Lage ist, sein ganzen Leben lang
Verantwortung für den Behinderten zu übernehmen, von
den Leiden der Schwerstbehinderten einmal ganz abgesehen.
Sicherlich
vermag auch ein Schwerstbehinderter eine „glückliche
Existenz“ haben, doch das er sich für dieses „schwere
Glück“ selbst entschieden hätte, bleibt ja äußerst
fraglich.
Nach
aktuellen Statistiken haben bislang weltweit nur wenige weibliche
Personen von der PID Gebrauch gemacht. Es handelt sich bei dem
Verfahren also noch um keine gängige Methode.
Ganz
anders verhält es sich mit der Pränatalen Diagnostik
(PND).iv
Seit langem erweist sich die PND als praxistauglich und wird
täglich von Millionen Müttern praktiziert. Durch
Fruchtwasseruntersuchen, durch Ultraschall u.a. ist die
Pränatale Diagnostik auf ein hohes Niveau gelangt. Bedenken aus
ethischer Sicht stehen diesem Verfahren nicht im Weg. Die
Zielsicherheit der Untersuchungsergebnisse und die – bei
festgestellten Erkrankungen – Möglichkeit, bereits im
Mutterleib medizinische Maßnahmen zur Behandlung einzuleiten,
stehen ebenfalls auf der Tagesordnung.
Viele
Gegner der PID plädieren daher für die PND. Hintergrund
ihrer Argumentation ist, daß während der Schwangerschaft,
selbst wenn eine Behinderung festgestellt wird, es zu einer
unmittelbaren Mutter-Kind-Beziehung kommen könnte, die
darauf hinausläuft, daß sich die Mutter mit dem
Krankheitsbild identifiziert, die Behinderung also in Kauf nimmt und
das Kind zur Welt bringt. Dieses unmittelbare Verhältnis sei mit
der Diagnose im Reagenzglas nicht vergleichbar, da sich hier
überhaupt keine Beziehung aufbauen ließe.
Auch
wird von den Gegnern immer wieder ins Feld geführt, daß
eine PID eine PND, als Nachsorge- bzw. Begleituntersuchung, nach
sich ziehe, denn selbst wenn keine genetischen Schäden im
Reagenzglas festgestellt werden können, so besteht immer noch
die Möglichkeit einer Schädigung während der
Schwangerschaft. Verkürzt gesagt: Die PID ist keine
Garantie für ein gesundes Kind.
Des
Weiteren wird moniert, daß die Frau zur Embryonenerzeugung
künstlich hormonell stimuliert werden muß, was eine
seelische Belastung mit zur Folge habe. Da zu dem Verfahren
überzählige Embryonen benötigt werden, um die
Untersuchungen an diesen vorzunehmen, sehen viele Gegner die Gefahr,
daß überzählige Embryonen, die nicht implantiert
werden entweder eingefroren oder einfach weggeworfen werden. Die
Züchtung von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken ist
aber weiterhin verboten.
Immer
wieder wird auch darauf hingewiesen, daß eine Untersuchung an
nicht totipotenten Zellen ethisch vertretbarer ist. Im Gesetz
zum Schutz von Embryonen heißt es in Paragraph 8: „Als
Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete,
entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der
Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene
totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür
erforderlichen weiteren Voraussetzungen […] zu einem
Individuum zu entwickeln vermag.“
Von
den sogenannten totipotenten, den Alleskönnern, unterscheiden
sich die pluripotenen und die omnipotenten Zellen. Pluripotente
Zellen sind spezifisch-ausgeprägterer Natur als totipotente.
Aus ihnen kann sich kein komplett neuer Organismus bilden, sondern
nur bestimmte Organe. Aus omnipotenten Zellen schließlich
vermag sich nur ein bestimmtes Organ zu bilden.
Die
Gegner der PID möchten die Untersuchung daher auf einen späteren
Zeitpunkt verlagern, auf die Zeit, wo die Zellen nicht mehr
totipotent, sondern pluripotent sind, da durch eine genetische
Untersuchung der Blastozyste zumindest nicht der Embryo, dem
„die Fähigkeit zur Ausbildung eines vollständigen
Individuums“v
zukommt, zerstört wird. Dabei wird die Biopsie nicht
mehr am embryonalen Material, sondern am Throphoplastmaterial,
der späteren Plazenta vorgenommen. So sehr aber für
diese spätere Untersuchung geworben wird, das Verfahren ist
noch keineswegs ausgereift.
Immer
wieder diskutiert wird eine frühere Methode, die sogenannte
Polkörperdiagnostik. Dabei handelt es sich um ein Verfahren,
wobei die Eizelle von injizierten Spermien durchleuchtet wird,
ohne daß dabei Zellen vernichtet werden.
M.
Ludwig und K. Dietrich schreiben dazu:
„Zwar wäre die Entnahme von Zellmaterial in Form der Polkörperbiopsie derOozyte ethisch weniger problematisch, da es sich hier um einen Gameten und nicht um ein neues genetisches Individuum handelt, die Beschränkung auf das mütterliche Genom und die Gefahr eines crossing over, d.h. der Austausch von Genmaterial zwischen Eizelle und Polkörper, würde dazu führen, daß der Untersuchende in der irrtümlichen Anlage befangen sein könnte, die Eizelle enthielte ein betroffenes Gen nicht – da es sich ja im Polkörper nachweisen ließ – obwohl tatsächlich ein Genaustausch stattgefunden hat und nun das betroffene Gen sowohl in der Eizelle als auch im Polkörper zu finden ist“.vi
Kurzum: Innerhalb des medizinischen Diskurses wird weiterhin nach Alternativmethoden gesucht, um die Untersuchung an totipotenten Zellen zu vermeiden. Dabei spielen auch ethische Argumente eine beträchtliche Rolle, denn, wann, so gilt es zu klären, beginnt menschliches Leben?
Auf
die Frage, wann menschliches Leben beginnt, wann es zu schützen
sei, antworten Philosophen ganz unterschiedlich. Zwei Positionen
seien hier stellvertretend benannt: Entweder man argumentiert
wie Spaemann,vii
Hösle und Honnefelder oder man schließt sich an die
Positionen von Singer, Nida-Rümelin und Birnbacher an. Während
Spaemann, Hösle und Honnefelder eine medizinische Technik wie
die PID verurteilen, weil sie eben nicht mit der philosophischen
Tradition des Abendlandes vereinbar sei und sie darin die Gefahr
eines Dammbruchs, einer radikalen Grenzüberschreitung
sehen, bezieht Singer auf der anderen Seite eine weitaus extremere
Position.
Peter
Singer distanziert sich nicht nur von der christlichen Tradition
abendländischer Pflicht- und Wertvorstellungen, er
plädiert für eine Ethik, die mit den traditionellen
Menschenbild (der Mensch als Ebenbild Gottes, die Heiligkeit der
Schöpfung, die Unantastbarkeit der Würde) radikal bricht.
Singer plädiert nicht nur für die aktive Sterbehilfe, er
argumentiert vor allem – aus der Sicht der Tierethik –,
daß das Selbstbewußtsein einen Menschen erst zur Person
mache. Hochentwickelte Tiere haben nicht nur ein ausgeprägteres
Schmerzempfinden, das den menschlichen Schmerzen gleichgestellt ist,
sie haben eine Art von Selbstbewußtsein – zumindest
höhere Primaten –, das ausgeprägter als bei einem
Embryo in dem frühen Stadium seiner Entwicklung ist.
Singer
fordert daher nicht nur eine neue Form von Tierhaltung, kritisiert
Massentierhaltung und plädiert für eine schmerzlose Tötung,
sondern glaubt, daß Abtreibung bis zum 7. Monat kein ethisches
Problem darstelle, weil der Fötus bis zu diesem Zeitpunkt noch
kein Selbstbewußtsein habe. Er geht dabei von einem
präferenzutilitaristischen Denkansatz aus, in
dessen Mittelpunkt die Forderung des größtmöglichen
Glücks für eine größtmögliche
Zahl an Personen steht.viii
Die Präferenzen der vernunftbegabten Lebewesen sind gewichtiger
als die von nicht vernunftbegabten Wesen. Ohne Gehirn kein Mensch.
Auch
der ehemalige Kulturstaatssekretär Nida-Rümelin hielt daran
fest, daß eine Abtreibung dann erlaubt sei, wenn der Mensch
kein Selbstbewußtsein habe. Der Zeitraum selektiver Eingriffe,
so erklärte Nida-Rümelin, erstrecke sich nicht nur auf die
Zeit des pränatalen Lebens, sondern könnte bis ins zweite
Jahr nach der Geburt ausgedehnt werden. Diese These löste eine
Welle von Protesten aus.
Ganz
anders als Peter Singer und Nida-Rümenlin argumentiert
Honnefelder. In seinem Aufsatz „Die Frage nach dem
moralischen Status des menschlichen Embryos“ stellt er sich die
Frage: „Ist sein [dem menschlichen Embryo in vitro, Herv. S.G.]
moralischer Status dem des Embryos in utero vergleichbar, und wie ist
dieser Status überhaupt zu bestimmen?“ix
Ausgehend vom Gedanken, daß der Mensch einen Wert,
ein Gut an sich darstellt und „es zum Menschen gehört,
ein Lebewesen zu sein, das seiner Natur nach das Vermögen
besitzt, selbstgesetzte Zwecke zu verfolgen, können wir den
Menschen mit Kants Sprachgebrauch auch Person nennen und ihm im
Hinblick auf den unbedingten Wert, der ihm als Zweck an sich selbst
zukommt, eine Würde zuschreiben, die ihn der Abwägung gegen
andere Güter entzieht und die deshalb als unverletzlich gelten
muß.“
Honnefelder
fragt in diesem Zusammenhang immer wieder nach dem moralischen Status
menschlichen Lebens. Dieser, so hält er fest, kommt nicht nur
dem geborenen Menschen zu, sondern bereits dem ungeborenen
Lebewesen, das sich zu einem Mensch entwickelt. Von den
Kategorien der „Identität“, „Kontinuität“
und „Potentialität“ ausgehend, sucht er nach
einer Begründung seines Arguments: So schreibt er:
„Es ist also die reale und aktive Potenz eines bereits existierenden Lebewesens, die die Identität und Kontinuität mit dem später geborenen Menschen begründet. Damit wird deutlich, daß Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies, Identität, Kontinuität und Potentialität Aspekte sind, die in wechselseitig sich bedingender Weise und deshalb voneinander nicht trennbar die embryonale Entwicklung eines Lebewesens kennzeichnen. In dieser spezifischen Verbindung sind sie die Grundlage für das Argument, den Beginn des Menschseins auf den Beginn dieser Entwicklung zurückzuführen.“x
Honnefelder
weist sowohl die Position einer „Theorie von Rechten“ als
auch den „Präferenzutilitarismus“ zurück. Der
Status des Embryos, ihn zu schützen, ist weder von seiner
Schmerzempfindlichkeit noch von utilitaristischen Erwägungen,
wie sie Singer einklagt, abhängig.
Wie
Jürgen Habermas geht er davon aus, den „Achtungsanspruch“
des Lebens „um die Forderung zu erweitern, den ungeborenen
Menschen ‚in Antizipation seiner Bestimmung wie eine zweite
Person zu behandeln, die sich, wenn sie geboren würde, zu dieser
Behandlung verhalten würde‘.“xi
Honnefelder
hält fest:
„Geht man vom Begriff ‚Lebewesen‘ aus und versteht darunter eine selbständige, aus sich heraus lebende, sich selbst gemäß einem eigenen individuellen Genom organisierende und zur Ganzheit eines Exemplars der Art entwickelnde und als solche sich replizierende Einheit, dann beginnt ein neues Lebewesen von der Art des Menschen nach abgeschlossener Befruchtung, also dann, wenn mit den ersten Zellteilungen die selbstgesteuerte und gemäß dem individuellen Genom sich vollziehende Entwicklung eines Lebewesens einsetzt.“xii
Den moralischen Status embryonalen Lebens läßt Honnefelder nicht für das sogenannte Vorkernstadium, d.h. vor der Verbindung von Ei- und Samenzelle zu, sondern gesteht nur der befruchteten Eizelle eine reale Potentialität zu, denn:
„[…] es ist nicht die reale Potentialität der beiden noch getrennten haploiden Chromosomensätze zu einem neuen Lebewesen, sondern die reale Potentialität der befruchteten Eizelle als einem neuen Lebewesen, die gemäß dem genannten Ansatz als Kriterium für den Beginn des Lebens dieses Lebewesens zu betrachten ist. Von daher scheint es im Hinblick auf die zu treffende Abgrenzung als gerechtfertigt, die abgeschlossene Befruchtung und die damit einsetzende selbstgesteuerte Entwicklung als den Beginn des Lebens eines eigenen – genetisch und numerisch individuellen – Lebewesens zu betrachten.“xiii
In
Anbetracht der vielen Diskussionen, die durch die Möglichkeit
einer PID-Diagnostik ausgelöst werden, ist es schwierig,
sich eineindeutig zu positionieren. Viele Argumente der PID-Gegner
scheinen auf den ersten Blick überzeugend. Dennoch zeichnet sich
im aktuellen Diskurs eine Scheinmoral ab. Es ist nicht nur aus
logischer Sicht unerklärlich, warum man die PID verbietet, wenn
man die PND zuläßt. Wenn die Abtreibung bis zu einem
gewissen Zeitpunkt erlaubt ist (Fristenregelung und bei der
Gefährdung der Mutter noch bis zu einem späteren
Zeitpunkt), warum verwehrt man sich gegen das diagnostische Verfahren
der PID? Die Argumentation, daß eine Mutter abtreibt, weil sich
durch PND feststellen ließ, daß der Fötus nicht
gesund auf die Welt kommen wird, und eine Abtreibung daher der
einzige Ausweg sei, um der Mutter ein lebenswerteres Leben zu
ermöglichen, siedelt auf einer schiefen Ebene. Selbst
Spätabtreibungen werden nicht unter Strafe gestellt, wenn eine
dauerhafte Situation der Mutter vorliegt, die sie physisch und
psychisch allzu sehr belastet. Ein Abbruch der Schwangerschaft
wird dann sogar angeraten.
Aufgrund
des flächendeckenden Angebots einer PND in Deutschland, den
präzisen Möglichkeiten der Diagnostik, kommt es
zu immer mehr Schwangerschaftsabbrüchen, wenn ein genetischer
Defekt erkannt wird. Wenn man der PID also vorwirft, ein rein
selektierendes Verfahren zu sein, dann übertrifft sie die PND an
Quantität bei weitem.
Kurzum:
Die Gegner der PID lassen eine Tötung nach PND-Diagnose zu,
sehen aber im Verfahren der PID eine Selektion. Meines Erachtens
ist aber jede Abtreibung ethisch verwerflicher als eine
Untersuchung im Reagenzglas. Wenn man wie die PID-Gegner das
Verfahren aus ethischen Gründen für bedenklich erklärt,
weil die Schutzwürdigkeit des Embryos verletzt wird, ist die
Zulassung oder Gewährung einer späten Abtreibung eine
Farce.
Spätabtreibung
ist wie der CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe schreibt,
„nichts anderes als Früheuthanasie“. Diese
unterscheide sich von der Kindstötung nur dadurch, daß sie
im Mutterleib stattfindet. „Ein geborenes Kind zu töten“,
so Hüppe weiter, „ist strafbar“. Spätabbrüche
dagegen nicht. Sie „werden dazu noch von den Krankenkassen
finanziert“.
Auch
der Jenaer Professor Knoepffler betont: „Während auch mit
Berufung auf die Menschenwürde eines menschlichen Keims im
8-16 Zellstadium die Präimplantationsdiagnostik mit einer
möglichen anschließenden Nicht-Implantation in unserem
Land de facto verboten ist, darf ein Mensch mit menschlichem Antlitz
und schlagendem Herz im Mutterleib wegen eines genau gleichen
pränataldiagnostischen Befunds getötet werden.“xiv
Man
sollte, so meine ich, in der PID ein Verfahren erblicken, das einer
PND vorauszugehen habe. Im Blick sind dabei diejenigen Eltern, die
selbst behindert sind, und die den berechtigten Wunsch
haben, ein gesundes Kind zur Welt bringen zu dürfen. Ein
Beschluß der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2000
fordert bereits eine Zulassung der PID in gewissen Fällen. Bei
diesen, wo genetische Schäden des Embryos auf vererbte
Krankheitsbilder der Eltern zurückgehen, wäre
eine PID ein höchst sinnvolles Verfahren. Sie zu verbieten, um
zu einem späteren Zeitpunkt abzutreiben, ist pervers. Spätere
Schwangerschaftsabbrüche könnten durch dieses Verfahren
vermieden werden. Die Entscheidung, ob der Embryo in vitro weiter
kultiviert oder verworfen werden soll, ist meines Erachtens
eine, die ebenfalls, wie beim späteren Schwangerschaftsabbruch,
bewußt gefällt werden muß.
Die
Art und Weise, wie über die PID in Deutschland diskutiert wird,
beklagt auch der praktische Philosoph Kodalle, wenn er schreibt:
„Die Selektivität der Wahrnehmung ethischer Relevanz lässt sich an vielen Beispielen ablesen. Jeder Bürger weiss, dass durch massenhaft verbreitete Techniken die ‚Einnistung‘ befruchteter Eizellen verhindert, also das Absterben dieser Embryonen billigend in Kauf genommen wird.“xv
Um ethische Kohärenz zu erzielen, müßte man, wie Kodalle hervorhebt, jede Form von Selektivität, seien dies Spiralen, Nidationshemmer u.a. ablehnen. In diesem Zusammenhang distanziert er sich von uneinheitlichen Argumentationsmodellen. Entweder plädiert man für die PID und nimmt dabei auch die Probleme, die sich aus diesem Verfahren ergeben in Kauf oder man muß – unter scheinheiligen Argumenten – die Abtreibungspraxis ändern. Statt ethische Inkonsequenz zu erzielen, fordert Kodalle eine „Gesamtschau“. So bemerkt er:
„Ich plädiere [...] für ein Ethos, das in sich stimmig ist in seinen Wertorientierungen. Wer also im öffentlichen Diskurs gegen die Forschung mit ES und gegen PID mit Entschiedenheit auftritt, der sollte ebenso entschieden den Gesetzgeber auffordern, den Verbrauch von importierten embryonalen Stammzellen für Forschungszwecke strikt und mit gewichtiger Strafandrohung zu unterbinden.“xvi
Weiter heißt es:
„Jede Art, sich eine ethische Doppelstrategie zu leisten, ist verwerfliches Parasitentum. Und das gilt erst recht für die weitere Konsequenz: Sollten im Ausland in der Forschung an Embryonen Medikamente von revolutionärer Heilkraft gewonnen werden, müsste deren Verschreibung in Deutschland aus ethischen Gründen untersagt werden. Auch ein Krankentourismus ins Ausland wäre unter die Androhung empfindlicher Strafen zu stellen. Alles andere wäre ethisch dubios – eben: parasitär und damit verachtenswert. Dabei spielt es keine Rolle, daß grundsätzlich ein Unterschied besteht zwischen der moralisch verwerflichen Hervorbringung eines ‚Gutes‘ einerseits und der legalen Nutzung dieses Gutes andererseits. Falls diese Phantasie eines parasitären Ethos nicht ganz abwegig sein sollte, fände ich mich lieber auf der Seite der böse Handelnden (sofern diese in ihren Motivationen nicht primär vom Profitinteresse getrieben sind)“.xvii
So sehr ich diesem Verfahren der Frühdiagnostik zustimme, so sehr gilt es zu bedenken, daß dieses nicht allen Paaren ermöglicht werden kann, sondern tatsächlich nur auf diejenigen beschränkt werden soll, wo eine genetische Schädigung nicht ausgeschlossen werden kann. Anders als der Philosoph Birnbacher, der an einer genetischen Selektion nichts Verwerfliches findet und mehr Vorteile als Gefahren in diesem Verfahren sieht, scheint mir eine gewisse Vorsicht geboten. Für Birnbacher resultiert die persönliche Entscheidung auf ein gesundes Kind aus der „heute bereits bestehenden Freiheit, über Zahl und zeitliche Verteilung der eigenen Kinder zu entscheiden [...]“.xviii
„Selbstverständlich ist die reproduktive Freiheit kein absoluter Wert. Aber solange die Risiken und Nachteile der Selektion keine wirklich dramatischen Dimensionen annehmen, halte ich die reproduktive Freiheit axiologisch für den wichtigeren Wert.“xix Einige Seiten zuvor heißt es: „Insofern die Qualitätskontrolle eine Erweiterung der reproduktiven Freiheit darstellt, gibt es keinen Grund, weshalb wir damit nicht fortfahren sollten.“xx
Sollte die radikale Freiheit aber dazu führen, daß der Wunsch nach dem perfekten Kind, dem sogenannten Designerbaby überwiegt, dann ist ausdrücklich vor dieser Diagnostik zu warnen. Hierbei geht es ja keineswegs mehr um eine Vorbeugungsmaßnahme, sondern um ein Wertideal, das sich mit der Würde des Menschen nicht vereinbaren läßt. Daß diese Grenze nicht überschritten wird, dafür plädiere ich mit aller Nachhaltigkeit.
i
Knoepffler, N., Das Prinzip der Menschenwürde vor dem
Hintergrund der aktuellen medizinischen Debatten, in: Ärzteblatt
Thüringen, 16. Jahrgang, Dezember 2005, S. 569-572.
ii
Vgl. zur Thematik: Hofmann, H., Die versprochene Menschenwürde,
Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 1993, S. 353ff. Vgl.
Luhmann, N., Grundrechte als Institution, 41999. Vgl.
Lorenz, D., Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in:
Isensee, J, Kirchhof, P. (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV,
Heidelberg 22001. Vgl. Ethik in der Medizin, Bd. 11,
Supplement 1, 1999, Von der prädikativen zur präventiven
Medizin – Ethische Aspekte der Präimplanationsdiagnostik,
hg. v. M. Düwell, D. Mieth, und B. Roll, Heidelberg/Berlin
1999. Vgl. Nida-Rümelin, J., „Keine Verletzung der
Menschenwürde“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom
4. Januar 2001, S. 3. Vgl. Schmoll, H., Wann wird der Mensch ein
Mensch?, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), vom 31. Mai 2001, S.
10. Vgl. Höffe, O., Honnefelder, L., Isensee, J., Kirchhof, P.,
Gentechnik und Menschenwürde, An den Grenzen von Ethik und
Recht, Köln 2002. Siehe auch: Deutsches Ärzteblatt 95,
Heft 50, 11. Dezember 1998. Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 9, 3.
März 2000.
iii
Vgl. Neuer-Miebach, T., Welche Art von Prävention erkaufen wir
uns mit der Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik,
in: Ethik in der Medizin (1999), S. 125-131. Vgl. ebenfalls:
Ethische Herausforderungen durch die Verheißung der
Gentechnik, aus: Behindertenpädagogik, 40. Jg., Heft 1/2001, S.
6-22.
iv
Vgl. zur Thematik: Braun, A., Spätabbrüche nach
Pränataldiagnostik, Der Wunsch nach dem perfekten Kind, in:
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 40, 6. Oktober 2006, S.
2612ff.
v
Vgl. Laufs, A., Die deutsche Rechtslage: Zur
Präimplantationsdiagnostik, in: Ethik in der Medizin (1999), S.
55.
vi
Ludwig, M; Diedrich. K., Die Sicht der Präimplantationsdiagnostik
aus der Perspektive der Reproduktionsmedizin, in: A.a.O., S. 41.
vii
Vgl. Spaemann, R., Die schlechte Lehre vom guten Zweck, (FAZ),
Samstag, 23. Oktober 1999, Nummer 247.
viii
Vgl. Kodalle, K.-M., Philosophie und Bioethik, Das Problem der
Forschung an/mit Embryonalen Stammzellen, in: Zukunftsfragen der
Gesellschaft, Vorträge des 2. Symposions vom 22. Februar 2002
(Stammzellforschung), hg. v. E. Lütjen-Drecoll, Akademie der
Wissenschaften und der Literatur, Mainz 2002, S. 35-49, hier: S. 39.
ix
Honnefelder, L., Die Frage nach dem moralischen Status des
menschlichen Embryos, in: Gentechnik und Menschenwürde, An den
Grenzen von Ethik und Recht, hg. v. O. Höffe, L. Honnefelder,
J. Isensee, P. Kirchhof, Köln 2002, S. 80. Vgl. ders., „Der
Mensch droht zu stolpern“, in: Der Spiegel, 27.09.1999, Nr.
39, Seite 317-318.
x
Honnefelder (2002), S. 91.
xi
A.a.O., S. 93. Vgl. Habermas, J., Die Zukunft der menschlichen
Natur, Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/Main 2001,
S. 120.
xii
Honnefelder (2002), S. 96.
xiii
A.a.O., S. 97.
xiv
Knopffler (2005), S. 570f.
xv
Kodalle (2002), S. 41.
xvi
A.a.O., S. 46.
xvii
A.a.O., S. 46f.
xviii
Birnbacher, D., Selektion von Nachkommen, Ethische Aspekte, in: Die
Zukunft des Wissens, hg. v. J. Mittelstraß, Berlin 2000, S.
457-471, hier: S. 471.
xix
Birnbacher, D., ‚Quality control‘ in reproduction –
what can it mean, what should it mean? In:
Genetics in human reproduction, Aldershot 1999, hg. v. E. Hildt und
S. Graumann, S. 119-126, hier: S. 123.
xx
A.a.O., S. 120.
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