Erschienen in Ausgabe: No 63 (5/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Robert Lembke
Über
20.000 Tote, Schäden in Höhe von 220 Mrd. Euro und eine noch immer nicht unter
Kontrolle gebrachte Havarie mit Strahlungsleck im Atomkraftwerk von Fukushima:
Dies ist die nüchterne Bilanz des schweren Erdbebens vor der japanischen
Ostküste, das nachträglich auf eine Stärke von 9,0 korrigiert wurde.
Ein
seltenes Jahrhundertereignis? Nicht, wenn es nach der Meinung von
Erdbebenexperten geht. Der lange Schatten eines möglichen Super-GAUs ruht noch
immer auf Japans Bevölkerung, da prognostizieren Seismologen bereits die
nächsten Beben. Ausgerechnet zwei der bevölkerungsreichsten Gegenden des
Westens sind in den nächsten 30 bis 50 Jahren von schweren Erschütterungen
bedroht: In Europa ist es die aufstrebende Metropole Istanbul, deren neuer
Reichtum auf tönernen Füßen steht. Und bei der wildwüchsigen Expansion der
Stadt ist an Erdbebensicherheit überhaupt nicht zu denken; ein Großteil der
errichteten Gebäude entsteht praktisch über Nacht und ohne Baugenehmigung.
Etwas
anders ist die Lage an der Westküste Kaliforniens, wo die Großstädte San
Francisco und Los Angeles liegen. Zwar wurde hier weitgehend erdbebensicher
gebaut – trotzdem wären die Auswirkungen eines Bebens von der Art des jüngsten
japanischen verheerend, auch wenn die Gefahr eines Tsunamis vergleichsweise
gering ist.
Wie gehen
nun die Menschen in den betroffenen Gebieten mit der Erdbebengefahr um? Müsste
man nicht erwarten, dass sie, von den Ereignissen in Japan medial in Kenntnis
gesetzt, Gegenmaßnahmen ergreifen? Tatsächlich aber werden Ignoranz und
Verdrängung dominieren, man lebt so weiter wie bisher in der Hoffnung, das
Ereignis möge ausbleiben, die Katastrophe möge einen verschonen.
Während
man für Istanbul außerdem annehmen darf, dass ein großer Teil der Bevölkerung
von der Gefahr gar nichts weiß, spricht man in Kalifornien bereits seit Jahren
von der kommenden Katastrophe als the big
one. Als dagegen im AKW Fukushima die Kernschmelze kurz bevorzustehen
schien, richtete man in Deutschland Telefonhotlines ein, um besorgten Bürgern
die Angst vor der radioaktiven Bedrohung zu nehmen. Experten stellten sich hin
und sagten, man brauche jetzt keine Jod-Tabletten zu kaufen, das sei übereilt.
Offenbar
gibt es also unterschiedliche Weisen, mit drohender Gefahr umzugehen: So sehr
man jedoch die Hysterie der Deutschen kritisieren muss, so wenig sollte man die
scheinbare Todesverachtung der Türken und Amerikaner bewundern. Vielmehr
erklärt diese sich aus zwei verschiedenen psychischen Quellen: Erstens dem
Bewusstsein der Faktizität, einer gewissen Schicksalergebenheit und Fatalität,
die eben der Übermacht der Realität geschuldet sind: Die anderen sind hier,
millionenfach, ich bin hier, wo mein Lebensmittelpunkt ist und meine Hoffnungen
liegen. Eine Stadt ist fait accompli,
man kann sie nicht verlegen oder ungeschehen machen – warum also vor einer
Gefahr fliehen, die unsichtbar und unbestimmt, d.h. für die Wahrnehmung diffus
ist?
Die
zweite Quelle jener Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber ist das ausgreifend
säkulare Bewusstsein, dessen Todesverdrängung seit Kierkegaard und Heidegger in
vielfachen Wendungen beschrieben worden ist. Was einzig zählt, ist das Hier und
Jetzt, das Leben in der Gegenwart, und das Wissen vom jederzeit möglichen Ende
führt gerade nicht dazu, sein Leben
um jeden Preis erhalten zu wollen, sondern dazu, es möglichst bis zur Neige
auszukosten. Der Tod der Anderen ist allgegenwärtig, aber er tangiert mich
nicht, solange ich selbst lebe – so gesehen, ist das Erdbeben qualitativ nichts
anderes als die alltäglichen Tode der Anderen, die bei Unfällen,
Familiendramen, durch Krankheiten oder die Unbilden der Natur ums Leben kommen.
Nur quantitativ markiert das Erdbeben eine Differenz – es sterben viele auf
einmal, und das hinterlässt dann doch einen etwas anderen Eindruck als der Tod
von Einzelnen. Warum aber sollte ich einmal unter ihnen sein? Der eigene Tod
ist das, was man sich ohne Weiteres nicht vorstellen kann.
Sind also
die wahrscheinlichen Erdbeben von Istanbul und Kalifornien Damoklesschwertern
zu vergleichen, die über hedonistisch veranlagten Massen schweben?
Interessanterweise kehrt sich der Effekt der Bedrohung hier jedoch um: Während
in der antiken Anekdote Damokles die Lust am opulenten Gastmahl verliert, weil
über ihm die Klinge am seidenen Faden zittert, fügt sich die viel abstraktere Gefahr
des Bebens bestens zur spätbürgerlichen Dekadenz, die alles Heil auf die eigene
Gegenwart setzt. In gewissem Sinn haben wir es mit einer Umkehrung von
Heilsgewissheit zu tun: Statt einer Abwertung der irdischen Zeit im Lichte der
Erlösung – „Wenn das Heil auf jeden Fall kommt, was bedeuten dann die Jahre?“
(Camus) – führt die durch Erdbebenangst verstärkte, diffuse Todesgewissheit der
Insassen der Risikogesellschaft zu einer Belebung der Existenz im Zeichen von
Gewohnheit und Trotz.
Eine
Bewertung dieses Verhaltens – bloßes So-Sein, Fatalismus oder souveräne
Daseinsäußerung – sei jedem selbst überlassen. Erinnert sei nur daran, dass
auch Luther der Legende nach sich rechtfertigte mit dem Hinweis auf nunmehr
fehlende Handlungsalternativen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“
Eine gekürzte Version des Beitrags finden Sie unter: http://www.theeuropean.de/robert-lembke/6159-die-angst-vor-dem-super-gau
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