Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 04.01.09 |
von Stefan Groß
Spätestens
mit dem Fall der Mauer ist auch die Existenz und Bedeutung des aus
Trier stammenden Soziologen, Philosophen und Ökonomen Karl Marx
im Gedächtnis vieler Ost-Deutscher erloschen. War eine
bürgerliche Weltanschauung ohne Marx respektive Engels für
Millionen DDR-Bürger undenkbar gewesen, so verschwand der
Parteiideologe, der nicht nur gegen das Privateigentum Stellung
bezog, sondern auch für eine Diktatur des Proletariats eintrat,
vor zwanzig Jahren fast völlig von der Bildfläche. Für
viele, die in seinem Geist und Denken im Kollektivierungswahn des
SED-Parteikaders groß gezogen wurde, bedeutete der
gesellschaftliche Tod von Marx – ähnlich wie das ungeliebte
Russisch als aufoktroyierte Zwangssprache – aber auch eine
seelische Befreiung.
Waren die
Universitäten im Osten quasi Hochburgen dieses marxschen
Geistes, wo Studierende erst einmal die komplette Lektüre des
Klassentheoretikers verinnerlichen mußten, um sich ihren
naturwissenschaftlichen Studien widmen zu können, so ist Marx
aus dieser universitären Landschaft fast ganz verschwunden. Kaum
noch wird ein Seminar zu dieser Thematik angekündigt. Ist Marx
deswegen ein toter Hund, wie immer wieder zu lesen ist?
Ende 2008
zeichnet sich ein anderer Befund ab. Marx ist wieder aktuell.
Immerhin erschien vor einhunderteinundvierzig Jahren sein wohl
wichtigstes Werk – Das Kapital. Marx’ Analyse und Kritik
des Kapitalismus ist inzwischen zum Klassiker geworden – auch und
gerade jetzt, wo täglich neue Schreckensmeldungen aus der
Finanzwelt nicht nur die Anleger beunruhigen.
Zur
Marx-Renaissance kommt auch hinzu, daß jetzt ein neues Das
Kapital, nun im Pattloch-Verlag, vorliegt. Diesmal ist der Autor
jedoch kein Ökonom, sondern ein katholischer Theologe, der
Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx.
Und was
hat dieser Marx mit dem alten, Vater von Kommunismus und klassenloser
Gemeinschaft gemeinsam? Formal: „Ein Plädoyer für den
Menschen.“ Auch der Erzbischof will soziale Mißstände
aufdecken und anprangern, auch er möchte Anwalt der Entrechteten
sein. Inhaltlich dagegen haben beide Denkwege wenig miteinander zu
tun, denn es sind zwei Weltanschauungen, die sich gegenübertreten.
Hier der
Religionskritiker Karl Marx, dessen Thesen zur Religion als
„allgemeiner Trost“, „Rechtfertigungsgrund“, „Opium des
Volkes“ und „Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung“
für Schlagzeilen sorgten, dort der dem Christentum gegenüber
verpflichtete Ethiker. Reinhard Marx bleibt im Unterschied zu Karl
Marx ein bekennender Anhänger der freien Marktwirtschaft, er
hält ganz im Sinne der katholischen Tradition am Privateigentum
fest, gleichwohl auch er sich von Adam Smiths Theorie der
„unsichtbaren Hand“ kritisch distanziert.
Schon ein
Blick in das Register von Reinhard Marx verrät, daß es
sich nicht um ein frömmelndes Buch handelt, was schon die
Vielzahl der zitierten Nationalökonomen belegt. So lernt man
viel – gerade in Zeiten der Finanzkrise – über den ebenfalls
in Trier geborenen Jesuiten, Nationalökonomen und Begründer
der Katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning (1890-1991),
der 1928 einen ökonomischen Weltbestseller mit dem Titel
Grundzüge der Börsenmoral veröffentlichte.
Auch der
Münchner Erzbischof wirbt nicht für eine urchristliche
Gemeinschaft, oder schwört wie Franz von Assisi dem Kapital ab.
Weder erklärt er der Marktwirtschaft den Bankrott noch plädiert
er in Zeiten der Finanzangst auf ein völlig vom freien Markt
losgelöstes Leben, das sich von der vita activa abkoppelt und
der vita contemplativa zuwendet.
Marx ist
wie Marx Realist, aber eben christlicher Realist, der weiß, daß
der Kapitalismus das die Zeiten überdauernde Wirtschaftssystem
bleiben wird. Nur: Wie man mit diesem umgehen muß, darauf legt
der ehemalige Professor für christliche Sozialethik in erster
Linie Wert, denn für ihn gibt es gute Gründe für eine
soziale Marktwirtschaft, die gegenüber einem primitiven oder
verklärenden Kapitalismus klar im Vorteil liegt
Letztendlich
kommt es darauf an, und hier ist sich der Christ Marx mit dem
Ökonomen einig: Der Mensch muß, ganz kantisch gesprochen,
Zweck an sich selbst bleiben. Nicht das Kapital regiert den Menschen,
sondern dieser das Kapital. Der Markt muß sozial und gerecht
sein, denn ein „Kapitalismus ohne Menschlichkeit, Solidarität
und Gerechtigkeit hat keine Moral und auch keine Zukunft.“
Immer
wieder ist es die Katholische Soziallehre, die Marx in den Blick
nimmt, immer wieder betont er, daß diese in die allgemein
öffentliche Debatte mit hinein gehört. Der Münchner
Erzbischof, der sicherlich bald zum Kardinal ernannt werden wird,
stellt sich dann auch gern in die Tradition von Franz von Bader
(1765-1824) und Adam Heinrich Müller (1779-1829).
Auch
warnt Marx wie einst Friedrich August von Hayek,
Wirtschaftsnobelpreisträger und bekennender Agnostiker, vor
einem „falschen Individualismus“, denn Freiheit bedeutet nicht
Beliebigkeit. Der Standortvorteil des Christentums und seiner
sozialen Ethik besteht für Reinhard Marx eben in der Vermittlung
zwischen Kollektivismus einerseits und purem Egoismus andererseits.
„Wo Freiheit mit Beliebigkeit verwechselt wird, wo Individualismus
zum Egoismus degeneriert und wo der Liberalismus zum bloßen
Hedonismus pervertiert, da kann die […] Rede von der Christlichen
Sozialethik vom ‚Dritten Weg’ mit einem ersten konkreten,
grundsätzlichen Inhalt gefüllt werden.“
Auch
erweist sich der Theologe Marx als realistischer Denker, wenn er
anders als Benedikt XVI. zu dem Befund kommt, daß die Moderne
keineswegs so säkularisiert ist, wie man von katholischer Seite
oft vernimmt. Mit Jürgen Habermas, den er oft zitiert, stimmt
Marx überein, daß die sozialen Pathologien der Moderne
genau zu analysieren sind, denn nur so kann einem Werterelativismus
vorgebeugt werden.
Reinhard
Marx hält dann ein Eingreifen in den Markt seitens des Staates
für erforderlich und verantwortlich, wenn der Mensch nicht mehr
Mittel, sondern allein das Kapital Selbstzweck wird. Bevor es dazu
kommt, daß die Gewinne „privatisiert“, die Verluste
„sozialisiert“ werden, bedarf es einer Regulierung des Marktes
seitens der Regierenden. Es besteht geradezu die soziale Pflicht des
Staates diese Verantwortung zu tragen. Subsidiarität ist die
eine Seite, Regulierung die andere. Nur wenn der Staat, wie derzeit
im Fall der Bundesrepublik Deutschland, den USA und anderen, die
Raubtiermentalität eines Wirtschaftens um jeden Preis limitiert,
Person, Freiheit und Eigentum schützt, nur dann hat der
Kommunismus à la Karl Marx keine Chance. Daß ihm diese
auf Dauer verwehrt bleibt, dafür plädiert der Theologe
Reinhard Marx mit aller Nachdrücklichkeit, wenn er abschließend
schreibt: „Wir stehen vor einer wirklich epochalen Aufgabe, die
besonders Europa herausfordert. Wenn wir ihr nicht gerecht werden,
dann wird uns, davon bin ich zutiefst überzeugt, Karl Marx als
Wiedergänger der Geschichte begegnen. Aber das soll er um der
Menschen willen nicht. Er soll in Frieden ruhen.“
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