Erschienen in Ausgabe: No 63 (5/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Daniel Krause
Martin Seel: Theorien. Frankfurt am Main (S. Fischer): 2009. 255
S. Euro (D) 19,95. ISBN: 978-3100710109
Martin Seel ist Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt,
gleichsam im ‚Hause Adorno’. Dieser Berufung wird Seel in besonderer Weise
gerecht: Er wechselt, wie der Patron, mit Lust und Überzeugung die Seiten, von
der wissenschaftlich verstandenen, methodisch reglementierten Philosophie zum
Essai, zur Zeitungskolumne – und wieder zurück. Längst liegt ein Band mit
Dutzenden der ZEIT entnommener Seelscher Kolumnen vor: Vom Handwerk der
Philosophie (München 2002). Nun folgt ein Band mit Aphorismen, mehr als 500
an der Zahl: Theorien.
Den Buchumschlag ziert eine in unüberschaubaren Grau- und Weißschattierungen
schillernde Kreidezeichnung Cy Twomblys (1970), der, scheint es, Mark Rothko
als liebsten Maler der denkenden Zunft abzulösen beginnt. (In München wurde
ihm ein ‚eigenes’ Museum, ‚Sammlung Brandhorst’, errichtet – wie der Zufall es
will, nahe den Universitätsgebäuden.) Besagte Zeichnung nennt sich
„Untitled“. Dies wirft die Frage auf, ob Seels „Theorien“ nicht ebenfalls als
ein Leerzeichen fungiert, Verweigerung jedes gehaltvollen, aussagekräftigen
Titels, welch letzterer einem fünfhundertteiligen Kaleidoskop von
Prosastücken – mit Leitmotiven, aber ohne Theorie –, in der Tat unangemessen
sein müsste.
Nun ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass eine im deutschen Philosophiebetrieb
vernachlässigte Äußerungsform zur Geltung gebracht wird. Freilich: Da Seel
seit Jahr und Tag ‚literarisch’ tätig ist, zugleich als akademischer
Philosoph wohlakkreditiert, gehört kein ‚existenzieller’ Wagemut zu einem
solchen Unterfangen. Das bloße Faktum der Publikation, wiewohl bemerkenswert,
kann Theorien nicht legitimieren. Es kommt aufs Wie des Gelingens – oder
des Scheiterns – an. Das Scheitern allerdings kann höchst blamabel sein – in
diesem Sinne ist Wagemut bei Seel durchaus vorauszusetzen –, denn allzu oft
degenerieren Aphorismen zu kalenderspruchmäßiger Einfalt, und jeder Schnitzer
der sprachlichen Form tritt gnadenlos deutlich hervor. Der Aphoristiker
exponiert sich in mehrerlei Weise: intellektuell, dem sprachlichen Vermögen
nach und als Persönlichkeit, besonders wenn er die erste Person Singular
einsetzt. (Seel tut dies sehr oft.)
Was Theorien betrifft, ist die Bilanz eine gemischte. Da gibt es
vieles gedanklich und sprachlich Geglückte: „Wie ein kleiner, funkelnder
Diamant ist das kleine Wörtchen ‚wahr’, das auch in manch anderen Sprachen zu
den four letter words zählt, ins Geschmeide der Sprache eingearbeitet“
(Aphorismus 283, S. 142).
„Also bewegt er [Seels Vater] sich schleppend vorwärts […].
Beim Rückweg nimmt er den letzten Stopp an der Wohnung einer Erika Sowieso, die
er nicht kennt, deren Vorname ihn aber an eine Apothekerstochter aus Gießen
erinnert, das erste Mädchen, das er vor siebzig Jahren küsste. ‚Ein Gruß an
Erika’, lautet der einsame Toast, der ihm die Kraft für die restlichen Meter
gibt“ (410, S. 207).
Fachphilosophische Terminologie wird beinahe niemals bemüht, wenn doch, in
charakteristisch apartem, fachfremdem Kontext: Die „Zuschreibung phänomenaler
Eigenschaften“ steht zwischen „Seide“, „Spargel“ und „Tropfen Blut“ (132, S.
61).
Anderes ist weniger überzeugend geraten. Seel bietet diese (geistvolle)
Maxime: „Sich nicht vom Gedanken zur Formulierung, sondern von der Formulierung
zum Gedanken verleiten lassen – das ist der Trick“ (12, S. 8). Und die Gefahr,
denn manche Seelsche Formulierung wirkt rabulistisch, verschmockt, redundant
dialektisch, darin fast marottenhaft – als sei sie mehr Wort als Gedanke,
schlimmstenfalls Wort ohne Gedanken.
Beim Stichwort ‚Dialektik’, fällt die gedankliche, zuweilen sprachliche Nähe
zu Theodor W. Adorno ins Auge, besonders dessen Minima Moralia – ohne
freilich, dass Theorien ins Epigonale geriete. Manches ähnelt einer Negativen
Dialektik in nuce: „Nur die wenigsten Anschauungen sind Theorien. Zu
Theorien werden sie […] wenn aus Ihnen Sätze werden, die sich sehen lassen
können, weil in ihnen etwas Unbestimmtes schwingt“ (3, S. 5). Oder, Adorno noch
näher, bis hin zur Ununterscheidbarkeit: „Das höchste Erkennen liegt im
Erkennen der Einseitigkeit des höchsten Erkennens“ (22, S. 10). Auch rufen
Seels sentimentalische Reminiszenzen an eine Kindheit auf dem Lande,
unabsichtlich oder nicht, Adornos „Amorbach“ auf – und zählen zu den schönsten,
szenisch suggestivsten Passagen des Bandes.
Der schönste Vorzug der Gattung ‚Aphorismus’ – ob bei Seel, Adorno,
Karl Kraus oder französischen Moralisten – ist platterdings in der Kürze zu
sehen, in Dichte und Prägnanz. Vor allem aber: Wer kurze Bücher
schreibt, hat Muße, sich Fragen des sprachlichen Ausdrucks zu widmen. Die
besten Stilisten sind Wenig-, nicht Vielschreiber: Karl Kraus, Ernst Jünger,
auch Brecht. (Musils unvollendetes Lebenswerk, Der Mann ohne Eigenschaften,
kann als einziger Mehrtausendseiter deutscher Sprache angesehen werden, der
gleichsam das Siegel sprachlicher Vollendung trägt.) Dabei bezieht sich ‚Stil’
nicht allein auf den einzelnen Satz. Rhythmus und Tempo- wie Pausendramaturgie,
Wiederholung und Variation, sind von hohem Belang – zumal, wenn die Zahl der
anzuordnenden Elemente wie bei Seel das halbe Tausend übersteigt: Das mühsame
Geschäft des Stilisten ist weitaus diffiziler, als es im Ergebnis scheinen
darf. Gleichwohl, es kann die Mühe lohnen: „Stil ist der Wahrheit überlegen, er
trägt in sich den Beweis der Existenz“ (Gottfried Benn).
Ob Theorien vor diesem Anspruch, stilistisch wie gedanklich, besteht?
Martin Seel braucht es ‚recht eigentlich’ nicht zu bekümmern, denn
„wie ein Hund, der nach einem ausgiebigen Bad sein dickes
Fell schüttelt, muss der Schreibende alles abschütteln, was bei seinen Lektüren
auf ihn eingeprasselt ist. Die spitzen Schreie der Umstehenden nimmt er mit dem
Gleichmut eines seiner Natur gehorchenden Vierbeiners zur Kenntnis“(19, S. 10).
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