Erschienen in Ausgabe: No 64 (6/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Michael Lausberg
Die Aufklärung
brachte dem Erziehungswesen völlig neue Impulse.[1] Sie
forderte eine Hinwendung zu naturgemäßer Pädagogik, die von Vernunft und
sittlicher Lebensweise gekennzeichnet war. Die Erziehung wurde auf alle
Angehörigen der Bevölkerung ausgedehnt, vor allem auf die Bildung von Frauen
sowie die Weiterbildung von Erwachsenen. Wissenschaftliche Verfahrensweisen
wurden auch auf praktische Tätigkeiten (Realbildung, landwirtschaftliche und
gewerbliche Erziehung) ausgedehnt.
Philanthropine
oder „Werkstätten der Menschenfreundschaft“[2]
standen am Beginn moderner Schulreform. Sie waren Ausdruck eines pädagogischen
Protestes gegen die zurückgebliebene Schulrealität in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts in Deutschland. Ihre programmatische Aufgabe bestand darin,
neue und alternative schulpädagogische Impulse zur Reorganisation von Bildung
und Erziehung zu entwickeln. Theoriegeschichtlich waren für die Genese des
pädagogischen Programms des Philanthropismus die Schriften von John Locke
(1632-1704)[3], Christian Fürchtegott
Gellert (1715-1769)[4], Johann Andreas Cramer
(1723-1788)[5] und Martin Ehlers
(1732-1800) verantwortlich.
Die
Philanthropen wollten also eine „vernünftig-natürliche“ Erziehung. An der
Bildung des Intellekts ist ihnen ebenso gelegen wie an Naturnähe und
Einfachheit aller Lebensverhältnisse. Körperliche Ertüchtigung, Abhärtung und
Landleben spielten eine große Rolle.
Zum weiteren
Kreise der Philanthropen gehört, wenn auch nicht unmittelbar mit dem Dessauer
Philanthropin verbunden, Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805), Gutsherr in
Reckahn bei Brandenburg. Aus der unermüdlichen Sorge um seine Landleute heraus
ist er ein Reformer des Landschulwesens geworden.[6] Er
hat besonders durch seine Musterschule in Reckahn, durch seine Lehrbücher für
Lehrer und Kinder und durch seine Forderungen für den Landlehrerstand gewirkt,
war aber im Grunde darüber hinaus aufklärerischer Sozialreformer.
Er gehörte in
die Bestrebungen für das Landvolk hinein, die die ganze zweite Hälfte des 18.
Jahrhunderts durchziehen und in denen auch Pestalozzi wurzelte. Sie erwuchsen
aus dem durch den merkantilistischen Geist des Absolutismus (Anfänge der
Industrie, Bevorzugung der Stadt) herbeigeführten katastrophalen Niedergang des
flachen Landes auf wirtschaftlichem wie kulturellem Gebiet. Von Rochow
forderte, um den Menschen aus diesem Elend herauszuhelfen, geregelte
Armenfürsorge, Armenhäuser, Versicherungen, Abschaffungen der Gespanndienste
und verwirklicht einen Teil dieser Gedanken auf seinen eigenen Gütern. Er
forderte zum anderen – gerade auch um jenen Reformen den vollen Erfolg zu
sichern – wirkliche Aufklärung und geistig-sittliche Erziehung für das Landvolk
durch eine gute Schule. [7]
Für die Schule
stellte er dabei vier Forderungen auf:
Die Schule sei reine Staatsschule
und für alle Kinder da, auch für Bauernkinder,Alles Lebensnotwendige gehörte als
Stoff in die Schule hinein, für das Landvolk auch Viehzucht, Okulieren,
bäuerliche Berufskunde,Diese Stoffe waren in lebendiger
Frage und Antwort (sokratisch-entwickelnde Methode) und mit Hilfe
kindertümlicher Schulbücher zu verarbeiten,Auch das Land benötigte einen voll
ausgebildeten, hauptamtlich tätigen, ausreichend bezahlten Lehrerstand und
mustergültige Schulhäuser.
Die von von
Rochow in seiner Gutsherrschaft im Dorf Reckahn bei der Stadt Brandenburg 1773
erbaute Landschule war die erste philanthropische Musterschule überhaupt.[8] Ihre
bildungsgeschichtliche Bedeutung und Leistung liegt in der Übertragung des
philanthropischen Bildungs- und Schulprogramms auf die ländlichen Verhältnisse.
Wie der Philanthropismus insgesamt, so hat auch die Reckahner Schule die
Sozialverfassung der ständischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt.
Gleichwohl war das der Schulreform zugrunde liegende und durch von Rochow
vertretene Menschenbild von einer positiven Sicht der unteren Klassen geprägt.
Vom Januar
1774 bis zu von Rochows Tod im Jahre 1805 vermerkte das Schülerverzeichnis in
Reckahn 302 Einschulungen, 108 der eingeschulten Kinder waren Mädchen, 194
Jungen. Die 117 Eltern der Kinder arbeiteten zu 65% in der Land- und
Forstwirtschaft, 10% waren Handwerker und 20% waren Bedienstete beim Gutsherrn
oder der Kirche.
Zahlen und
Besucherberichte belegten eindeutig die Vorbild- und Anregerfunktion der
philantropischen Schule in Reckahn, die bis weit in das 19. Jahrhundert
reichte.
Zunächst schuf
von Rochow 1772 in dem „Versuch eines Schulbuchs für Kinder der Landleute oder
zum Gebrauch in Dorfschulen“ ein Handbuch für Lehrer, das in kindertümlicher
Form Gespräche und Lehrstücke über alles brachte, was der Lehrer in der
Dorfschule behandeln sollte. Er ergänzte es dann durch ein spezielles Lesebuch
für Kinder, den „Bauernfreund“. Es sollte die Lücke zwischen Fibel und Bibel ausfüllen
und die Grundlage für den ganzen Schulunterricht sein. Es war schon zu seiner
Zeit das bekannteste, meistgebrauchte Lesebuch (in ca. 100.000 Exemplaren
verbreitet) und wurde noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts benutzt. Damit
trug von Rochow vom Didaktisch-Schulischen her zur Schaffung der Kinder- und
Jugendliteratur bei.[9]
In Rochows „Katechismus
der gesunden Vernunft“ findet man eine Anleitung zum selbständigen Denken:
„Frage: Was heißt lernen? Antwort: Sich Erkenntnis der Wahrheit verschaffen
oder sich selbst zum Nützlichen tüchtig machen. Beispiel: (…) Bis an den Tod
kann und soll der Mensch lernen, das ist zunehmen an nützlicher Erkenntnis, und
immer tüchtiger werden oder zunehmen an Tugend und Geschicklichkeit zu guten
Werken“. (…) Frage: Was heißt Vernunft? Antwort: Die (…) Fähigkeit, verständig
werden zu können. Frage: Was heißt urteilen? Antwort: Darüber, ob etwas uns und
anderen gut und böse, schädlich oder nützlich (…) vorkommen soll, entscheiden.
Man kann nicht urteilen, ohne zu denken. (…) Wer schnell urteilt, ohne gehörig
zu denken, der bemerkt oft zu seinem großen Schaden, daß er geirrt habe. Solche
Urteile nennt man Vorurteile. (…) Durch richtige Erkenntnis lernt man recht
urteilen. – Frage: Was heißt Verstand? Antwort: Die durch Lernen und Üben zum
zweckmäßigen Gebrauch oder recht angewandte Vernunft. Wer viel Nützliches
versteht, der hat Verstand. – Frage: Was heißt abergläubig sein? – Antwort:
Wirkungen behaupten oder erwarten, dazu die Ursachen fehlen.“
Ferner
gestaltete er mit Hilfe seines Mitarbeiter Bruns die Schule in Reckahn zu einer
Musteranstalt. Zu ihr kamen lange Jahre hindurch viele Pädagogen, um ihren
Geist kennen zu lernen und weiterzuverbreiten. Dank von Rochows Einfluss wurde
1778 auch das Lehrerseminar in Halberstadt gegründet.
Literatur
- Basedow, J. B.: Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule
der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer,
arme und reiche, Leipzig 1774, in: Benner, D./Kemper, H.: Quellentexte zur
Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim 2000, S. 84-92
- Cramer, J.A.: Allgemeines
Gesangbuch auf Königlichen Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in
den Gemeinden des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, Altona 1780
- Dammer, K.-H.: Zur Integrationsfunktion von Erziehung und Bildung,
Hamburg 2008
- Engbers, J.: Der „Moral Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland,
Heidelberg 2001
- Freyer, M.: Rochows
„Kinderfreund“, Hamburg 1989
- Hurrelmann B.: Jugendliteratur
und Bürgerlichkeit, Münster 1974
- Siegert, R.: Aufklärung und
Volkslektüre, Berlin 1978
- Stille, O.: Die Pädagogik John Lockes in der Tradition der
Gentlemen-Erziehung, Erlangen/Nürnberg 1970
- Von Rochow, F.E.: Geschichte
meiner Schulen, Schleswig 1795
- Wohlers, H. (Hrsg.): John Locke: Gedanken über Erziehung, Stuttgart
1990
[1]
Dammer, K.-H.: Zur Integrationsfunktion von Erziehung und Bildung, Hamburg
2008, S. 8ff
[2]
Basedow, J. B.: Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der
Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme
und reiche, Leipzig 1774, in: Benner, D./Kemper, H.: Quellentexte zur Theorie
und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim 2000, S. 84-92, hier S. 84
[3] Vgl dazu Wohlers, H. (Hrsg.): John Locke: Gedanken
über Erziehung, Stuttgart 1990 oder Stille, O.: Die Pädagogik John Lockes in
der Tradition der Gentlemen-Erziehung, Erlangen/Nürnberg 1970
[4]
Engbers, J.: Der „Moral Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland, Heidelberg
2001
[5]
Cramer, J.A.: Allgemeines Gesangbuch auf Königlichen Befehl zum öffentlichen
und häuslichen Gebrauche in den Gemeinden des Herzogthums Schleswig, des
Herzogthums Hollstein, Altona 1780
[6] Freyer, M.: Rochows „Kinderfreund“, Hamburg 1989, S. 8
[7]
Siegert, R.: Aufklärung und Volkslektüre, Berlin 1978, S. 152
[8] Vgl. dazu Von Rochow, F.E.: Geschichte meiner
Schulen, Schleswig 1795
[9] Hurrelmann B.:
Jugendliteratur und Bürgerlichkeit, Münster 1974, S. 10
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