Erschienen in Ausgabe: No 64 (6/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Wir
sagen ein Wort und vernichten einen Menschen, ohne dass dieser von uns
vernichtete Mensch in dem Augenblick, in welchem wir das ihn vernichtende Wort
aussprechen, von dieser tödlichen Tatsache Kenntnis hat, dachte ich. Noch ahnt
ein solcher mit einem solchen tödlichen Wort als tödlicher Begriff
Konfrontierter von der tödlichen Wirkung dieses Wortes und seines Begriffs
nichts, dachte ich."
Niemand
anderer als der weltberühmte kanadische Pianist Glenn Gould spricht das
vernichtende Wort aus. Und zwar zu einem Freund, zu seinem Mitstudenten
Wertheimer, der gemeinsam mit ihm und dem Ich-Erzähler einen Sommerkurs bei
Horowitz im Mozarteum in Salzburg belegt.
Drei
aufstrebende junge Pianisten begegnen sich dort. Zurück bleibt ein überragender
Könner - ein "Virtuosenkopf" - und zwei "Verstandesköpfe",
die ihre Klaviere verschenken bzw. versteigern und auf "dilettantisches
Worte-nieder-schreiben" umsatteln. Keine aufstrebenden, sondern
Lebensabbruchkünstler sind sie geworden, keine Existenzbeherrscher, sondern
Menschen, die von ihrer Existenz beherrscht werden: letztendlich
Selbstzerstörer. "Wir machen immer wieder den Versuch, aus uns
herauszuschlüpfen, aber wir scheitern in diesem Versuch, lassen uns immer
wieder auf den Kopf schlagen, weil wir nicht einsehen wollen, dass wir uns
nicht entschlüpfen können, es sei denn durch den Tod."
Der
endlose Gedankenstrom des Ich-Erzählers, der eher an eine Rhapsodie als ein
literarisches Werk erinnert, mäandert um den Selbstmord des
"Untergehers". Er beleuchtet, analysiert und rekonstruiert ihn. Der
wirkliche Mittelpunkt dieser Beschreibung ist allerdings fraglich: Glenn Gould,
Wertheimer oder gar der Erzähler selbst sind nur literarische Protagonisten. Beim
Nachsinnen über das Wesen der Freundschaft dieses Dreigestirns, dem Wesen der
Kunst, Gedanken um Talent und dessen Grenzen, um Fleiß und Ehrgeiz oder um das
Erkennen der eigenen Fähigkeiten, offenbart der Ich-Erzähler gleichfalls viel
mehr über sich selbst, als es den Anschein hat. "Der Untergeher" ist
letztendlich eine Geschichte der Flucht vor der eigenen Schuld und
Verantwortung.
Die
gesamten Seiten sind ein einziger Blocksatz, ein einziger langer Paragraph ohne
Absätze, geschweige denn Kapiteleinteilungen. Der Monolog des Ich-Erzählers
wird durch die fast schon penetranten Einschübe "ich dachte"
relativiert. Man weiß nicht genau: passiert das Erzählte so, oder dachte es
sich der Erzähler nur. Spiralförmig oder auch in Variationen wiederholt Bernhard
immer wieder dieselben Szenen. Als roten Faden, als Grundgerüst, webt er die
Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach ein. "'Zur Gemüthsergetzung'
waren sie ursprünglich komponiert worden und haben fast zweihundertfünfzig
Jahre danach einen hoffnungslosen Menschen, eben Wertheimer, umgebracht."
"...
wenn wir genau sind in der Beobachtung unserer Umwelt, stellen wir fest, dass
diese Umwelt fast nur aus solchen Untergehern zusammengesetzt ist (...) Wir
haben es immer wieder mit solchen Untergehern und mit solchen
Sackgassenmenschen zu tun, sagte ich mir und ging rasch gegen den Wind."
Ein "Gegen-den-Wind-Geher" ist zweifelsohne auch der österreichische
Autor, der "große Allesbeschimpfer", der zu Lebzeiten als der
bestgehasste, tiefstverabscheute, meistverunglimpfte Schriftsteller seines
Heimatlandes gehandelt wurde. Auch heute weiß er noch die Reihen zu spalten.
Sich der Person Thomas Bernhard zu nähern ist allerdings nicht einfach. Zu sehr
polarisiert er, zu kompromisslos treffen bei ihm Dichtung und Wahrheit aufeinander
und verzahnen sich. Entweder man liebt diesen radikal offenen, großartigen
Stilisten oder man lehnt ihn als Misanthrop, knorrigen Grantler, als
"Unterganghofer" kategorisch ab. Aber vielleicht steckt ein kleines
bisschen Wahrheit darin, wenn dieser grandiose Weltanschauungskünstler denkt
gesagt zu haben: "...unser Unglück ist die Voraussetzung dafür, dass wir
auch glücklich sein können, nur über den Umweg des Unglücks können wir
glücklich sein..."
Thomas
Bernhard
Der Untergeher
Suhrkamp
Verlag, Berlin (September 2010)
103
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
978-351842170
ISBN-13:
978-3518421703
Preis:
14,90 EURO
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