Erschienen in Ausgabe: No 64 (6/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Ich
bin in einer Irrenanstalt!" Diese Worte spricht Peter Kien,
vierzigjähriger Hauptprotagonist in Elias Canettis monströsem und
befremdlichen, einzigen Roman gegen Ende des ersten Teils aus. Und zu diesem
Urteil ist mittlerweile auch der Leser gekommen, allerdings in einem
umfassenderen Sinn, als es der Stoßseufzer des Geblendeten, Privatgelehrter von
Beruf und "der größte Sinologe seiner Zeit", ausdrückt. Der lebt in
seiner riesigen Bibliothek wie in einer Muschel, aller Welt entfremdet, wortlos
und einsam. Sein abstraktes Denken macht es ihm unmöglich, die Realität zu
begreifen: "Man näherte sich der Wahrheit, indem man sich von den Menschen
abschloss. Der Alltag war ein oberflächliches Gewirr von Lügen."
Bis
ihn seine sechzehn Jahre ältere Haushälterin durch einen schamlosen Trick in
die bestimmt grauenhafteste Ehe derWeltliteratur lockt. Von da an kämpfen
beide verbissen um die 25.000 Bände starke Bibliothek des Sinologen und um
vermeintlich höchst lukrative Testamente. Thereses blauer gestärkter Rock wird
zum obsessiven Voodoo-Kult. Kien tut sich in Folge mit einem buckligen Zwerg
und Zuhälter namens Fischerle zusammen, den er in der Bar "Zum idealen
Himmel" kennenlernt. Therese wiederum findet einen Beschützer in dem
gewalttätigen Hausbesorger Benedikt Pfaff, der bereits Frau und Tochter zu Tode
prügelte. Alle zusammen bewegen sich in einer exzessiven Gefühls- und
Geistesverfassung, die an die Grenzen der Tollheit stößt.
"Die
Blendung" offenbart nichts Gutes. Jedermann ist Jedermanns Feind und
bekämpft einander buchstäblich bis zum Wahnsinn. Canettis Figuren haben zwar
Jedermanns-Gesichter, aber ihnen gelingt es aus jeder Normalität einen Prozess
zu machen. Nichts Unmenschliches ist ihnen fremd. Alle Figuren der Handlung,
vom Kanalräumer bis zum Polizeioffizier, vom Hausmeister bis zum Psychiater,
sind zugleich irre und gewöhnlich. Der Autor siedelt das Geschehen in einer
Sphäre des Grotesken an, wo das Ungeheuerliche als das Normale erscheint. Am
Ende kriegen alle ihre Strafe: Fischerle wird auf grausame Weise ermordet,
Therese und Pfaff werden von Kiens Bruder kaltgestellt, und Kien selbst
verbrennt in seiner Bibliothek.
In
drei Bücher gliedert sich der Roman: "Ein Kopf ohne Welt",
"Kopflose Welt" und "Welt im Kopf"; erst im dritten Teil
stellt der Erzähler die eigentliche Schlüsselfigur, Kiens Bruder, seines
Zeichens Psychiater, genauer vor. Die inneren und äußeren Monologe der
einzelnen Protagonisten, ihr halblautes Vorsichhin-Murmeln, ihre irren
Selbstgespräche, bei Kien vor allem seine Ich-Gespaltenheit im Wachzustand,
sind dabei die "Sahnehäubchen" des Romankonstrukts. Jeder Mensch, so
lautet das Credo Canettis, lässt sich auf seine akustische Maske reduzieren.
Und diese hat er in dem Buch par excellence herausgearbeitet. Primitive Sätze
reiht er wie Dominosteine aneinander und offenbart damit die komplexe Psychose,
"den einzigen Krüppel", "die einzige Bestie" mit Namen
Menschheit. "Betrachte der Menschen Art zu sein, beobachte die Beweggründe
ihres Handelns, prüfe das, woran sie Befriedigung finden. Wie kann ein Mensch
sich verbergen! Wie kann ein Mensch sich verbergen!", lässt Kien Konfuzius
verzweifelt ausrufen.
Letztendlich
leitet Canetti durch die eigentliche Hauptfigur George, Psychiater und Bruder
Peter Kiens, auf sein späteres Hauptwerk "Masse und Macht" über. Im
Drang der Menschen, in einer höheren Tiergattung, der Masse, aufzugehen und
sich darin so vollkommen zu verlieren, als hätte es nie EINEN Menschen gegeben,
erkennt dieser die viel tiefere und eigentliche Triebkraft der Geschichte.
Bildung sieht er dabei als "Festungsgürtel des Individuums gegen die Masse
in ihm selbst" an. "Den sogenannten Lebenskampf führen wir, nicht
weniger als um Hunger und Liebe, um die Ertötung der Masse in uns. Unter
Umständen wird sie so stark, dass sie den einzelnen zu selbstlosen oder gar
gegen sein Interesse laufenden Handlungen zwingt. (...) Zahllose Menschen
werden verrückt, weil die Masse in ihnen besonders stark ist und keine Befriedigung
findet."
"Vorbild"
für die Figur Peter Kiens soll dem Autor übrigens Immanuel Kant gewesen sein.
Zunächst nannte Canetti den pedantischen Weltverächter seines Romans
"Brand", dann "Kant" und gab ihm schließlich den Namen
"Kien". 1927 brennt ihn Wien der Justizpalast, 1933, Canetti wartete
noch immer auf einen Verleger für seinen Weltenbrand, brennen in Deutschland
die Bücher. Im Oktober 1935 erschien "Kant fängt Feuer" letztendlich
unter dem Titel "Die Blendung". Und hier lässt er dann seinen imaginären
Philosophen sein ganzes trockenes Denkgebäude in Brand stecken. Zurück bleibt
die Frage: "Bis zu welchem Grad von Leichenstarre kann es ein Mensch
maximal bringen, der noch atmet und dessen Herz schlägt?" "Die
Blendung" jedenfalls ist ein schrecklich großartiger Roman, der solch
grauenhaft-abstrakten Seelenlandschaften en masse zu Tage fördert.
Elias
Canetti
Die Blendung
Verlag,
Berlin (September 2010)
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.