Erschienen in Ausgabe: No 64 (6/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Philipp Legrand
Der europäische
Integrationsprozess steht immer wieder zur Disposition. Die Währungsunion, die
Brüsseler Auflagen, mit denen man sich regelmäßig konfrontiert sieht, der
Stabilitätspakt, die Finanzkrise in Portugal und nicht zuletzt die Finanz- und
Staatskrise in Griechenland - um lediglich einige Gegebenheiten aufzuzählen -
erweisen sich als Katalysator zentrifugaler Kräfte, die den europäischen
Staatenverbund immer wieder in Frage stellen. Gerade stellte Dänemark die
Grundfeste Europas mit seinen Ambitionen, die Grenzkontrollen wieder
aufzunehmen, zur Disposition. Demgegenüber stehen fortdauernde
Globalisierungs-, Modernisierungs- und entsprechende Vernetzungsprozesse,
welche die Entgrenzung und den europäischen Integrationsprozess weiter antreiben.
Analog zu diesen Entgrenzungsprozessen
erleben viele europäische Minderheiten eine regelrechte Renaissance und
erfreuen sich eines regen Interessenzulaufs. Diese scheinbar gegenläufige Entwicklung
wird begünstigt durch sich verändernde Rahmenbedingungen. Ehemalige Identitätsstifter
sind einem gefühlten Reduktionismus unterworfen und ein kollektiv empfundener
Homogenisierungsdruck sowie allgemeine Verunsicherungen, hervorgerufen durch Entwicklungen
und Vernetzungen im europäischen System, entstehen und führen zu Anpassungs-,
Eingrenzungs- und/oder Ausgrenzungsprozessen. Viele Minderheiten versuchen an dem
System eines „Europas der Regionen“ zu partizipieren.
Diesem Spannungsverhältnis
zwischen europäischem Integrationsprozess und den sich dadurch verändernden
Rahmenbedingungen in Form von Homogenisierungs- und Modernisierungsprozessen
auf der einen sowie der Bewahrung traditioneller Identitätsmuster auf der
anderen Seite widmet sich ein vom Stephansstift Zentrum für Erwachsenenbildung
initiiertes EU-Projekt, finanziert von der Deutschen Agentur für das
EU-Programm Jugend in Aktion. Fragen nach einer europäischen Identität und der
künftigen Minderheitenrolle im europäischen Integrationsprozess stehen im Fokus
dieses Projektes.
Minderheiten sind häufig regional
verankert, wie beispielsweise die Basken oder Korsen. In wieweit die
subnationale Einheit, also die Region, Handlungsraum und -einheit ist, hängt
von der Form ihrer politischen, kulturellen und ökonomischen Abgrenzung und
ihrer Kompetenzen ab.[1] Da
Minderheiten von einer Majorität umgeben und nicht völlig autonom sind,
bedeutet dies für das Minderheitenidentitätskonzept, dass dieses durch eine
kollektive nationale und supranationale Identität überlagert ist. So begrenzt
die nationale Identität die Minderheitenidentität von „oben“ nach oben. Schmitt-Egner
spricht in diesem Zusammenhang von einer vertikalen Begrenzung im Hinblick auf
regionale Identitäten.[2]
Sind die unterschiedlichen regionalen,
nationalen und supranationalen Identitäten miteinander kompatibel, wird die
vertikale Kooperation zwischen Minderheit bzw. Region, Nationalstaat und
supranationaler Einheit begünstigt. Ist die Minderheitenidentität mit der
nationalen und supranationalen Identität nicht kompatibel, führt dies zu
Konflikten. Inkompatibilität kann beispielsweise hervorgerufen werden, wenn die
Kompetenzen der Minderheit bzw. Region durch Nationalstaat oder Europäische
Union zu sehr beschnitten werden. Die Folge wäre ein Minderheiten- bzw.
Regionalkonflikt. [3]
Durch den europäischen
Integrationsprozess werden einerseits regionale Geltungsräume begrenzt und andererseits
Möglichkeiten bereitgestellt, diese zu erweitern. Agenturen der Ent- und
Begrenzung verlaufen parallel zueinander. Dabei stellt die Entgrenzung eine
größere Herausforderung für Minderheitenidentitäten und regionale Identitäten
dar als die Begrenzung. Die systematische Modernisierung hat eine
Standardisierung von Lebenswelten zur Folge. So wirken Kommunikationsmittel und
weltweite Mobilität direkt auf die individuelle und regionale Lebenswelt ein.
Allerdings lassen sich ein Individuum und eine Region nicht beliebig „ent-räumlichen“.
Der Angleichungsdruck scheint
Auswirkungen auf Differenzierungsprozesse zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ zu
haben. Die weltweite Mobilität führt zu einer Vereinheitlichung und
Standardisierung, wodurch die Differenzierung zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“
unscharf wird. Nach Schmitt-Egner gibt es als regionale Reaktionsschemata zu
Entgrenzungs- und Begrenzungsprozessen Eingrenzung, Anpassung oder Ausgrenzung.[4] Die
horizontale Entgrenzung geht einher mit dem Verlust der Minderheitenidentität und
der regionalen Identität und bedeutet die Anpassung an ökonomische sowie
kulturelle Standards des Modernisierungs- und Globalisierungsprozesses. Die
vertikale Entgrenzung löst Grenzen der Teileinheit (Region/Minderheit)
zugunsten der supranationalen Einheit (Europäische Union) auf.
Bleibt eine Reaktion der Minderheit
auf Be- und Entgrenzungsprozesse aus, wird die Minorität zum Objekt und ihrer Minderheitenidentität
wird die Grundlage entzogen. Die Ausgrenzung als Reaktionsschema beinhaltet
eine Ausgrenzung von Fremdem, um das Eigene zu bewahren. Diese Reaktion entspricht
dem des Traditionalisten. Die Anpassung als passive Reaktion führt zu einer
Assimilation und wird von Modernisierern bevorzugt. Die Eingrenzung des Fremden
durch das Eigene führt dazu, dass das Fremde als Lernfeld des Eigenen
verstanden und dem Fremden das Eigene als Lernfeld anvertraut wird. Anders als
die passive Reaktion sind Aus- und Eingrenzung zwei gegensätzliche Antworten
auf Be- und Entgrenzungsprozesse. Ausgrenzung zielt auf eine Erhaltung und
Entgrenzung auf eine aktive Entwicklung regionaler Identitäten bzw. von Minderheitenidentitäten
ab.[5]
Ziel des europäischen
Integrationsprozesses muss es sein, die Kompatibilität von
Minderheitenidentitäten und regionalen Identitäten im Kontext eines Europas der
Regionen und Minderheiten auf vertikaler Ebene zu fördern. Nur innerhalb eines
kollektiv anerkannten transparenten europäischen Mehrebenensystems, das die
Partizipation seiner Bürger ermöglicht und fördert, kann eine europäische
Identität als Teil der individuellen, parallel zu einer Minderheitenidentität,
regionalen und nationalen Identität gebildet werden.
[1] Schmitt-Egner, Peter
(2005: 115) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische
Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des
transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für
Sozialwissenschaften.
[2] Schmitt-Egner, Peter
(2005: 115, 116) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische
Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des
transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für
Sozialwissenschaften.
[3] Vgl. Schmitt-Egner, Peter
(2005: 115, 116) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische
Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des
transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für
Sozialwissenschaften.
[4] Schmitt-Egner, Peter
(2005: 119) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische
Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des
transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für
Sozialwissenschaften.
[5] Vgl. Schmitt-Egner, Peter
(2005: 116-120) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische
Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des
transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für
Sozialwissenschaften.
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