Erschienen in Ausgabe: No 65 (7/2011) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Hans Küng
Was mich jetzt zum Schreiben drängt
Lieber hätte
ich dieses Buch nicht geschrieben. Es ist nicht angenehm, der Kirche, die meine
geblieben ist, eine solch kritische Veröffentlichung widmen zu müssen. Ich
meine die katholische Kirche, die größte,
mächtigste, internationalste, in etwa auch älteste Kirche, deren Geschichte und
Geschick aber auch alle anderen Kirchen beeinflusst.
Lieber hätte ich
freilich meine Zeit anderen dringenden Fragen und Projekten gewidmet, die auf
meiner Agenda stehen. Aber der Restaurationskurs der letzten drei Jahrzehnte
unter den Päpsten Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger mit seinen fatalen und für
die gesamte christliche Ökumene zunehmend dramatischen Auswirkungen drängt mir
erneut die mir keineswegs angenehme Rolle des Papstkritikers und
Kirchenreformers auf, eine Rolle, die oft die mir wichtigeren Aspekte meines
theologischen Œuvre verdeckt.
Die große Kirchenkrise
In der
gegenwärtigen Situation kann ich es nicht verantworten zu schweigen: Seit
Jahrzehnten habe ich auf die große Krise der katholischen Kirche, faktisch eine Kirchenleitungskrise, die sich da entwickelte,
aufmerksam gemacht - mit wechselndem und in der katholischen Hierarchie mäßigem
Erfolg. Erst mit der Enthüllung der zahllosen Missbrauchsfälle im katholischen
Klerus, die über Jahrzehnte hin von Rom und den Bischöfen weltweit vertuscht
worden waren, ist diese Krise als Systemkrise
für die ganze Welt sichtbar geworden und erfordert eine fundierte theologische
Antwort. Alle noch so groß inszenierten Papstmanifestationen und Papstreisen
(je nachdem als »Pilgerreise« oder »Staatsbesuch« inszeniert), alle die
Rundschreiben und Kommunikationsoffensiven können über die anhaltende Krise
nicht hinwegtäuschen. Diese äußert sich in Hunderttausenden von Kirchenaustritten
allein in der Bundesrepublik Deutschland während der letzten drei Jahre und in
einer zunehmenden Ferne der Bevölkerung zur kirchlichen Institution überhaupt.
Nochmals:
Ich hätte dieses Buch lieber nicht geschrieben. Nicht
geschrieben hätte ich dieses Buch:
1.wenn
sich die Hoffnung erfüllt hätte, Papst Benedikt würde
unserer Kirche und der gesamten Christenheit im Geist des Zweiten Vatikanischen
Konzils einen Weg nach vorne weisen. Diese Hoffnung war in mir gekeimt in der
vierstündigen freundschaftlichen persönlichen Unterredung mit meinem früheren
Tübinger Kollegen in Castel Gandolfo 2005. Aber:
Benedikt ging den zusammen mit seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg der
Restauration stur weiter, distanzierte sich in wichtigen Punkten vom Konzil und
von großen Teilen des Kirchenvolkes und versagte angesichts des weltweiten
Sexualmissbrauchs von Klerikern;
2.wenn die Bischöfe
die ihnen vom Konzil zugesprochene kollegiale Verantwortung für die
Gesamtkirche wirklich wahrgenommen und sich in Wort und Tat dazu geäußert
hätten. Aber: unter der Herrschaft
Wojtyla/Ratzinger wurden die meisten wieder linientreue Befehlsempfänger des
Vatikans, ohne eigenes Profil und Verantwortung zu zeigen: auch ihre Antworten
auf die neuesten kirchlichen Entwicklungen waren zögerlich und wenig
überzeugend;
3.wenn die Theologenschaft sich wie früher kraftvoll, gemeinsam
und öffentlich zur Wehr gesetzt hätte gegen neue Repression und den römischen
Einfluss auf die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses in Fakultäten und
Semina- rien. Aber: die meisten katholischen
Theologen haben begründete Angst, tabuisierte Themen in Dogmatik und Moral
unvoreingenommen kritisch zu behandeln und deshalb zensuriert und
marginalisiert zu werden. Nur wenige wagen die weltweite reformerische »Kirchen
VolksBewegung« zu unterstützen. Und von evangelischen Theologen und Kirchenführern
erhalten sie auch nicht genug Unterstützung, da viele von ihnen Reformfragen
als binnenkatholische Probleme abtun und manche in der Praxis die guten
Beziehungen zu Rom der Freiheit eines Christenmenschen bisweilen vorziehen.
Wie in anderen öffentlichen Diskussionen spielte die Theologie selbst in den
jüngsten Auseinandersetzungen um die katholische und die anderen Kirchen eine
geringe Rolle und verpasste die Chance, die notwendigen Reformen entschieden
einzufordern.
Woran die Kirche leidet
Von den
verschiedensten Seiten wurde ich immer wieder mündlich und schriftlich gebeten
und ermuntert, klar Stellung zu beziehen zu Gegenwart und Zukunft der katholischen
Kirche. So habe ich mich schließlich entschlossen, statt einzelner Kolumnen und
Artikel eine kompakte zusammenfassende Schrift zu verfassen, die darlegt und
begründet, was sich als meine überprüfte Einsicht in den Kern der Krise herausstellt: Die katholische Kirche, diese große Glaubensgemeinschaft,
ist ernsthaft krank, sie leidet unter dem römischen Herrschaftssystem, das
sich im Lauf des zweiten Jahrtausends gegen alle Widerstände etabliert und bis
heute durchgehalten hat. Es ist, wie zu zeigen sein wird, charakterisiert
durch ein Macht- und Wahrheitsmonopol, durch Juridismus und Klerikalismus,
Sexual- und Frauenfeindschaft sowie geistlich-ungeistliche Gewaltanwendung.
Dieses System trägt zwar nicht die alleinige, aber doch die Hauptverantwortung
an den drei großen Spaltungen der Christenheit: die erste zwischen West- und
Ostkirche im 11. Jahrhundert, die zweite in der Westkirche zwischen
katholischer und protestantischer Kirche im 16. Jahrhundert und schließlich im
18./19. Jahrhundert die dritte Spaltung zwischen römischem Katholizismus und
aufgeklärter moderner Welt.
Doch
sei sofort angemerkt: Ich bin ökumenischer Theologe und keineswegs papstfixiert. In »Das Christentum.
Wesen und Geschichte« (1994) habe ich auf gut tausend Seiten die verschiedenen
Perioden, Paradigmen und Konfessionen in der Geschichte des Christentums
analysiert und dargestellt, und da lässt sich nun einmal nicht bestreiten, dass
das Papsttum das zentrale Element des römisch-katholischen Paradigmas ist.
Ein Petrusamt, wie es sich aus den Ursprüngen entwickelte, war und bleibt für
viele Christen eine sinnvolle Institution. Aber seit dem 11. Jahrhundert wurde
daraus immer mehr ein monarchisch-absolutistisches
Papsttum, das die Geschichte der katholischen Kirche beherrschte und zu
den genannten Spaltungen der Ökumene führte. Die trotz aller politischen
Rückschläge und kulturellen Niederlagen ständig zunehmende innerkirchliche
Macht des Papsttums stellt das entscheidende Merkmal der Geschichte der
katholischen Kirche dar. Die neuralgischen Punkte der katholischen Kirche sind
seither nicht so sehr die Probleme der Liturgie, der Theologie, der
Volksfrömmigkeit, des Ordenslebens oder der Kunst, sondern es sind die in der
traditionellen katholischen Kirchengeschichte zu wenig kritisch
herausgearbeiteten Probleme der Kirchenverfassung. Gerade diese werde ich
hier, auch wegen ihrer ökumenischen Sprengkraft, mit besonderer Sorgfalt
behandeln müssen.
Joseph Ratzinger, der jetzige Papst, und ich
waren die beiden jüngsten offiziellen Berater des Zweiten Vatikanischen
Konzils (1962-65), das versuchte, dieses römische System in wesentlichen
Punkten zu korrigieren. Dies aber gelang wegen des Widerstands der römischen
Kurie leider nur teilweise. In der nachkonziliaren Zeit machte Rom die
Erneuerung dann auch mehr und mehr rückgängig, was in den letzten Jahren zum
offenen Ausbruch der schon längst wuchernden bedrohlichen Erkrankung der
katholischen Kirche führte.
Die
Skandale um Sexualmissbrauch im katholischen Klerus sind nur das jüngste
Symptom. Sie haben einen solchen Umfang angenommen, dass in jeder anderen
großen Organisation eine intensive Erforschung der Gründe für eine derartige
Tragödie eingesetzt hätte. Nicht so in der römischen Kurie und im katholischen
Episkopat. Zuerst gestanden sie ihre eigene Mitverantwortung für die
systematische Vertuschung dieser Fälle nicht ein. Dann zeigten sie - von
wenigen Ausnahmen abgesehen - auch kein großes Interesse daran, die tieferen
historischen und systemischen Gründe für eine derartig verheerende
Fehlentwicklung herauszufinden.
Die
bedauerliche Uneinsichtigkeit und Reformunwillig- keit der gegenwärtigen
Kirchenleitung zwingt mich dazu, die historische
Wahrheit von den christlichen Ursprüngen her gegen all die gängigen
Vergesslichkeiten, Verschleierungen und Vertuschungen offen darzustellen. Dies
wird gerade für historisch wenig informierte und traditionelle katholische
Leser und vielleicht auch Bischöfe desillusionierend wirken. Wer sich bisher
noch nie ernsthaft mit den Tatsachen der Geschichte konfrontiert sah, wird
bestimmt manchmal darüber erschrecken, wie es da allenthalben zuging, wie viel
an den kirchlichen Institutionen und Konstitutionen - und an der zentralen
römisch-katholischen Institution des Papsttums ganz besonders - »menschlich,
allzu menschlich« ist. Gerade dies bedeutet jedoch positiv: diese Institutionen
und Konstitutionen - auch und gerade das Papsttum - sind veränderbar,
grundlegend reformierbar. Das Papsttum soll also nicht abgeschafft, sondern im
Sinn eines biblisch orientierten Petrusdienstes erneuert werden. Abgeschafft
werden aber soll das mittelalterliche römische Herrschaftssystem. Meine
kritische »Destruktion« steht deshalb im Dienst der »Konstruktion«, der Reform
und Erneuerung, alles in der Hoffnung, dass die katholische Kirche im dritten Jahrtausend
gegen allen Anschein doch lebensfähig bleibe.
Therapeut, nicht Richter
Manche Leser
werden sich darüber wundern, dass in diesem Buch vorwiegend eine medizinische
Metaphorik verwendet wird. Das hat seinen Grund darin, dass sich einem
bezüglich Gesundheit und Krankheit sofort Ähnlichkeiten zwischen der sozialen
Körperschaft Kirche und dem menschlichen Organismus aufdrängen. Dazu kommt,
dass ich in der Sprache der Medizin besser als etwa in der juristischen
Sprache zum Ausdruck bringen kann, dass ich mich in diesem kritischen Buch
über den Stand der Kirche nicht als Richter verstehe, sondern - in einem umfassenden
Sinn - als eine Art Therapeut.
Meine
Fundamentalkritik am römischen System wiegt schwer, und ich muss sie
selbstverständlich Punkt für Punkt begründen. Nach bestem Wissen und Gewissen
werde ich mich deshalb in diesem Buch durchgängig um eine ehrliche Diagnose wie
um wirksame Therapievorschläge bemühen. Oft eine bittere Medizin, zweifellos,
aber eine solche braucht die Kirche, wenn sie überhaupt wieder genesen soll.
Dies ist eine spannende, aber, wie meistens bei Krankheiten, keine vergnügliche
Geschichte. Nicht aus Rechthaberei oder gar Streitsucht also formuliere ich so
deutlich, sondern um der Gewissenspflicht zu genügen, meiner
Kirchengemeinschaft, der ich ein Leben lang zu dienen versuchte, diesen - vielleicht
letzten? - Dienst zu leisten.
Von Rom aus wird
man erfahrungsgemäß alles tun, um ein derart unbequemes Buch, wenn schon nicht
zu verurteilen, so doch möglichst zu verschweigen. Ich hoffe deshalb auf die
Unterstützung aus der Kirchengemeinschaft und der breiteren Öffentlichkeit, von
Theologen und hoffentlich auch dialogbereiten Bischöfen, um die ideologisch
fixierte und juristisch und finanziell zumeist abgesicherte römische Kirchenhierarchie
aufzuwecken: die hier vorgelegte Pathogenese, diese
Erklärung von Entwicklung und Folgen der Krankheit, unter der die katholische
Kirche leidet, zur Kenntnis zu nehmen und den sich aufdrängenden unbequemen
Therapien nicht weiter Dialogverweigerung und Widerstand entgegenzusetzen.
Gibt es Hoffnung, zumindest für die Kirche in Deutschland?
Agenda für ein »Zukunftsgespräch«
Vom obersten
katholischen Laiengremium, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK),
aufgefordert, hat die Deutsche Bischofskonferenz im Herbst 2010 in einem Brief
an alle Katholiken nach der schockierenden Aufdeckung jahrzehntelanger
Vertuschung sexualisierter Gewalt ein zweijähriges kirchliches
»Zukunftsgespräch« angekündigt. Diese späte Dialoginitiative
- etwa fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum - ist zu begrüßen; ist sie
doch Ausdruck dafür, dass die Bischöfe sich schließlich doch beunruhigt zeigen
über die Frustration, Opposition und Abwanderung im katholischen Kirchenvolk
infolge der Missbrauchskrise und des enormen Reformstaus. Der Dialog soll die
Bischofskonferenz, die Bistümer, die Gemeinden und auch Fernstehende
einbeziehen.
Aber:
um die Jahreswende 2010/2011 war festzustellen, dass die Dialoginitiative schon
wieder ins Stocken geraten war. Denn die deutschen Bischöfe sind uneins. Manche
erkennen nicht einmal das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als
Dialog- und Kooperationspartner an - ganz zu schweigen von der mit weit über
einer Million Unterschriften beglaubigten KirchenVolksBewegung »Wir sind
Kirche«, einer unabhängigen »Stimme des Kirchenvolkes«. Nicht einmal auf ihren
für Ende November 2010 angekündigten Brief an die Gemeinden konnten sich die
Bischöfe einigen. Die Gläubigen wurden auf das Frühjahr 2011 vertröstet.
Aber
diese Gläubigen erinnern sich sehr wohl, dass schon ähnliche
Gesprächsinitiativen - auch im Zusammenhang mit Befragungen vor
Bischofsernennungen - praktiziert wurden, die aber für die Gläubigen nichts
als Enttäuschungen brachten, wie ja auch schon die Ergebnisse der »Würzburger
Synode« (1971-1975) und vieler Diözesansynoden von der Hierarchie
»schubladisiert« und von Rom schlicht nicht akzeptiert wurden. Daher haben
auch jetzt manche Katholiken den Verdacht, die Bischöfe möchten durch ein
»Gespräch« in erster Linie den großen Druck vom Kessel nehmen, um weiterhin
Reformen hinauszuschieben.
Nicht
weniger begründet ist der Verdacht, dass, wie schon oft, die übliche
vatikanische Geheimdiplomatie auf die deutschen Bischöfe - wie früher auf die
österreichischen anlässlich ihres hoffnungsvoll begonnenen »Dialogs für
Österreich« (1997) - Druck ausgeübt hat, um das Dialogunternehmen möglichst
abzubremsen, wenn nicht gar zu stoppen. Diese neue Dialogoffensive des
deutschen Episkopats würde ohnehin mehr überzeugen, wenn sie mit
Entscheidungen für bestimmte Reformen verbunden wäre, über die schon seit
Jahren und Jahrzehnten »Gespräche« geführt werden. Die katholischen Laien
wollen jedenfalls einen verbindlichen Dialog mit konkreten Resultaten, wovor
sich mancher Bischof aber fürchtet.
Das
ist erstaunlich angesichts des Befundes, dass nach dem von der Bischofskonferenz
selber in Auftrag gegebenen Trendmonitor »Religiöse Kommunikation 2010« nur
noch 54 % der Katholikinnen und Katholiken sich der Kirche verbunden fühlen,
mehr als zwei Drittel davon in kritischer Weise. Ja, im Jahre 2010 dürften
insgesamt 250000 Menschen aus der katholischen Kirche der Bundesrepublik
ausgetreten sein, ungefähr doppelt so viele wie im Vorjahr; es gab auch mehr
Übertritte zur evangelischen Kirche (Angaben des Religionssoziologen Michael Ebertz,
Katholische Hochschule Freiburg).
Wie
auch immer: Ich stelle mich dem Dialog und lege hier eine sorgfältig ausgearbeitete und auf
jahrzehntelanger theologischer Arbeit und kirchlicher Erfahrung gegründete Agenda für ein solches Zukunftsgespräch und
entsprechende Entscheidungen vor. Vor fünfzig Jahren habe ich Ähnliches nach
der Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Buch »Konzil und
Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit« (1960) getan. »Agenda«
(lat.: »was zu tun ist«): nicht zu verstehen nur als Notizbuch, in das die zu
erledigenden Dinge pro memoria eingetragen sind, sondern als Aktionsprogramm
dringend anzupackender Aufgaben. Wie schön wäre es doch, wenn dieses Buch allen
Widrigkeiten zum Trotz einen ähnlichen Erfolg hätte wie das damalige, dessen
kühne Vorschläge zuallermeist durch das Konzil in Erfüllung gegangen sind. Auch
heute brauchen wir nicht noch jahrelange Diskussionen und Reflexionen, sondern
kühne Entscheidungen und mutige strukturelle Reformen, wie sie im letzten
Kapitel dieses Buches mit aller Deutlichkeit formuliert und ausführlich
begründet sind.
Sollte das
gegenwärtige »Zukunftsgespräch« aber ergebnislos bleiben, so wird, davon bin
ich überzeugt, diese Agenda auf der Tagesordnung der katholischen Kirche
bleiben. Und dafür hat sich für mich die Mühe gelohnt.
Quelle: Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten?, © Piper Verlag Gmbh, München
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