Erschienen in Ausgabe: No 67(9/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Shanto Trdic
Entrée
Der Autor Henning Mankell
schreibt Bestseller und weiß genau darüber Bescheid, wie und wo man sich
gekonnt in Szene setzt, um auf recht unverbindliche Art und Weise zu punkten. Der
Zeitgeist gibt hier stets die gängige Richtung vor. Geht es etwa gegen den
Staat Israel, dem Mankell wie selbstverständlich das territoriale Existenzrecht
abstreitet, dann geht, wie´s scheint, fast alles. Dann darf man im Schlepptau
zwielichter Erscheinungen als human gesinnter Blockadebrecher brillieren und
anschließend gegen fettes Honorar armselige Räuberpistolen verfassen, die man
dem Publikum als echte Tatsachenberichte verkauft. Wenn aber, ein weiteres
Beispiel, im kongolesischen Dschungel unter Ausschluss einer Blitzlichternden,
Sensationsgeilen Öffentlichkeit diverse randständige Existenzen von irgendeiner
blindwütigen Soldateska massakriert werden, regt das auch ihn, den großen
Afrika-Kenner, kaum auf und es darf generell bezweifelt werden, ob er über jene
verschleppten Informationen und etwas intimeren Kenntnisse verfügt, die seinem
kruden Weltbild nicht im Ansatz entsprechen können, weil diverse
Schwarz-Weiß-Schemen hier einfach nicht mehr greifen wollen. Schwarzafrika war
zu Zeiten der Kolonialbefreiung mal sehr, sehr ´in´ und Mankells Generation
lebte dazumalen eigene Befreiungsphantasien recht lauthals vor diesem
Hintergrund (als einer geblähten Fassade) aus: die Emanzipation der Beleidigten
und Entrechteten, der man auch im entwickelten Europa zu seinem sofortigen Recht
verhelfen wollte, wurde auf Kongressen, Sit-In´s und im Zuge endloser Protestmärsche
in schierer Penetranz propagiert und das hatte die ungeduldige
Nachrückergeneration, in deren hyper-politisierten Kreisen auch Mankell moserte
und muckte, bitter nötig, weil ihr im satten, wohlgefälligen Umfeld einerseits
die Eltern, andererseits die viel zu ruhigen, geordneten Verhältnisse im Wege
standen. Afrika gebar, wie Lateinamerika oder der südostasiatische Raum (Vietnam),
die weltanschauliche Spielwiese, derer sie bedurften, um sich selbst als ferne ´Schutzmächtige´
aufführen und in Szene setzen zu können. Ihr ´Sturm und Drang´ gebärdete sich im
aufmüpfigen, stets schützenden und somit stärkenden Kollektiv, gab sich human
und hehr, aber es ging de facto nur um die eigenen Pfründe, überhaupt um´s
eigene, bekömmliche Fortkommen; und nichts außerdem. Die Revolten und Aufstände
in den tatsächlichen Unruhegebieten führten auf lange Sicht sowieso nicht zur
Befreiung, geschweige denn Befriedung unterdrückter Völkerschaften (ganz im
Gegenteil), aber mit den unterschiedlich kläglichen bis katastrophalen Erblasten
der Erhebung hatte die Rentnergeneration der 68er eh nicht mehr viel am spitzen
Hut.
Jetzt hat sich ein Teil des ´dunklen
Kontinents´ erneut zurückgemeldet, schon wieder befreien sich die Massen, und
da kann und darf jemand wie Mankell, immer noch total fortschrittlich drauf,
nicht abseits stehen. Der ´Afrika – Fan´ („Afrika
hat mich zu einem besseren Europäer gemacht!“) gehört jener Kaste intellektueller
Besser, - und Alleswisser an, die zu jedem Ereignis etwas zu sagen haben, wenn
es ihnen nur gehörig in den Kram, sprich: in das eigene, selbstgestrickte
Klischee passt. In einem Interview versicherte Mankell, das symbolische Zentrum
Europas sei dieser Tage die Insel Lampedusa. Jedoch:“ Europa geht mit dieser Herausforderung der Migration nicht sehr gut um.
In Lampedusa sind die Türen nicht nur geschlossen, es ist rund um sie auch noch
ein hoher Zaun gespannt. Warum bauen wir nicht eine symbolische Brücke von
Nordafrika nach Gibraltar? Damit könnten wir die Probleme von Lampedusa lösen.
Vielleicht verstehen wir eines Tages, dass Brücken wichtiger sind als Zäune.“
Erinnert: seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali im Januar diesen
Jahres trafen auf Lampedusa Zehntausende Bootsflüchtlinge ein. Längst hausen
auf der Insel mehr Afrikaner als autochthone Italiener, und deren provisorische
´Wohnstätten´ muten wie wild auswuchernde Slums an, in denen es brodelt und
gärt und stündlich zur Explosion kommen kann; sinnbildlich gesprochen. Der
Flurschaden, den die Urlaubsinsel zwangsweise zu verzeichnen hat, verunmöglicht
auf Jahre, vielleicht gar Jahrzehnte jeden gängigen Tourismus, von dem die
Mehrzahl der Bewohner einst lebte. Es ist illusorisch anzunehmen, man könne der
auf engstem Raum vegetierenden Menschenmassen mittels üblicher Maßnahmen Herr
werden, und bevor man einen Teil von ihnen ´evakuiert´ hat (Richtung
Festland-Europa oder nach Afrika zurück) ist ein größerer Teil bereits nachgeströmt.
Auf hoher See spielen sich regelmäßig echte Dramen ab. Es vergeht keine Woche
ohne Havarien, der eine völlig überforderte Küstenwacht verzweifelt Herr zu
werden sucht. Auch auf der Insel selbst geht die Furcht um, sind die
Einheimischen längst zu einer ängstlich harrenden Minderheit geschrumpft. Salopp
formuliert: Lampedusa hat fertig, man kann diesen europäischen Vorposten –
falls eine solche Bezeichnung vor geo-strategischem Hintergrund erlaubt sei –
bereits abschreiben. Henning Mankell empfiehlt nun die Lösung: reißt noch mehr
Grenzen ein, öffnet alle Schleusen – entvölkert am besten gleich in einer
möglichst konzertierten Aktion den ganzen schwarzen Kontinent (den er selbst
doch, nach eigener Aussage, so innig liebt). Der FAZ versicherte Mankell schon
vor Jahren: “Ich hatte einen Traum vom Ende der Menschheit.“
Vielleicht haben derlei egozentrisch gefärbte Endzeit-Visionen die Angehörigen
seiner Generation, soweit es sich um einen nicht unerheblichen Teil links-
intellektueller Eliten handelt, schon immer heimlich umgetrieben; stets auf
Kosten derer, die man wie ein verwöhnter Insektenforscher aus heimeliger
Distance beäugt (oder doch vor Ort; in Mosambique etwa, wo der verständnisvolle
´Bwana´ Mankell wie ein alternder, wohlmeinender Hegemon residiert). Und so
einfach stellen sich das dann all die ´Zauberlehrlinge´ von der ehemaligen
Befreiungsfront vor: Europa vergreist (angeblich) und jeder nachrückende
Migrant ist willkommen, weil tadellos arbeitswillig, bestens ausgebildet, integrationsbereit
und überhaupt: es wird schon alles schiefgehen.
I.
Inzwischen dämmert in dem einen
oder anderen Kopf, das Europa einer neuen, gewaltigen Völkerwanderung entgegen fiebert,
nicht ganz unähnlich jener, die das mediterrane Umfeld vor über 1700 Jahren aus
einer spätrömischen Moderne in jenes (sogenannte) finstere Mittelalter
katapultierte, aus dem sich seine Nachfahren erst mit wiederum über
tausendjähriger Verspätung zäh und kleinschrittig zurück-befreiten. Sicher: kein
mörderischer Hunnensturm, der brünstige Barbaren vor sich herjagte, keine
Schlachten auf katalaunischen oder sonstigen Feldern. Die Migranten des 20. und
21. Jahrhunderts fallen nicht mehr mit Pfeil und Bogen über Vorposten oder
Enklaven her sondern in bereits existierende Parallelwelten ein, die weniger der
Obhut und Fürsorge, mehr der Kontrolle zuständiger Verwaltungen entgleiten und
fast zwangsweise dem Zugriff souveräner, rechtsstaatlicher Organe widerstehen;
es mag nur eine Frage der Zeit sein, wann der schleichende Prozess stetiger
Abkopplung vollendet sein wird und sich die Büchse der Pandora öffnet.
Aber der Reihe nach. Befassen wir
uns zunächst mit dem arabischen Aufruhr selbst, der die kontinentale
Zuwanderung zusätzlich beschleunigen, ja potenzieren dürfte, obschon noch immer
behauptet wird, dass es schon reiche, diese Leute irgendwie vor Ort zu
unterstützen oder überhaupt einfach gewähren zu lassen – den Rest richtet dann
schon der eigene Gestaltungswille, überhaupt die Kraft des Neuanfangs. Und will
das alles nicht auf Anhieb glücken, dann werden, meint man, diverse
Finanzspritzen schon eine rasche Genesung herbei führen. Wer aber sind diese
Leute eigentlich, die da neuerdings auf die Barrikaden gehen? Auch das soll
angeblich ganz klar sein: hier komme, so wird uns ständig versichert, hauptsächlich
die neue ´Facebook-Generation´ zum Zuge, eine kritische, fortschrittlich
gesinnte und zivil orientierte, progressive und pragmatische Jugend, jeder
ideologischen oder religiösen Beschlagnahme unverdächtig und überhaupt so
richtig modern. Schön. Nun weiß jeder, der es länger als eine halbe Minute auf
Facebook aushält, das diese Plattform nichts weiter darstellt als einen
diffusen Sammlungspunkt für alle möglichen, jederzeit austauschbaren und in
summa unverbindlichenPhrasen und
Allgemeinplätze; gleich, welche Themen just die sturmreifen Gemüter erhitzen.
Derlei Netzwerke stiften, in der Totale betrachtet, kaum Nutzen sondern eher
Verwirrung, ephemere Zerstreuung – kumulative Vermassung. Irgendwelche
verbindlichen Ordnungsschemata bilden sich nicht heraus, und darum geht es auch
gar nicht. Facebook arbeitet hauptsächlich einem Prozess der Häufung und
Ballung von Informationen zu. Diese Flutungen sind in der Sache sehr
oberflächlich und ihre Bedeutung ist immer situativ begrenzt. So auch die
vielgerühmten Folgeerscheinungen. Jede Party ist irgendwann einmal zuende; jede
Demo dito. Man kann auf Facebook endlose Aufläufe organisieren und damit seinem
Unmut (oder irgendeiner Feier-Laune) wenigstens optisch Geltung verschaffen, das
ganze dann mit Handy oder Steady-Cam abfilmen und wiederum ins Netz setzen (so
schließt sich wohl der Kreis) aber damit hat es sich auch schon. Facebook ist,
so gesehen, mehr eine Methode, eine ganz bestimmte Art der schnellen
Kommunikation – kaum ein Programm. Wo ist denn das Konzept, der ´master-plan´ –
der ganz konkrete, neue gesellschaftliche Gegenentwurf? Dieser Punkt spielte
und spielt in der gängigen, auf schnelle Bilder abbonierten Berichterstattung
kaum eine Rolle. Da werden weder Hintergründe noch die begleitenden Umständen
analysiert; nur die Abfolgen selbst als bloßer Vollzug thematisiert. Einigermaßen
erstaunlich, wie ich finde. Strategien und Konzepte setzt die derzeit
berichtenden Journaille wohl einfach als irgendwie gegeben voraus und die
resultierende assoziative Konkursmasse wird überdies automatisch mit
begrifflichen Allgemeinplätzen gleichgesetzt, die aus dem üblichen
Schlagwortekatalog stammen, der vornehmlich eine Aufbruchstimmung suggerieren
soll. Ob Student oder ´kleiner Mann von der Straße´, ob voll verschleierte und
von der hehren Männlichkeit ganz brav getrennte Frau oder der neuerdings
moderat und egalitär gestimmte, freundlich lächelnde Fundamentalist, sie alle
wollen das Gleiche, das Eine – dasselbe: Freiheit und Demokratie natürlich,
überhaupt ein neues, ein besseres Leben, und wenn auch keiner sagen kann oder
möchte, wie´s werden soll, so sind sich doch alle in einem so richtig einig:
der Westen muss helfen und soll sich
ansonsten aus allem heraus halten. So ähnlich ließ sich sogar im
´revolutionären Jemen´ eine komplett in pechschwarzes Textil verhüllte Frau
vernehmen: der Westen solle endlich eingreifen und sich vorher genau überlegen,
wen er unterstützt – fast eine Drohung. Was anstelle der alten Autokratien
kommen möge, davon hat sicher jeder Clan, jede Sekte, jeder Einzelne eine gare,
ihm wohlgefällige Vorstellung, aber wie das konkret im Sinne einer nationalen,
alle Teile der Bevölkerung befriedenden Art umzusetzen sei, das kann keiner wissen. Machen wir uns nichts
vor: da mögen lose Gruppen junger Akademiker unterwegs sein, die vage
Vorstellungen von Veränderung im Kopfe haben, aber die sind nur ein Teil der Welle, eine Woge im sturmgeplagten, heillos aufgewühlten Meer, und wie ein
Interessenausgleich im Rahmen rechtsstaatlicher Prinzipien von heute auf morgen
funktionieren könnte (denn es soll, es muss ja schnell gehen), das wissen die
wenigsten, das können sie gar nicht wissen, das braucht Erfahrung, Zeit, viel
Mühe und noch mehr Verzicht. Das Chaos scheint vorprogrammiert, und wenn nicht
irgendein Militärputsch die unvermeidliche Restauration autokrater Verhältnisse
nach sich zöge, so schlüge am Ende doch noch die Stunde derer, die am Ende
immer Gewehr bei Fuß stehen und verlässlich zuschlagen werden. Gemeint sind
diverse islamische Sekten und Bünde, wie etwa die legendären Muslimbrüder, die
immerhin auf feste, rigide Strukturen zurückgreifen können und jahrzehntelang
Zeit hatten, die Stunde Null zu planen. Sie warten auf ihren Einsatz, ihre
Chance – ihren Auftritt. Sicher werden sie das optisch so in Szene setzen, dass
zunächst keiner schmollt. Taktisch haben die mittlerweile, das muss man
zugeben, einiges dazu gelernt.
Wenn man die Massen meuternder
Muslime schon in den Rang von Revolutionären heben möchte, dann sollte man sie
auch an den Umwälzungen messen, die Revolutionen üblicherweise begleiten. Die
Revolution aller Revolutionen, die französische, mag über zweihundert Jahre
hinter uns liegen, sie mag, weil sie zwischen Freudentaumel und Blutrausch,
konservativen Rückfällen und anarchistischen Ausfällen, Restauration und
rabiater Emanzipation unruhig hin und her pendelte eher abstoßen, aber eine
friedliche Revolte hat es in der Geschichte der Menschheit ohnehin kaum je
gegeben. War sie es doch einmal (wie im Falle des zerfallenen Ostblocks,
Rumänien ausgenommen) so hat das dem Volke kaum genützt, am allerwenigsten
denen, die im Mutterland der Reformen, der ehemaligen Sowjetunion, die Folgen
von Glasnost und Perestroika bis heute ´auskosten´ dürfen (während eine schmale
Elite, die sogenannten Oligarchen, als neue, mächtige Patriarchen potent und
protzig ihren Anteil an der Zeitenwende ausleben). Ich habe meine Zweifel, ob
die Vorgänge in den muslimischen Staaten überhaupt mit dem korrespondieren, was
wir uns üblicherweise unter einer Revolution vorstellen (möchten). Wenn ich im
Folgenden dennoch mittels einiger loser Querverweise eine historisch fundierte Annäherung
wage, dann geschieht dies vornehmlich zwecks Mahnung, die zur Einkehr ermutigen
soll.
II.
Der große Taine, Historiker von
Rang, eher philosophisch gestimmt als im Ganzen wissenschaftlich gesinnt
(wiewohl er das stets vorgab), beschwor Düsternis und Verfall, kam er auf die
unmittelbaren Folgen der französischen Revolution zu sprechen, und wenn er die
Phase der Erhebung mit einem fröhlichen Fest verglich, dem die Nacht des
Deliriums folgte, dann lag er mit dieser, von der Geschichte nur zu sehr
bestätigten Ahnung, kaum allein und folgte in summa den insgesamt sehr viel differenzierter
ausgearbeiteten Thesen Burkes, aber noch interessanter und für unseren
Vergleich ungleich nützlicher ist eine Theorie, die Taine, wiewohl inhaltlich
divergierend, mit Tocqueville teilte, der ihn an Bedeutung sicher übertrifft.
Dieser Ansatz erklärt wenigstens zum Teil, warum die restaurativen Tendenzen seinerzeit
so wirkungsmächtig blieben und jeder strikt egalitäre Ansatz im Kern scheiterte
und nur mit zeitlicher Verzögerung spärliche Wurzeln schlug. Die revolutionäre Idee
geht nach Taine auf den von Descartes begründeten Esprit Classique zurück, ist also im Grunde, salopp formuliert, ein
ziemlich alter, ausgetretener Schuh. Tocqueville umging in seiner Analyse einen
solchen ideengeschichtlichen Ansatz und zwang das Augenmerk auf strukturelle,
durch waltende politische Vorgänge bedingte Tatsachen. Nach ihm bestand gar
kein wirklicher Gegensatz zwischen Monarchie und Revolution, ganz im Gegenteil
war letztere eine logische Folge der ersteren. Es lohnt, in diesem Zusammenhang
den britischen Historiker George Peabody Gooch in entsprechender Übersetzung zu
zitieren und als Quelle dingfest zu machen. Er hat in seinem monumentalen
´History and Historians in the Nineteenth Century´(erstmals 1913) diesen einen,
genialen Gedanken des französischen Gelehrten wie folgt auseinander gefaltet:” Das Ancien regime war in höchstem Grade
zentralisiert, die Revolution zentralisierte die Verwaltung noch mehr. Das
Ancien regime hatte die meisten Vorrechte des Adels abgeschafft, die Revolution
zerstörte auch noch den Rest. Keinem von beiden lag die Freiheit am Herzen.“ (GOOCH;
Frankfurt 1964, S. 253). Tocqueville meinte:“ Die Revolution selbst war die gewaltsame und plötzliche Erringung eines
Ziels, das zehn (!!) Generationen
angestrebt haben“ (GOOCH, ebd.). Die Revolution schöpfte also, folgen wir
diesen Überlegungen, aus älteren Krügen, erinnerte eigene Traditionen, blieb
angestammten Strukturen verhaftet und sprang in summa eben nicht unvermittelt
in das Terra Obscura einer neuen Zeit, die ihrerseits auch auf alte, zum Teil
bis in die Antike reichende Überlieferungen zurück griff. Anders formuliert:
die Veränderungen fußten auf verlässlichem Fundament, entsprachen gelebter
kultureller Selbstentfaltung und führten die Grande Nation solcherart in ihre eigene Moderne; Umwege, Irrwege
nicht ausgeschlossen. Hier lohnt wieder der Rückgriff auf Taine, dessen
Überlegungen, wiewohl stets subjektiv gefärbt, den Blick freilegen auf jene
´Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft´, die egalitären Ansätzen auf ganz
fiese Art und Weise den Garaus machten und machen. -
Wie steht es also mit der
arabischen Revolution? Wo setzt sie an bzw. genauer: was setzt sie fort oder
um?Die Antwort des Westens lautete bis
gestern: das europäische Ideal. Irgendwie, mit etwas Unterstützung, guten
Willen und noch mehr ´richtiger´ Anleitung sollen, müssen, haben diese ´Nationen´
gefälligst in moderne Demokratien umgewandelt zu werden; hochkomplexe Gebilde
immerhin, die im ´alten Europa´ erst in jüngerer Zeit halbwegs überzeugend und
einigermaßen krisenfest arbeiten. Heute hier, morgen auch in der muslimischen
Welt und dann haben es hoffentlich alle geschnallt. Und alles wird gut. Um beim
historischen Beispiel zu bleiben: es ist nicht ausgeschlossen, das in
irgendeinem der betroffenen Staaten die islamische Volksfront (etwa in Gestalt
der dubiosen Muslimbrüder) im günstigen Moment das Heft an sich reißen wird um in
die Rolle jener Jakobiner zu schlüpfen, deren hehre Grundsätze und Prinzipien
am Ende nur Terror und Schrecken zeitigten, bevor man diesem Unwesen mit
entsprechenden, nicht minder repressiven Mitteln beikam. Wer eine solche
Parallele für konstruiert hält, mag an die Worte Jakob Leib Talmons erinnert
werden, der die Ideologie dieser ´Sekte´ einer umfassenden Analyse unterzog und
zu dem Schluss kam,“ dass abstrakte
kollektive Begriffe für die Jakobiner nicht Abkürzungen, Gedankenverbindungen oder leitende Grundsätze waren,
sondern fast greifbare und sichtbare Dinge, Wahrheiten, die an sich bestehen
und akzeptiert werden müssen.“ Denn:“ ´Ewige
Prinzipien, ´die natürliche Ordnung´, ´die Tugendherrschaft´ waren für Robespierre
und Saint Just ebenso bedeutsam wie für
einen orthodoxen Marxisten Begriffe wie ´klassenlose Gesellschaft´ oder ´der
Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit´. Daher konnte
Nicht-Übereinstimmung von ihnen nicht lediglich als Meinungsverschiedenheit
angesehen werden, sondern erschien als Verbrechen und Verderbtheit oder
zumindest als Irrtum.“ Für Robespierre gab es eben“ nur eine Sittlichkeit und ein menschliches Gewissen.“ (TALMON: Die
Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln 1961, S. 73). Marie Jeanne Roland,
in den Wirren der Revolution tapfer auf Seiten der Girondisten aktiv, erlag wie
zahllose andere dem Terror und starb auf der Guillotine. Ihr Mann, für kurze
Zeit als Minister tätig, nahm sich das Leben. Frau Roland ahnte, was kommen
würde und schrieb bereits im August des Jahres 1789 in einem Brief:“ Man wird sich balgen. Ich bin darauf
gefasst. Was tun? Sich mit Mut wappnen.“ (zit. nach W. MARKOV: Revolution
im Zeugenstand. Frankfurt 1987, S. 104).
Die Muslimbrüder sind vor allem
in Ägypten stark, wo sie bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts gegründet wurden. Man mag den Ägyptern zugute halten, dass sie auf
eine über fünftausend Jahre alte Hochkultur zurück blicken, aber es ist der
Islam, dem die Verfassung an erster Stelle gehorcht, denn er ist laut Artikel
Zwei Staatsreligion. Artikel Eins dieser Verfassung garantiert zwar das Prinzip
formaler Rechtstaatlichkeit, aber dieser Staat wird dann im selben Artikel
bereits als Bestandteil der arabischen Nation bezeichnet (Nasser!), womit der
Grundsatz souveräner Eigenstaatlichkeit, den man in Europa kennt und schätzt,
bereits aufgehoben ist. Das, was man auf dem Kontinent üblicherweise unter
einer Nation versteht erscheint hier als eine Art Empire, das mit der Umma (Gemeinschaft aller Muslime) mehr
Ähnlichkeit aufweist als mit jenem Begriff nationalstaatlicher Eigenständigkeit,
die auf individuelle Rechte (Selbstbestimmung) zielt, während das andere
Konzept primär dem Kollektiv Rechnung trägt. Das mag mancher für schematisch
und sekundär halten, aber es zeigt, dass schon im Ansatz, bereits im Kern
gravierende Unterschiede bestehen, die man nicht einfach im Handstreich eigenen
Vorstellungen angleichen kann, die ihrerseits nicht vom Himmel fielen. Salopp
gesprochen: die muslimischen Gesellschaften werden sich anders entwickeln, als
sich das biedere Staatsrechtler und Menschenrechtsaktivisten im Westen
wünschen, denn sie bauen nun einmal auf anderem, divergierenden Fundament.
Noch einmal: darf man, sämtliche
Vorgänge in betroffenen Regionen eingeschlossen, von einer umfassenden Revolution
im arabischen Raum sprechen? Und kann man die Tumulte im stark traditionell
geprägten Jemen mit denen in Ägypten vergleichen, wo die Gemengenlage ungleich
komplexer und zwielichter scheint? Folgt auf den ´arabischen Frühling´ ein
blutiger Herbst (in Libyen, Syrien und dem Jemen bereits geschehen) oder
erstickt ein früher Winter die Saat schon im Keim? Bleibt es bei einer Flaute
(Algerien) oder schwemmt der Sturm der Erhebung noch sehr viel zügiger die beleidigten
Massen in das vermeintliche Utopia (derzeit sind das hauptsächlich Tunesier und
Gastarbeiter aus Libyen)? Ich möchte in diesem Zusammenhang an ein Werk von
Peter Scholl-Latour erinnern. Er beschrieb in seinem Buch ´Allah ist mit den
Standhaften´ sehr einfühlsam und kompetent die Vorgänge an den damaligen
muslimischen Peripherien und ging insbesondere auf den Umsturz im Iran
ausführlicher ein. Leider trug das Werk den irreführenden Untertitel ´Begegnung
mit der islamischen Revolution´. Sogar der alte Scholl kam nicht ohne diese
schillernde Metapher aus. Glich denn der kollektive, sich fast hysterisch
gebärdende Rückfall sämtlicher Bevölkerungsschichten, dieser fundamental-religiöse, mittelalterlich anmutende
und in jeder Phase kollektiv vollzogene Koller einer Revolution im
eigentlichen, ursächlichen Sinne des Wortes? Die abrupte und rigoros vollzogene
Rückwendung, mit der keiner der westlichen Beobachter auch nur im Traum
gerechnet hatte, war doch in Wirklichkeit eine zutiefst reaktionäre, ´nach
hinten´ gewandte Bewegung, sie vollzog sich sogar als direkte Reaktion auf die
vom Schah mit Nachdruck eingeleitete industrielle und gesellschaftliche
Moderne, der man mit Recht die begleitenden sozialen Missstände vorwerfen durfte,
an denen aber auch die Unterschicht Europas in Zeiten der
Frühindustrialisierung zunächst noch litt. Doch im Iran drängten keine
Gewerkschaften oder Sozialisten nach vorn; dort war es fast ausschließlich ein
mächtiger, im übrigen begüterter und extrem autoritär ausgerichteter Klerus,
der fortan den Ton angab, und seine Revolutionsgarden gehorchen keinen
abstrakten, egalitären Prinzipien sondern einzig dem schiitischen
Glaubensbekenntnis, das sich in über Tausend Jahren treu geblieben ist – treu
bleiben musste.
Wie gesagt: das kapierten damals
die wenigsten. Heute kratzt das keinen mehr. Auch derzeit wissen wir wenig, ja
nichts über die aktuellen Revolten, und ein paar Handyvideos spiegeln nur die
allgemeine Verwirrung, die Ratlosigkeit und das Unverständnis derer, die das
ganze Durcheinander aus sicherer Entfernung registrieren und mangels echter
Beweise nur immer assoziative Korrespondenzen anstellen, die einen diffusen Volksaufstand
mit einer Dauer-Demo verwechseln und wüste Verteilungskämpfe als Vorboten
egalitärer Umschichtungen begreifen (wollen).
Deutet man traditionell motivierte
Tendenzen innerhalb des Dar al-Islam an, kann man gar nicht umhin, in einem weiteren
Schritt auf solche ein zu gehen, die sich auch und gerade außerhalb dieses
Kulturkreises, etwa im benachbarten Europa, ergeben und auf absehbare Zeit an
Schärfe gewinnen werden. Im Zwiespalt hiesiger Ereignisse, im Sog zunehmender
Erregung (die ständig von neuem aufflammt) gerät nicht nur unser angestammtes
sondern auch das erkämpfte Selbstverständnis in die Bredouille. Auch, ja gerade
in der Diaspora findet das kulturelle Selbstverständnis eingewanderter Muslime
zu sich selbst. Es kann hier zwar nicht der Ort sein, auf alle
korrespondierenden Umstände einzugehen und sämtliche Divergenzen erschöpfend zu
behandeln, dennoch muss man sie immerhin streifen, um die ganze Sprengkraft zu
ermessen, deren Druckwellen jeden möglichen Konsens einebnen werden – oder
schlicht erübrigen.
III.
Europa und der Islam – über
dieses Spannungsverhältnis ist in den letzten Jahren doziert worden bis an den
Rand der Schwadronage, und je mehr die alltäglichen Ungereimtheiten und
Kalamitäten zunahmen, umso peinlicher gerieten die gelehrten Verrenkungen
derer, die um jeden Preis ein Utopia des Gleichklangs, des schönen Ausgleichs
sannen. Wer dem nicht folgen wollte, war schon fast des Teufels. Er setzte sich
Verdächtigungen aus und wurde – und wird! – Zeuge einer seltsamen
Arbeitsteilung zwischen den tonangebenden Eliten auf der einen und muslimischen
Verbänden auf der anderen Seite, die bloße Kritik zur frechen Voreingenommenheit
erklären und einen möglichst keimfreien, fast klinisch anmutenden Umgang mit
der Problematik einfordern, die eigentlich keine sein sollte und durfte. Jene
dubiosen Verbände, die sich recht unbekümmert anmaßen, für ihre Klientel nicht
nur zu sprechen sondern ganz konkret in unterschiedlichen Lebenslagen zu
entscheiden, ja zu gebieten, funktionieren fast ausnahmslos wie taktische
Geheimbünde und nutzen, zugegeben, sehr geschickt die rechtstaatlich
garantierten Freiräume, derer sie in den Ursprungsländern entbehrten, weil dort
autokrate Strukturen herrschen, die einzig jene gesamtstaatliche Stabilität
garantieren ohne die alles sofort auseinander bräche.
Vertreter muslimischer Vereine
sind nun hauptsächlich damit beschäftigt, sich und ihresgleichen zu bedienen,
ja sie sehen überhaupt in allem vornehmlich, beinahe ausschließlich sich selbst
und das jeweils ´Andere´, ja überhaupt die ´Anderen´ nur im Blick auf ihr
Eigenes, das heißt, zu Ende gedacht, den jeweils eigenen Nutzen, der alle
übrigen Dringlichkeiten stur ausblendet. So im Sozialen, so immer auch im Blick
auf die eigene kulturelle Justierung. Ob zusätzlicherKoranunterricht, muttersprachlicher
Erweiterungskurs, eine weitere Moschee, ein zusätzlicher Gebetsraum in
Universitäten, eine ´Schweinefleisch-freie Zone´, der Burkini für den
Schwimmunterricht oder eine noch etwas
mildere, auf mentale Eigenheiten Rücksicht nehmende Rechtsprechung bei
Ehrvergehen: in allem liegt der Focus auf der kulturellen Verortung (die doch
ohnedies vom geltenden Grundgesetz ausreichend bedient wird) und offenbart so jene
recht-staatliche Einbahnstraße, die den Intensivtäter zum gesellschaftlichen
Opfer umlügt und die Lehrstellen-Ebbe als Folge interkultureller Diskriminierung
in den Diskurs zwingt. Jene berüchtigten Zwangsheiraten werden entweder totgeschwiegen
oder zu bedauerlichen Ausnahmen erklärt (was eine Auseinandersetzung schon überflüssig
macht?). Die Probleme sind gewaltig, aber das schert kaum, solange man nur das
eigene Programm um, - und durchsetzt. Ich werfe diesen Leuten ihr mangelndes
staats-bürgerliches Verständnis nicht vor, wo hätten sie das schon lernen,
leiden – leben wollen. Und um nicht immer nur den Zeigefinger auf andere aus zu
strecken: wer fühlte sich denn von uns ´Hiesigen´ noch dem Gemeinwohl
verpflichtet, wo doch alle Welt nur von Selbstverwirklichung und individuellen
Rechten blökt, ohne die Allgemeinheit zu berücksichtigen, die ein wichtiges
Fundament bildet, damit jeder sein eigenes Glück auf faire Weise suchen und
finden kann? Muslimische Vereine zimmern sich dieses Fundament jenseits gesamtgesellschaftlicher
Belange und definieren sich allenfalls in Abgrenzung zur Gemeinschaft der
´Ungläubigen´ - leider. Das ist das eigentliche Problem: alle gären im eigenen
Saft und keiner wird ernsthaft in die Pflicht genommen, über die Köpfe der
Leute hinweg entscheiden beiderseits Verbände und Funktionäre und arbeiten so
der allgemeinen Malaise vor. Sie tun es, muslimischerseits, mit Verve und Geschicklichkeit
und bei der Gelegenheit zeigen sie überdeutlich, was ihnen ihre Kultur, ihre
Religion wert ist. Vertreter anderer Glaubensbekenntnisse oder kultureller
Einheiten, sie mögen europäischen, asiatischen oder sonstigen Ursprungs sein,
sind in der Durchsetzung eigener Substanz sehr viel unauffälliger und
bescheidener. Gesonderte Gebetsräume für Malaien, slawisch Orthodoxe oder Hindus?
Geschenkt. Nicht, das die ihre Riten völlig vernachlässigten oder der eigenen Religion
zur Gänze abgeschworen hätten. Sie nehmen das alles nur nicht so wichtig – so
stockernst. Und darob kommt die Medienmeute auch ganz gut ohne sie aus.
Überhaupt: die Medien. Die
veröffentlichte, genauer: verordnete Meinung, bleibt in Sachen Islam betont
einseitig und staut den Gegenstrom solange, bis seine Flut sich unkontrolliert Bahn
bricht. Die globalisierte, multi-ethnische Welt soll komplizierter und
vielgestaltiger geworden sein, so wird uns ständig versichert. Das trifft nun
gerade auf die gängige Meinungsbildung immer weniger zu. Hat jemand etwa den
Schneid, öffentlich den Islam zu kritisieren und hat er, mehr noch, damit
Erfolg, schimpft man ihn einen Rechtspopulisten; aus der Nummer kommt er nicht
mehr heraus. Andererseits: nimmt ein frommer Moslem seinen Glauben wirklich ernst,
nimmt er wörtlich, was das ´ungeschaffene Wort des Einzigen´ ihm auferlegt, ist
er gleich Fundamentalist oder, noch peinlicher, Islamist. Letzterer hat
natürlich mit dem eigentlichen, demwahren Islam nichts zu tun,
während der Rechtspopulist sich aus der Gemeinde der guten, echten Demokraten -
der Gutmenschen - verabschiedet; automatisch. Gebetsmühlenartig wird beteuert,
es gebe nicht den Islam, aber wenn
man seine teils unbekömmlichen Spielarten kritisiert, stimmt das nicht mehr,
dann gibt es nur noch den einen, natürlich eigentlich friedlichen, toleranten
Islam. Nebenbei: Toleranz – das ist ein klassischer abendländischer Begriff,
mit tiefen Wurzeln im christlich-jüdischen Mutterboden; hart errungen und, was
seine Geltung betrifft, immer noch gefährdet, kränkelnd, ´auf Probe´.
Daszugrundeliegende Verb tolerieren wurde im 16. Jahrhundert dem
lateinischen tolerare („erdulden“) entlehnt. Dieses Wort meint ganz
gewiss etwas anderes, als das, was ein islamischer Rechtsgelehrter darunter
verstünde. Das gilt auch für den Frieden selbst, von dem Bassam Tibi, selbst
entfernter Nachfahre der Prophetenfamilie, weiß, das er nur innerhalb der
Gemeinde gläubiger Muslime gilt; einzig dort und nirgends sonst. Das sind eben
Unterschiede im Begrifflichen die das Reale überhaupt erst bilden, und warum
sollte man so etwas nicht mehr sagen dürfen?
Der Islam kritisiert nie sich
selbst, soweit es sich nicht um jeweils widerstreitende konfessionelle
Auslegungen handelt; dort geht die Kritik umgehend in echte Feindschaft über. Der
Kern bleibt absolut unangetastet und wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit
gegen die jeweilige Mehrheitsgesellschaft behauptet, das heißt SIE wird
kritisiert; nie umgekehrt. Die Lehre beschäftigt sich solcherart nur mit sich
selbst, auch und gerade in der Diaspora, was insofern schmerzt, weil dadurch
diejenigen der Glaubensbrüder, - und Schwestern, denen Integration kein
unverbindlicher Allgemeinplatz mehr ist, zunehmend in die Isolation geraten.
Isoliert ist, so gesehen, der ganze stolze Glaube selbst, der schon seinerzeit
in der Abgeschiedenheit der Wüste wuchs und wurde. Er ist sich selbst ganz
selbstverständlich geblieben, könnte man sagen. Das wird seine rasante, staunenswerte
Ausbreitung wenigstens zum Teil begünstigt haben, die hauptsächlich mit dem
Schwert erstritten wurde.“ Sein Stolz
ist, das er eben der Islam ist,“ notierte Jacob Burckhardt ganz salopp in
seinen ´Weltgeschichtlichen Betrachtungen´ (BURCKHARDT, Stuttgart 1955, S. 111).
Nirgends haben sich die Eroberer den vorgefundenen gesellschaftlichen Rahmen
auch nur im Ansatz zueigen gemacht, sie haben nach eigener Auffassung geherrscht
und dies auf bewährt resolute, unmissverständliche Art. Das ist nun weder
selbstverständlich noch ein per se orientalisches Phänomen. Es ging aber auch
anders. In der Antike griff das römische Imperium früh die kulturellen Versatzstücke
der alten Griechen auf und vermengten diese ganz geschickt mit eigenen
Auffassungen und Konzepten. Selbst aus den Horden Dschingis Khans wurden,
salopp gesprochen, biedere, brave Chinesen, die im Meer dieses alten, etwas
behäbigen Kulturvolkes fast völlig aufgingen. Derlei ´Austausch´ konnte
oberflächlich oder intensiv erfolgen, aber er fand statt, und das es die
Eroberer selbst waren, die so taten, frappiert stets von Neuem. Meist lief es
genau andersherum. So schätzten die europäischen Eroberer des
nordamerikanischen Kontinents die Kultur der indianischen Ureinwohner nicht nur
völlig gering (sie hätten gar nicht von einer gesprochen), im Verlaufe ihrer
blutigen Landnahme drängten sie diese förmlich an den Rand und im Ergebnis wurde
sie vollständig vernichtet.
Nun ist im Falle des Islam viel
von ´Blütezeiten´ und ´kulturellen Höhen´ geredet und geschrieben worden; so
gebetsmühlenartig, das kaum mehr geprüft wird, was sich tatsächlich hinter
dieser hochtrabenden, Meinungsbildenden Dauer-Überlieferung verbirgt. Im
Folgenden berufe ich mich daher (nicht ausschließlich, aber absichtlich) auf
zwei verlässliche ´Schutzpatrone´, deren Anmerkungen zum Thema als ´sauber´
gelten können: dieser gilt als Nestor der modernen Orientalistik, jener ist
sowohl akademisch als auch journalistisch ´beschlagen´. Peter Watson,
Kulturhistoriker von Rang, am renommierten Mc Donald Institute for
Archaeological Research der Universität Cambridge tätig, hat eine universale
Ideengeschichte verfasst (P. WATSON: Ideen. München 2008). Sie befasst sich mit
den überlieferten Kulturdekaden der Menschheitsgeschichte. Vor diesem
Hintergrund beleuchtet er auch den Islam, dessen Werden und Wirken betont
positiv, ja schmeichelhaft gerät. Desmond Stewart, Grandseigneur der
angelsächsischen Arabistik, hat in seiner klassischen Studie über die
mohammedanische Staatenwelt ein gleichsam freundliches, ja gewinnendes Bild des
Islam gezeichnet (D. STEWART. Islam. Hamburg 1972). Es spricht für ihn, das er
auf ausgedehnten Reisen viele Jahre lang den mittleren Osten studiert hat und
vor Ort mit Sitten und Gebrächen in Kontakt kam, über die andere ´Experten´
gern von jeweils anderen (ab)schreiben. Stewart war auch im irakischen Unterrichtsministerium
tätig und lehrte dann im Libanon. Ich zitiere also bewusst aus seinem Werk.
Auch er beschäftigt sich mit jener ´kritischen Phase´, die einen Teil der Umma
im neunten Jahrhundert kurz erschütterte. Es waren jene Mutalisiten, die den
ungeheuren Frevel begingen, das heilige Buch mit den Mitteln griechischer Logik
zu exegieren – fast eine säkuläre Exekution. Das ´Treiben´ dieser Sekte währte
aber nicht lang:“ Etwa 22 Jahre lang
genoss diese rationalistische Denkweise die offizielle Unterstützung,“ (STEWART,
S. 96-97). Dann hatte es sich schon. Der Kalif Ma´mun trat zwar offiziell für
diese Lehre ein, aber das Volk mochte ihm nicht folgen (das man den ´Reformer´
kurzerhand meuchelte erwähnt der Autor nicht). Im übrigen verlief dieser
´Schwenk´ nicht so, wie man es sich üblicherweise im Westen vorstellt. Ma´mun
selbst kam nicht über den Verstand, mehr über die Vision zur neuen Überzeugung,
denn angeblich erschien ihm Aristoteles im Traum; das erinnert eher an
religiöse Erweckung denn an eine rationale, vernunftorientierte Erarbeitung der
neuen Lehre. Somit erhob der Kalif das neue Weltbild kurzerhand „ zur Staatsreligion und verkündete eine neue Lehre.“ (WATSON; S. 449). Das
wissenschaftliche Weltbild wurde nicht zum Antipoden der religiösen Erweckung,
es trat vielmehr als neue, allein gültige an deren Stelle.“ Es lässt sich leicht vorstellen, welche
Bestürzung diese religiöse Umkehr hervorrief, vor allem, da al-Ma´mun auch noch
die mihnahl ins Leben rief, eine Art Inquisition, die jedem dem Prozess machte,
der nicht bereit war, der neuen Lehre zu folgen.“ (WATSON, ebd.). Die war
im Volke aber von Anfang an nicht sonderlich populär. „Im Jahre 849 wurde der öffentliche Widerstand dagegen so groß, das der
Kalif Muttawakkil die offizielle Politik revidierte und den Traditionalisten
den Sieg zusprach.“ (STEWART, S.97). Aber noch etwas muss erinnert werden,
will man die Vorgänge im ´goldenen Bagdad´ richtig einordnen. Die Übernahme
antiken Gedankengutes geschah, nehmen wir die Ketzer von den Mutalisiten aus,
auf höchst selektive Art und Weise. Denn die muslimischen Gelehrten
interessierten sich“ mehr für praktische
Dinge, und es waren vor allem die Werke der griechischen Ärzte, Astronomen,
Mathematiker und Geografen, die erneut in arabischem Gewand erschienen.“(STEWART,
S.96). Jacob Burckhardt sprach von der ´Totalität
des Geistigen´, zu welcher man nie wirklich durchdrang und“ Unfähigkeit zur Wandelung, zur Einmündung in
eine andere, höhere Kultur war auch hier (er meinte die Omajadan) das Ende.“ (BURCKHARDT, S. 102). Die
vielgerühmte, vielgepriesene Omajadendynastie war sowieso geprägt von dauernden
Machtstreitigkeiten, wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, vor allem
auch ständigen, das öffentliche Leben lähmenden politischen Wirren und ein verschwenderischer
Luxus der Herrscher konterkarierte ein mal mehr die Vorschriften des Propheten
(STEWART, S.78 – 81). All dies passt kaum in das harmlose, human gefärbte Bild
jener Orientalisten, die seit je nur die schöne Fassade gelten lassen wollen,
der das Kalifat von Cordoba seinen alleinigen Ruhm verdankt. In unserem
Zusammenhang ungleich wichtiger: die islamische Blütezeit schöpfte gerade dort,
wo ihr der Rang einer Hochkultur zugesprochen wird, nicht aus der eigenen Tradition und bei Übernahme antiken Wissens
spielte die religiöse Überlieferung (Suren, Hadithe etc.) gar keine Rolle.
Beides blieb getrennt voneinander, der praktische Zugriff brachte das tradierte
Fundament nicht ins Wanken. Mühselige ideelle Metamorphosen und dialektische
´Ringkämpfe´, wie sie der abendländischen Geistesgeschichte eigen waren, fanden
hier nicht statt. Und damit ist es an der Zeit, einen weiteren, höchst
unverdächtigen Gelehrten zu Wort kommen zu lassen: “ Das Arabertum und die aus seiner Ausbreitung erwachsene Kultur des Islam
hat im Gegensatz zu der langsamen und dann auch lang anhaltenden
Entwicklungsdauer und Schöpferkraft des germano-romanischen Abendlandes seine
stärkst nachwirkende höchste Produktivität schon etwa 100 Jahre nach dem Beginn
der Eroberung, und diese hält sich nur kurz in der Höhe. Sie ist eingeschlossen
als arabisch-islamische in die Zeit von 750 – 1050.“ (Alfred Weber:
Kulturgeschichte als Kultursoziologie. München 1960. S. 223 – 224). Zu einer
Zeit also, als in Mitteleuropa die ersten Kathedralen entstehen und sich
bereits die Renaissance ankündigt, fiel der Islam in eine eigentümliche Starre,
die seit nunmehr tausend Jahren anhält.“ Die
Religion des Islam hat bis heute eine ungebrochene, das Dasein stets in beinahe
unerreichter Weise formende Kraft und also Langlebigkeit bewahrt.“ (WEBER,
S. 224). Ich zitiere nicht ohne Grund den fast schon in Vergessenheit geratenen
Soziologen, der unverdienterweise nie aus dem Schatten des großen Bruders
heraus treten konnte. Merkwürdige Überschneidung korrespondierender
Anschauungen: der arabische Gelehrte Ibn Chaldun (1332 – 1406) gilt als früher
Vorläufer einer soziologisch fundierten Betrachtungsweise. Er war fast immer
auf Reisen und pflegte engen Kontakt zu Gelehrten aus Indien und Fernost.
Chaldun diagnostizierte als erster jenen Zustand der Erstarrung, den auch Weber
meint, und sein eng an Aristoteles geschulter wissenschaftlicher Zugriff mutet
insofern modern an, als das er, selbst Zeuge des resultierenden Niedergangs,
eine umfassende Faktorenanalyse wagte, die an Arbeiten von Adam Smith oder
Robert Malthus erinnert. Nach Chaldun ist es ganz wesentlich die weltliche
Macht (mulk) und ihr Erhalt, die als Grundlage jeder geordneten,
fortschreitenden Zivilisation gelten muss. In diesem Zusammenhang noch einmal
Weber:“ Es gibt auf der Westhemisphäre
heute keinen Menschentypus, der in gleich starker Art von seiner Religion
gestaltet wäre wie der Moslem; nicht nur äußerlich im Wege der Vielzahl täglich
geübter Ritualhandlungen, auch in der seelischen Haltung unaufgelöst geprägt.“ (ders.:
ebd.). Noch deutlicher wird Peter Scholl-Latour, der in seinem Buch ´Das
Schlachtfeld der Zukunft´ im Gespräch mit einem persischen Professor folgenden,
bezeichnenden Passus heraus destilliert:“ Ob
wir es wollen oder nicht und so weh es uns tut, was man in Europa den
Fundamentalismus nennt, das ist der wahre Islam. Ohne strikte Anlehnung an die
islamische Unfehlbarkeit, das hat die Geschichte gelehrt, läuft die islamische
Gesellschaft ins Leere. Sie verliert ihre Orientierung. Die Perfektion des
Koran unterscheidet ihn unwiderruflich von
den vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten der Evangelien.“ (SCHOLL-LATOUR:
Das Schlachtfeld der Zukunft. Berlin 1996. S. 291). Peter Watson:“ Da Gott der islamischen Sicht zufolge eine absolut perfekte Welt
erschaffen hat, bleiben für den Menschen praktisch keine Möglichkeiten mehr,
selbst etwas zu erschaffen: der Mensch kann die göttlichen Schöpfungen
bestenfalls verzieren (dazu unten noch etwa mehr). Und daraus folgt, das Verzierungen, Verschönerungen und Ornamentik
nicht als die Ergebnisse von kreativen Ideen oder gar als Verbesserungen des
Gottesgeschenkes, sondern immer nur als eine Möglichkeit gesehen werden, Gott
zu ehren und zu verherrlichen.“ (WATSON, S. 435) Es sind ja gerade jene
fünf Säulen des Koran, die nur als Riten funktionieren und auch ausdrücklich
als solche stete und strikte Geltung beanspruchen. Aus westlicher Sicht mag das
stolz und stur, starr und arretiert anmuten, und vielleicht ist diese Erweckung
insgesamt zu fest und verriegelt, um einmal von Herzen loslassen zu können, was
ihren Anhängern wiederum die Möglichkeit gäbe, doch etwas freier werden zu
dürfen. So bleibt es auch mehr als fraglich, ob die nach Europa eingewanderten
Muslime das demokratische Modell gegen die Gewissheiten eigener Überlieferung dauerhaft
eintauschen können, ja überhaupt nur in einen Prozess der Angleichung oder
Relativierung geraten dürfen, blendet
man den Rigorismus begleitender Vorschriftennicht bequem aus. Zu einer Symbiose beider Entwürfe wird es wohl kaum
kommen, denn was bliebe dann schon von der ursprünglichen, sich fest und
unverrückbar gebärdenden Lehre übrig? Die Wort,- und Schriftführer
divergierender Ansätze sind denn auch zeitlebens in arge Bedrängnis geraten,
etwa jene vielgerühmten Averroes oder Avicenna:“ Sobald sie sich auf das heikle Thema der Theologie begaben und die
koranische Unantastbarkeit Mohammeds auch nur punktuell in Frage stellten,
mussten sie um ihr Leben bangen.“ (SCHOLL-LATOUR, S. 291). Diese legendären
Gelehrtengestalten werden uns doch immer als Speerspitzen eines
fortschrittlichen, unseren eigenen Vorstellungen von ´Entwicklung´
entsprechenden Islam angedient, aber wer will schon wahrhaben, das sie,
Ideengeschichtlich, im Vakuum operierten und im Ergebnis den erratischen Block
der Verkündung nicht einmal im Ansatz haben umgestalten können? Denn sie
durften nicht, wiewohl sie sicher wollten. Am Ende muss man fragen, woher denn
tatsächlich die wesentlichen Impulse kamen, die der islamischen Welt immerhin
kurzzeitig progressive Momente bescherten. Im schillernden Bagdad jener Zeiten
tummelte sich mancherlei Volk:“ ihre
besondere Lage machte die Stadt problemlos erreichbar für Inder, Syrer und –
was am wichtigsten war – Griechen und
Menschen aus der hellenisierten Welt. Von besonderer Bedeutung war auch, das
nicht weit entfernt im südwestpersischen Gondischapur bereits ein
beeindruckendes Gelehrtenzentrum existierte, in dem im 5. Jahrhundert auch
viele Nestorianer vor den Ketzerverfolgungen des byzantinischen Reiches
Zuflucht fanden und das Geistesleben zu neuer Blüte brachten.“ (WATSON, S.
438) Es waren eben nicht islamisierte Araber, von denen jene vielgerühmten
bahnbrechenden Impulse ausgingen, sondern die von der Geschichte fast schon vergessenen
Christologen. Gondischapur geriet so zum Nabel umfassender Gelehrsamkeit, auch
und gerade die exakten Wissenschaften betreffend, derer sich später eine
schmale Kaste muslimischer Gelehrter eifrig bemächtigte. Die Vorarbeit
leisteten andere. Nachdem die Stadt 638 „von
den Arabern erobert wurde, begannen die Gelehrten auch die Sprache ihrer
Eroberer zu erlernen und bald schon große Mengen von medizinischen,
geometrischen undanderen
wissenschaftlichen Handschriften aus dem Griechischen und Indischen ins
Arabische zu übersetzen.“ (WATSON, ebd.). Fazit:“ Die Idee, wichtige fremdsprachige Handschriften zu übersetzen, war
alsoin einer christlich-jüdisch-pagan
geprägten Atmosphäre entstanden. In der arabischen Welt hatte es dafür weder
Vorbilder noch Traditionen gegeben.“ (WATSON, ebd.) Insofern ein Glück, das
später besagter Ma´mun im Anschluss an seine ´Aristoteles-Erscheinung´
beschloss,“ Abgesandte bis nach
Konstantinopel zu schicken, damit sie so viele griechische Handschriften auftrieben wie nur möglich, um diese dann in
einem eigens errichteten Zentrum in Bagdad übersetzen zu lassen.“ (WATSON,
S. 439)
Kommen wir auf konkrete Beispiele
zu sprechen. Wie verhält es sich etwa mit den ´arabischen Zahlen´, 1 bis 9? „ Um das Jahr 711 traf ein indischer Reisender
mit der astronomischen Abhandlung Siddhanta im Gepäck in Bagdad ein.(…) Auch
ein Traktat über Mathematik hatte der Reisende bei sich. Dieser Abhandlung
verdanken wir unsere bis heute gültige Ziffernschreibweise der Zahlen 1 bis 9.“
(WATSON, ebd.). Das gesamte Werk wurde erst spät von al-Fazari ins
Arabische übersetzt (WATSON, ebd.). Es waren von Anfang an eben jene
Nestorianer, die unermüdlich aus alten Krügen schöpften, indem sie fleißig
übersetzen und auf diesem Gebiet auch leitend tätig waren (WATSON, S. 440, ff).
In summa:“ Naturforschung und Philosophie
waren in islamischen Ländern häufig das Werk von Syrern, Persern und Juden. Die
islamische Theologie, inklusive des kanonischen Rechts, stammte hingegen
hauptsächlich von Arabern.“ (WATSON, S. 447) Diese Leute sorgten dann für
die als wesentlich erachtete, eben nicht
an weltlicher Vielfalt orientierter Bandbreite des Wissen:“ Das Qur´an-Studium beherrschte auch die
Lehrpläne der Schulen in der früh-islamischen Welt. Der Kern des Curriculums
bestand im Auswendiglernen von Qur´an und Hadith (…) Schreiben lernten die
Schüler anhand von säkularen Texten, damit die heiligen Texte nicht durch
Fehler geschändet wurden.“ (WATSON, S. 448). Zeigt das nicht überdeutlich,
was wirklich wichtig blieb und oberste Priorität genoss? Man kann es auch ganz
salopp, ja banal an Beispielen aus der Gegenwart fest machen, am Alltag, den
jeder von uns mittlerweile kennt. Nehmen wir den Schwimmunterricht. Was ist
Ziel und Zweck dieser Übung? Worum geht es vorrangig beim Schwimmen? Darüber
können noch so dicke Bücher geschrieben werden: einen strenggläubigen Muslim
interessiert im Zweifel nur, ob der Burkini hält, was er verspricht. Ansonsten muss
das Mädchen eben fern bleiben. Nicht die Inhalte zählen, nur die peinliche
Angleichung an alte, unverbrüchlichen Normen. Mir ist es auf einer
Gesamtkonferenz klipp und klar zu verstehen gegeben worden: solches gilt als
´kulturell bedeutsam´ und muss, durch ein Gerichtsurteil zusätzlich
konsekriert, ab sofort akzeptiert werden.
Die rabiatesten Vertreter koranischer
Gesinnung kritisieren heute ganz offen das westliche Modell und nutzen dennoch
geschickt jede Möglichkeit, die ihnen opportun scheint; die sich ganz konkret anbietet,
um dem System zu trotzen. Hier offenbart sich der Zwiespalt, das leidige
Dilemma. Sowohl in der Diaspora als auch heimwärts profitieren sie wie
selbstverständlich von den Errungenschaften der ´Ungläubigen´ und lehnen doch alles
übrige, über diesen ´praktisch-weltlichen´ Aspekt hinaus greifende Potential ganz
unbekümmert ab. Das geschieht auf krasse und nahezu perfide Weise in den
sogenannten Golfrandstaaten, am auffälligsten in Saudi-Arabien. Hier herrscht
im Alltag das wahabitische Mittelalter, eine extrem strenge, archaisch
anmutende Auslegung der koranischen Lehre. Der unverdiente Öl-Reichtum verleitet
dennoch zu protzigen, prunkenden Bauten und beschert einer schmalen Kaste einen
Lebensstil, der nach islamischem Selbstverständnis eigentlich als verkommen
gelten muss. Die Technologie-Transfers vollziehen sich unter Ausschluss jeder schöpfenden
(und nicht bloß empfangenden) Teilhabe; man(n) kauft sich eben ganz bequem in
alles ein, lässt bauen, fördert (unter kundiger Anleitung) schwarzes Gold und
bleibt selbst auf gefällige Art arretiert, von jeder echten Neuerung völlig
unberührt. Übrigens: die vielen, allzu vielen Moscheebauten in Übersee, in
Europa und der übrigen islamischen Welt werden von hier aus finanziert, und ihre
´Spender´ arbeiten damit ganz gewiss nicht einem moderaten, modernen Islam vor,
von dem hierzulande dauernd geredet wird. Im Gegenteil: die wahabitische Herrenkaste
exportiert solcherart einen extrem rigiden, oder wie der Westen gern sagt:
fundamentalistischen Islam, der sich eher schleichend in den Metropolen der
alten Welt ausbreitet.
Ein Totschlag-Argument, das gern
gebraucht wird, um jede Kritik am Islam schon im Ansatz zu unterbinden, lautet,
das nur ein Muslim selbst diesen Glauben kompetent beurteilen kann, weil nur er
ihn wirklich lebe. Es sind dann die Funktionäre, Rechtsgelehrten und sonstige
´Rechtgläubigen´, die hier kraft eigener Autorität die ´Wahrheit´ sprechen. Ein
wohlmeinender Orientalist ist meist für die ´weiche´ Seite der Auslegung
zuständig und ein ´Kritiker´ kann, ist er ´Ungläubiger´, sofort einpacken – ist
er Muslim, kann er es ganz und gar; wortwörtlich verstanden. Aber ist nicht der
unvoreingenommene, oder besser: ideologisch unbelastete Zugriff mindestens
ebenso reizvoll? Jemand, der frei von allen Zwängen und Gewissheiten ein
Phänomen betrachtet (er muss es ja gar nicht kritisieren), eben ganz bewusst
und betont von außen, kann doch, finde ich, zu mindestens ebenso interessanten,
vor allem neuen und eher unbeachtet gebliebenen Erkenntnissen kommen, die dem
´im Glauben ruhenden´ oder bewundernd Betrachtenden gerade nicht offenbar
werden. Beispiel Europa: im ausgehenden Mittelalter kam der kritische, das
Säkuläre zäsierende Impuls noch aus dem sakralen Raum selbst. Bruno war
Dominikaner, Descartes entstammte dem Jesuitenkolleg. Später dann, vor allem im
bürgerlichen 19. Jahrhundert, waren es die Philosophen vom Schlage eines
Feuerbach oder Marx, die der christlichen Lehre zu Leibe rückten; wer dächte
heute noch an Schleiermacher oder Harnack? Die konnten eben eine bestimmte
Linie nicht überschreiten. Das hat man im Europa des 21. Jahrhunderts immer
noch nicht begriffen: ein kritischer Exkurs im Sinne eines wirklich umfassenden
Diskurses kann nur scheitern, geht man den Klerikalen ständig auf den Leim.
Immer wieder wird, ich sagte es schon, von ´den Muslimen´ gesprochen, als sei
die religiöse Subsumierung vollendetes Schicksal; als Ergebnis eines
festgefahrenen Fatalismus. Das ist bei Europäern oder Asiaten eben nicht mehr
der Fall (man sagt etwa Inder und nicht Hinduist; man sagt Kroate und nicht Katholik).
Muslime wollen aber gerne in erster Linie als Angehörige koranischen Glaubens
gesehen und geachtet werden und daraus leitet sich nicht selten die stolze
Abwehrhaltung ab, die immer gepaart ist mit jenem Anspruchsdenken, demzufolge
man als Muslim eben das Recht habe, an die Ungläubigen Forderungen zu stellen.
Die reduzieren sie so auch auf eine
religiös-kulturelle Stufe. Am Ende kommt dann die Rolle der Dhimmis dabei
heraus. Das führt zusätzlich zur Verhärtung der monolithischen
Betrachtungsweise und zeitigt lauter alternativlose Allgemeinplätze, die sich
umso vorzüglicher instrumentalisieren lassen, je besser man die wunden Punkte
der anderen Seite kennt. Woher kommt es denn, das immer häufiger damit
kokettiert wird, man gehöre zu einer verfolgten und verfemten Minderheit? Das
zieht natürlich, gerade im post-faschistischen Europa, aber es wird dann doch
eine echte Realsatire draus, gehen die Ankläger zu Vergleichen über, die so
grotesk sind, das es einen nur noch schüttelt. Es ist doch an Absurdität gar
nicht mehr zu überbieten, wenn – ein Beispiel – in einer Ganztagsschule in
Betzdorf eine Lehrerin muslimischen Schülern versehentlich Schweinefleisch
´zumutet´ und diese ´Tat´ dann zur bösen Absicht erklärt wird und in einem
weiteren Schritt als echte Diskriminierung in die Gazetten eingeht. Der
´Schnitzel-Krieg´ schlug Wellen, die Lehrerin wurde schleunigst entfernt und
darob achtete man im pfälzischen Ghetto umso strenger darauf, die
Reinheitsgebote muslimischer Schüler wieder voll ein zu halten. Aber jetzt
kommt das Beste, der kulinarische Nachschlag sozusagen: man verglich die
´Opfer´ dieser Verfehlung mit den Juden des dritten Reiches. Eigentlich lohnt
kein weiteres Wort, aber so einen Vorgang nur mit müdem Achselzucken zu
quittieren gilt denn auch nicht. Mal abgesehen davon, dass behaupteter
Antisemitismus gerade innerhalb muslimischer Lebenswelten latent, ja notorisch
ist, kann man nicht gerade behaupten, das die im Deutschland der Dreißiger
Jahre lebenden Juden irgendwie auffällig geworden wären. Mir ist jedenfalls nichts
von jüdischen Gewaltgangs oder Intensivtätern bekannt, Hasspredigten in
Synagogen fanden, meiner Kenntnis nach, auch nicht statt und ich wüsste kaum,
das die mehrheitlich voll assimilierten Deutsch-Juden in Verbänden und Vereinen
ihre religiösen Rechte eingefordert hätten. Womöglich gab es ja doch das eine
oder andere schwarze Schaf, irgendeinen durchgeknallten Berliner
U-Bahn-Schläger, der dann später vom Volksgerichtshof nach der achtzehnten oder
zwanzigsten Attacke zu zwei Wochen Sozialdienst verdonnert worden wäre – oder
auch nicht. Schauen sie: es ist weniger peinlich, dass derlei Behauptungen
kursieren; sehr viel mehr verblüfft doch der Umstand, das sie zu ernsthaften
öffentlichen Debatten führen, die der Gegenseite zig Verbeugungen und Knicks
abverlangen; wie bei Hofe.
Die sogenannten ´Gutmenschen´
fordern in vorauseilendem Übereifer nahezu grenzenlose Toleranz, geht es um den
Islam, der wiederum, als rigorose monotheistische Erweckung, die totale
Unterwerfung unter den Willen des Allmächtigen verlangt. Kann, ja darf es einen
toleranten Islam eigentlich geben? Schon im Koran ist von Ungläubigen die Rede; nicht etwa Andersgläubigen. Die etwas gelehrteren unter den ´Verstehern´, andauernd
um Ausgleich um Schadensbegrenzung bemüht, negieren gleichsam hartnäckig solch harte,
unmissverständliche Fakten. Wenige Westler nehmen diesen Glauben ja so ernst,
wie er sich selber immer ernst genommen hat; ein heiliger, unerbittlicher
Ernst, der den säkularen Europäern abhanden kam, denn man hat selbst nur üble
Erfahrungen damit gemacht.
IV.
Was bis hierhin deutlich geworden
sein müsste: der Islam als solcher ist, unabhängig von der jeweiligen
Anhängerschaft und den entsprechenden Spielarten, seiner je unterschiedlichen
Bedeutsamkeit in einzelnen Fällen oder auf ganze Kollektive bezogen, ein
insgesamt problematischer, in höchstem Maße zwiespältiger Import. Es geht eben
nicht darum, kollektive Verdachtsmomente zu schüren oder Verallgemeinerungen zu
kultivieren; gerade hier geht es um die Sache selbst, und die bleibt, als eine
ganz wesentlich strikt und unnachgiebig ausgreifende Erweckung von
unterschiedlichen Zeitläufen ganz unberührt, stammt selbst aus einer anderen,
fremden Zeit, ist überhaupt eigentümlich zeitlos und dynamischen Veränderungen gegenüber gleichgültig, ja abweisend
eingestellt.
Will man eine Sache recht
begreifen, muss man einmal bis ganz an
den Anfang zurück gehen; es nützt nichts. Die arabische Halbinsel bildet den
Ausgangpunkt koranischer Erweckung. Eingekeilt zwischen den ältesten
Kulturzentren der Welt, ist sie doch von deren Wirken nie ernsthaft berührt
worden und hat dann, sechshundert Jahre nach
Beginn moderner Zeitrechnung, ganz plötzlich ihre eigene Erleuchtung in die
Geschichte gezwungen; in Form oder Gestalt einer Lehre, die ihrerseits den
unbeachtet gebliebenen Nachbarkulturen das eigene Diktum wie selbstverständlich
aufzwang. Was sagt ein solcher Vorgang nun aber über die Lehre selbst aus? Folgen
wir in diesem Zusammenhang noch einmal den Betrachtungen Alfred Webers, dessen
soziogenetischer Blick besticht, als wissenschaftlicher Zugriff stets neutral
bleibt und daher am wenigsten etwaigen wohlmeinenden Rücksichtnahmen oder agressiven
Angriffslustigkeiten verdächtig scheint.“ Der
Islam nimmt synkretistisch die ihm geistig und seelisch zugänglichen Elemente
des in Arabien von ihm aufgesogenen und alsbald auch dort von ihm bekämpften
Judentums und Christentums auf. Aber es sind nur die geistig am einfachsten zu
fassenden.“ (WEBER, S.228). Wie anders auch? Die umliegenden, in Saft und
Kraft gebärenden Hochkulturen versickerten förmlich im Wüstensand und hätten in
dieser feindseligen Umgebung auch kaum wachsen, werden – blühen können. Das
kann man den ansässigen Beduinen kaum vorwerfen und der Prophet wusste wohl
ganz genau, auf welche Weise er sie packen musste, um ihrer überhaupt Herr werden
zu können; um sie, als Begründer des Islam, unter eigenen Auspizien überhaupt gebrauchen zu können. Daher also:“ Innerlich alles einfach oder simplifiziert.
Und wenn man tiefer dringt: im Wesen primitiv.“ (WEBER, S. 229). Wir lassen
mal dahin gestellt sein, ob Weber damit schon irgendwen ´beleidigt´ oder
´verhöhnt´. Viel wichtiger, ja bezeichnender in diesem Zusammenhange der
folgende Gedanke:“ Eine
Nomadenreligiosität demnach, wie geschaffen zur Legitimierung einer großartigen
Wanderungsexpansion. Das baut nun auch Struktur und Lebensform des Islam auf,
die bleiben.“(WEBER, ebd.). Die bleiben! Es ist faszinierend, wie Weber in
wenigen, kurzen Strichen anhand der noch heute geltenden Riten und Gebräuche
haarklein nachweist, wie der rein nomadische Hintergrund das ganze System
bestimmt und im passenden historischen Moment (falls dieser in der
Abgeschiedenheit der Wüste als gegeben gesetzt werden kann) zur Wanderung – das
heißt: Eroberung – je angrenzender Gebiete führt… - führen muss. Er vergleicht dieser ´Kultur´ mit ihrem Antipoden, der
abendländischen Variante (aber auch die umliegenden Völkerschaften hätten,
denke ich, ausgereicht) und stellt Unterschiede heraus, die heute, in Zeiten
multikulturaler Gleichmacherei, keiner mehr sehen, wahrhaben möchte. Als
Beispiel etwa folgende Passage, die für sich spricht. Es sind wieder jene“ so oft zu wiederholenden, mit Rumpfbeugungen
verbundenen Gebetsübungen,“ die, zugegeben, eine einheitliche Disziplinierung in das unorganisiert und willkürlich
gewesene Dasein“ einführt. (WEBER, S. 230)“ Das ist ihre Kirche. Man kann sie eigentlich gar nicht eine solche
nennen. Denn die Gestaltung des Religiösen ist von dem Sozialen und Politischen
gar nicht abgesondert. Sie ist vielmehr der seelische Grund und die Form, in
der sich die ganze Lebensführung vollzieht und in der sie stets verbleibt.“ (WEBER,
ebd.). Es kann hier nicht der Ort sein, im Detail nach zu zeichnen, warum dieses ziemlich merkwürdige Gemisch aus
Beduineneinfachheit und den zwei sublimiert entfalteten Religionen (WEBER,
ebd.) sich ziemlich ungehemmt entfaltete; warum der nomadistisch stammesmäßig gewesene Islam in eine asiatische
Despotie (WEBER, S. 232) übergeht; warum das Aufgenommene (Weber meint die Kulturtragenden Einflüsse von
außen) den Islam selbst nicht in Ansätzen berührt - „es
dringt nicht zu seiner letzten Tiefe, in welche das Religiöse, ganz fest in
simpler Form geboren, eingebettet ist. Es löst und lockert auch nicht das
tragende rituelle Netz(…) es fasst nicht das Islamisch-Wesenhafte an“ (WEBER,
S.234); warum überhaupt die, wie wir sahen, selektive Beschäftigung mit dem
ungeheuren Erbe der Antike im ganzen
unoriginell, eklektisch bleibt und schon dadurch nicht geeignet ist, umwälzend
in das gelebte Dasein einzudringen“ (WEBER, S. 237); man kann es, wenn man
mag, selbst nachlesen und dann entscheiden, ob man Webers Fazit zustimmt oder
nicht:“ Dieser Islam blieb dasselbe
unveränderliche Urwesen; oder vielmehr: eine
Religion, man möchte sagen, des religiösen Minimums bei einem Maximum von
äußerer, formelhafter Ritualität.“ (WEBER, S. 238). Es ist jene
Unberührbarkeit, von der Weber glaubt, dass sie ganz wesentlich die Stärke des
Islam ausmacht:“Ohne irgendeine Mission breitet sich diese religiöse Formung als
beinahe einzige der Welt daher bis heute noch aus.“ (WEBER, S. 239).
Auch nach Europa, das dieser
resoluten Erweckung, alle blutigen Auseinandersetzungen der Vergangenheit
eingerechnet, bis heute standhielt. Sind nun im multiglobalen 21. Jahrhundert
derlei zum Teil gravierende und immer noch konstituierende Divergenzen
hinfällig, unbedeutend geworden? Es sind ja, nimmt man die Substanz, nach wie
vor nicht wenige; sie mögen umfassend oder nur mehr partiell Geltung genießen. Streifen
wir immerhin die wesentlichen und setzen wir den Vergleich.
Religion ist hier längst
Privatsache geworden, ephemere Beschäftigung Einzelner; dort ist sie
umfassendes System. Entsprechend fest und rigide bleibt die religiöse
Grundhaltung, hier hat ein alles umfassender, vor nichts Halt machender
Skeptizismus das Szepter übernommen. Die Mentalität ist demzufolge
kontinuierlich gespalten, ganz im Sinne einer dialektischen, oft faustisch
ausufernden Tradition, die weit in die Antike zurück reicht; dort aber scheint
alles wie eingeschmolzen (vgl. DAN DINER: Versiegelte Zeit. Berlin 2005). Das
Sakrale entwickelte sich im Abendland stets in direkter, unerbittlicher
Auseinandersetzung mit weltlicher Gewalt, dort ist alles eins; eben monolithisch.
Selbst die Mutalisiten neigten dem zu; sie wollten ihre ´Aufklärung´ gleich
wieder in eine offiziöse, dem Herrscher genehme Form zwingen. Wie ein Block
mutet auch das Kollektiv, der Stamm – der Staat selbst an; der Einzelne,
überhaupt das Individuum muss sich seinem Diktum beugen. Hier spiegelt und
prüft sich der Einzelne bis zum Exzess, dort weiß er sich noch geborgen im
Glauben, der stets gebietet. Christliche Lehre und koranische Erweckung sind
eben ganz wesentlich anders in Aussage und Gehalt – in Ton und Gebärde. Schlimm
oder falsch, wenn man es so direkt sagt? Ein frommer Moslem würde sich ohnehin
gegen gutgemeinte Angleichungen oder Anpassungen verwahren, trotzten sie seinem
Glauben auch nur etwas vom Wesentlichen ab.
Man hat sich im Laufe der Zeit angewöhnt,
christlichen und islamischen Glauben solcherart miteinander zu vergleichen, das
entweder an gegenseitige Kriege (im Namen des Heils) erinnert wird oder das ein
vermeintlich Gemeinsames als mildernder Umstand den fragwürdigen Ausgleich
erzwingt. Aber dieser Ausgleich mag sich noch weniger einstellen, stellt man
die zentralen Gestalten, als Künder des je verherrlichten Glaubens, einander
gegenüber. Halten wir uns nicht mit den Epigonen auf, nehmen wir uns gleich die
Lichtgestalten selbst vor. Die Überlieferung spricht eine klare, deutliche
Sprache. Der eine (Jesus) lehrte laut Überlieferung Entsagung; sein Reich sei nämlich
nicht von dieser Welt. Das bot später einen gewaltigen Raum für weltliche Gegenentwürfe,
ja die vielfältigen Möglichkeiten, die das nackte Leben bietet, die im Hier und
Jetzt überhaupt machbar waren, konnten unter Ausschluss sakraler Aspekte
gewagt, geprobt - angepackt werden. Diese Welt wollte der Nazarener in Demut
erduldet wissen, daher: gebt dem Kaiser was des Kaisers sei. Zuende gedacht
galt das dann für alle, die im Profanen den Aufstand probten.
Wie anders gebärderte sich der
Prophet, der aus der Wüste kam! Der stand, allen Visionen zum Trotz, voll im
Diesseits, führte Kriege und erließ Gesetze, machte Politik und schmiedete
handfeste, sehr irdische Pläne. Dem lag nicht daran, dass man ihm lausche, der
wollte, das man ihm, als Künder des Einzigen, Ewigen, gehorche, der wollte
erobern und tat es, der unterwarf und unterwies, unnachgiebig. Er hatte die Wahrheit, das Recht, die absoluten Richtlinien, ein für alle mal, auf Punkt
und Strich, und alle Wahrheiten überhaupt sind darin eingeschmolzen, ja
förmlich eingebrannt, ohne Abstriche, ohne Einbußen, komplett vereinigt und
alles übrige kann nur noch gottgefälliges Werk sein, eine Art Bringschuld vor
dem Absoluten, dessen Allmacht ewig gilt. Ab sofort war das Sakrale dauernd
gegenwärtig, immer dabei und nie außen vor. Hier trennte es sich langsam vom
dynamischen Geschehen, dort war es eigentliche Triebkraft allen Geschehens. Hier teilten sich die Zuständigkeiten; dort
bildeten sie eine Einheit. -
Man kann derlei Unterschiede auch
jeweils im Detail oder an bestimmten formalen Gegebenheiten mühelos nach
zeichnen. Oben war von Kirche die Rede, welcher der originäre Islam insofern
entbehrt, als das er im Sinne der Gewaltenteilung (vgl. die Idee der
Dreieinigkeit!) gar keine braucht. Eine Moschee ist, geht man von den
vielfältigen, nicht einzig sakralen Tätigkeiten aus, denen sie als ein
Versammlungsort Raum und Zeit schenkt, mehr
als eine Kirche; viel mehr. Andererseits hat sie, ästhetische und
ideengeschichtliche Aspekte eingerechnet, sicher weniger zu bieten: im
Wesentlichen ist das eine Halle mit Säulen, wobei die Repräsentationsbauten
nicht der ausladenden Ornamentik, als einer schmückenden Zierde entbehren. Das
reicht. Gar nicht unsympathisch, aber auch nicht umwerfend. Bei allem Respekt:
man vergleiche die Figurenlosen, sowohl von außen wie von innen eher nüchtern
und praktisch gehaltenen Bauten mit jenen gotischen Kathedralen, die noch von
der Renaissance als barbarisch empfunden wurden. Man kann diese vergeistigten,
hochkomplex gestalteten, an symbolischer und Formstrotzender Kraft schier
unfasslich ins Universale ausufernde Gebilde gar nicht zuende bewundern. Wer
wollte hier noch von einem Mittelalter sprechen? Was kam da eigentlich zum
Ausdruck, von strenger Wucht und beharrlicher Innigkeit durchdrungen, gewaltig
ausufernd und doch in feste Schemen gezwungen? Beide – Moschee und Kirche –
spiegeln ihr je Typisches, den originären Hintergrund; auf je eigene Weise.
Wie im Äußeren, Gestalthaften, so
stellt sich die Divergenz auch im Begrifflichen heraus, das der konkreten
Handlungsweise eigentümlich entspricht. Um nicht weiter im Monumentalen zu
verweilen: der gelebte Alltag bietet Beispiele zuhauf. Stichwort ´Ehre´. Muslime
haben eine höchst eigenwillige, recht selektive Vorstellung davon, was ´Ehre´
sei. Die mag enger, sicher aber auch zwingender und eindeutiger sein als das,
was sich ein ´Westler´ darunter noch vorstellen mag. ´Ehrenmorde´ fanden
zuletzt auf dem östlichen Balkan, zum Teil auch in bestimmten mediterranen
Enklaven statt; denken wir an Korsika oder das montenegrinische Hochland. Derlei
archaische Bräuche sind aber an ihr Ende gekommen, und es mutet etwas
merkwürdig an, wenn in Kolumnen eher entschuldigend darauf hingewiesen wird, dass
im Falle des Islam die ´Kultur´ eben eine andere sei.
Aber wo führt uns das jetzt hin.
Macht man sich damit gleich wieder zum Feind des anderen Glaubens? Beleidigt
man damit eine Erweckung, deren ursprüngliches Konzept eine Einheitlichkeit um
jeden Preis erzwang, die schon unmittelbar nach dem Ableben des Propheten
hinfällig wurde und sich am Rabiatesten in einem oft mörderisch sich
gebärdenden Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten äußert? Ernst, bitterernst
geht es derzeit doch vor allem innerhalb der islamischen Welt selbst zu. Wir
hatten es oben schon bemerkt: differenzierte man bei ´den´ Muslimen zusätzlich
nach all den unterschiedlichen Konfessionen, die wir hier gar nicht im im
Einzelnen aufzählen können, käme man schnell dahinter, wie wenig einig die
angebliche Einheit (Umma) aller Gläubigen war und ist. In Wahrheit hat sich der
islamische Strom schon bald in zahlreiche kleinere und größere Seitenarme und Verzweigungen
aufgeteilt und eine Art Delta gezeitigt, dessen konkurrierende Flutungen den
einen, einzigen Absolutheitsanspruch ebenso fortschwemmten wie die
kulturfremden, aus anderem Quell gespeisten Läufe. Ob dieser Strom nur ein
trüber Teich ohne Einbußen, aber auch ohne frischen Zufluss war und ist, wie
die kämpferische Oriana Fallaci kurz vor ihrem Tod grimmig bemerkte, bleibt
eine interessante Frage. Brachte die Zeit des Kolonialismus wirkliche
Veränderung? Die Ankunft Bonapartes in Ägypten ist aus europäischer Sicht recht
erschöpfend behandelt worden, aber dieses Bild unterscheidet sich ganz
erheblich von dem, was ein gewisser Abdarrahman Al-Gabarti zeichnete. (Vgl.:
GABARTI: Bonaparte in Ägypten. München/Zürich 1983). Der Scheich, Zeitzeuge der
Ereignisse und immer neugierig vor Ort unterwegs, hat als Chronist vor allem
die Irritationen eingefangen, den ´Zusammenprall der Kulturen´, den dieses
Ereignis zeitigte. Sein Übersetzer, der Orientalist Arnold Hottinger, meint
hierzu in seinem Vorwort:“ Die Ambivalenz
zwischen Bewunderung und Verachtung, die Gabarti gegenüber den Invasoren und
Ungläubigen zu Tage legt, dürfte auch heute noch das Verhältnis der
gegenwärtigen Muslime zur sogenannten westlichen Zivilisation entscheidend
charakterisieren.“ (GABART, S. 13-14). Düstere Aussichten oder eher eine
Chance, die noch keiner wirklich sieht? Europa muss wissen, wo es steht; und
seine Muslime müssen ihrerseits ganz genau wissen, wie sie zu diesem Europa stehen. Davon wird alles abhängen.
V.
Es gärt und brodelt an der
europäischen Peripherie. Mancher mag immer noch meinen, das schmerze nicht
sehr; das müsse nicht zwangsweise unsere Interessen berühren. In Wahrheit ist
der Kontinent schon voll involviert. In diesem Zusammenhang kommen wir um einen
kurzen Balkan-Exkurs nicht mehr herum. Diese ´Ecke´ Europas ist derzeit nicht
sonderlich gefragt, aber das kann sich schnell ändern. Etliche Sprengsel der
ehemaligen jugoslawischen Föderation sind stark muslimisch geprägt, etwa ein
Teil Bosnien-Herzegowinas. Fangen wir ruhig mit dieser Region an. Das passt
insofern, als das der ´Schlächter von Srebrenica´, Ratko Mladic, gerade erst
dem internationalen Gerichtshof zugeführt wurde. Einer derzeit tonangebenden
Elite in Serbien stand dieser Massenmörder zum Schluss nur noch im Wege (der
Weg führt angeblich in die europäische Union) und man darf davon ausgehen, dass
eine Menge Geld geflossen ist. Die überwältigende Mehrzahl des serbischen
Volkes verehrt den Massenmörder ungebrochen. Aber das ist in diesem
Zusammenhang nicht weiter von Belang. Wichtiger scheint mir zu sein, das man
die bosnischen Muslime seinerzeit dem Bluthund förmlich ans Messer lieferte und
auf diese Weise demonstrierte, wie wenig an ihnen lag. Es waren aber keine
Fundamentalisten, die man da den Hinrichtungskommandos anheim stellte; die waren
durch und durch säkular gestimmt, sie lebten entsprechend und unter dem Marschall
Tito wäre jeder religiöse Fundamentalismus ohnehin sofort geahndet worden.
Frank und frei heraus gesprochen: Europa hatte diese armen Menschen komplett im
Stich gelassen. Das haben sie nicht vergessen. Bosnien-Herzegowina ist heute
ein fragiles, ganz widersinnig geflochtenes, quasi-staatliches Gebilde, mit
einem muslimischen Rumpfkörper in der Mitte, von jeweils kroatisch und serbisch
dominierten Ablegern seitlich umwölbt. Der föderale Charakter dieses
Protektorats ist fadenscheinig, seine Souveränität oder Selbstständigkeit bloß
vordergründig. Der mörderische Krieg hat einer Erschöpfung vorgearbeitet, die
derzeit einzig als Garant eines nur trügerischen Friedens vorhält. Der wird
nicht ewig währen. Innerhalb der muslimischen Gemeinde hat, schleichend noch,
ein ganz fundamentaler Wandel hinsichtlich des eigenen Selbstverständnisses
stattgefunden. Das sind der Mehrheit nach eben keine areligiösen Menschen mehr,
der Islam gewinnt zunehmend an Bedeutung. Der Bürgerkrieg hinterließ ein
verhängnisvolles Vakuum, das zunehmend Fanatiker für ihre Zwecke nutzen. Wer
sonst. Wie sollten oder könnten bosnische Muslime noch auf Europa bauen, das
sie so schmählich den Henkern überließ. Zur Stunde kann schwer entschieden
werden, welche Splittergruppen sich in dem insgesamt unwegsamen Gelände tummeln
um eigene Strukturen auszubauen. Fakt: mitten in Europa ist ein muslimischer
Teilstaat entstanden. Das löst im benachbarten Serbien mehr Unbehagen aus, als
westliche Beobachter nur ahnen. In diesem Land hat man das osmanische Joch nie
ganz überwunden, und die dunkle Amselfeldhistorie wird auf fast schon
pathologisch anmutende Art und Weise glorifiziert. Im Süden ist durch die
eilfertige staatliche Anerkennung des Kosovo jenem unseligen, das Hauen und
Stechen förmlich herausfordernden Mythos ein gefährlicher Vorschub geleistet
worden. Der ´Mutterboden serbischer Nation´ war bereits vor jeder
diplomatischen Fürsprache längst verloren: die Demographie hatte schon unverrückbare
Tatsachen geschaffen. Nichts stimmt, nichts passt in diesem Zwergstaat. Ein
renommierter Journalist fand die treffenden Worte, als er, eher salopp,
erklärte, hier habe nicht der Staat eine Mafia sondern umgekehrt: die Mafia
ihren eigenen Staat bekommen. Eine ideale Drehscheibe, schon jetzt, und in
anomalen Zeiten kaum noch zu kontrollieren. Weiter angrenzend, in Mazedonien,
bleiben die Spannungen zwischen christlichen Slawen und muslimischen Skipetaren
latent, und wenn man von hier aus den Blick gen Westen wendet, ins chaotische
Albanien, dann kann man gar nicht mehr umhin, fest zu stellen, das diese ganze
Region heillos zerrüttet, instabil und unberechenbar geblieben ist. Man kann hier
nicht ewig fragwürdige Protektorate unterhalten, so wenig wie im fernen
Afghanistan, und irgendwann schlägt auch auf dem Balkan wieder die Stunde Null.
Dann werden mafiose und ultranationalistische, fundamental-religiöse und Reste
säkularer Gruppierungen in einen Sog gerissen werden, der alle rechtstaatlichen
Fundamente fortspült und bei der Gelegenheit auch jede ausgleichende Diplomatie
verunmöglicht. So war es schon in den Neunzigern, aber das hat man ja längst zu
den Akten gelegt. Man denkt auch nicht gerne an jene endlosen Flüchtlingsströme
zurück. Eine solche unkontrollierte Migration destabilisiert ja vor allem die
jeweilige Nachbarregion und reißt diese in den Schlamassel mit hinein. Der
Autor kann sich noch ganz gut an die vielen bosnischen Flüchtlinge erinnern,
die in den Neunzigern in Kroatien auf recht unbürokratische Art und Weise in
Hotels untergebracht wurden. Kroatien selbst lag am Boden, und die Hotels
hatten am Ende nur mehr Schrottwert. Natürlich führte das zu erheblichen
Spannungen, ohne dass es freilich zu nennenswerten Ausschreitungen kam. Man denke
in diesem Zusammenhange auch einmal an Solingen und Hoyerswerda zurück, wo ohne
erkennbaren Anlass ein Mob tollwütiger ´Bürger´ über völlig wehrlose Menschen
herfiel. Keiner hatte damit gerechnet, und dann ging alles ganz, ganz schnell.
Wenn wir den Balkan ins Visier
nehmen, müssen wir fairerweise feststellen: die Besorgung interner
rechts-staatlicher Ausgleiche bleibt schwierig, kompliziert – zäh und
nervenraubend. Das betrifft auch und gerade die territorialen Streitigkeiten, vor
allem auf dem Balkan, und im Grunde kann man das ganze leidige Dilemma
vorzüglich in Nahost nachstudieren; der Israel-Palästina Konflikt verdeutlicht
tagtäglich, wie in einem Brennglas, die ganze Schärfe der Auseinandersetzung,
dort dampft und raucht es stündlich. Man hat derlei Vorgänge bis vorgestern für
unverbindliches Katastrophen-Kino gehalten; halbgares Geplänkel, in das man
sich nach Lust und Laune rein und wieder raus zappt. Wer ahnt denn schon, dass derlei
anachronistisch anmutende Asymmetrien in jeder Metropole gären und gedeihen?
Derlei ´Großstadtfieber´ muss
nicht einzig ethnisch motiviert sein. Wer dächte da nicht an die aktuellen
national-staatlichen Finanzdispute? Das ´einige Europa´ brennt bereits an seinen
äußersten südlichen Ecken und Enden. Im Südosten ist es das vielgeschmähte
Griechenland, der Südwesten ist durch das taumelnde Spanien ins Gerede
gekommen, und Portugal kippt wohl bald nach. Die vielen Hausgemachten Probleme
sind das eine, das andere ein beinahe epidemisch um sich greifender, wie Fieber
grassierender finanzpolitischer Sozialdarwinismus, dem ganze Volkswirtschaften
zum Opfer fallen. Eine Medienmeute heizt im Angesicht drohender Staatspleiten
den ohnehin nie völlig zur Ruhe gekommenen Nationalismus an, hetzt etwa
Griechen und Deutsche gegeneinander auf. Wenn es schon möglich sein darf, das
diverse Rating-Agenturen Staaten in den Abgrund wetten und die vielen
unbedarfte Entschlüsse seitens der ´hohen Politik´ Ressentiments schüren statt
echten Ausgleich zu schaffen, wenn Verteilungskämpfe den ´Einigungsprozess´
konterkarieren, dann kann die ´Weltmacht EU´ (Günther Verheugen) so weltmächtig
gar nicht sein. Man muss nicht so weit gehen zu vermuten, das ein Staat wie Griechenland
unregierbar wird und in einen Dauerzustand der Revolte fällt (wer möchte hier übrigens von einem Frühling
sprechen?), aber die Lage ist ernst; sehr ernst. Gerade das taumelnde Hellas
wird ja von einem ohnehin unruhigen Nachbarn, der zunehmend re-islamisierten Türkei
mächtig flankiert; und vom östlichen Europa strömen, durch zusätzliche
transitäre Lockerungen begünstigt, Heerscharen von ´Wanderarbeitern´ nach
Mitteleuropa ein. Der europäische Binnenmarkt leidet, betrachtet man ihn aus
makroökonomischer Perspektive, unter einer fragilen, vor allem völlig
unkoordinierten Gesamtverfassung, die bei größeren Schwankungen schwere
gesellschaftliche Krisen auslösen dürfte. Die hemmungslose Osterweiterung hat,
so gesehen, nur einer noch etwas größeren Freihandelszone das entsprechende
Terrain gesichert. In Spanien haben, ein Beispiel, Niedriglöhner aus dem
äußersten Osten Europas bereits die ´Vorhuten´ aus Afrika abgelöst. Nun ist
Spanien ein Land, das sich mit einer Rekordarbeitslosigkeit von 21 Prozent
herumschlägt; ein gutes Drittel der Binnenfläche wächst sich zur Wüste aus
(woran eine katastrophal falsche Wirtschaftspolitik den nicht geringsten Schuldteil
trägt) und wenn es eine Bevölkerungsgruppe gibt, die so richtig vor der Wand
steht, dann sind das die jungen Leute, auch und vor allem Akademiker. Solches muss zu inner-gesellschaftlichen
Zerwürfnissen führen und wird im Ergebnis weitere Ausschreitungen zeitigen.
Dann verschafft sich ganz von selbst eine diffuse Front aus Neid, Frust und
Existenzangst ausgreifend Luft. In Großbritannien kam es ja schon zu schweren,
ethnisch motivierten Tumulten. Die Progrome gegen Sinti und Roma (Italien) sind
noch in bester Erinnerung, in Frankreich hat sich das amtierende
Staatsoberhaupt ebenfalls dieser Minderheit angenommen, um kurzfristig punkten
zu können. In den europäischen Ballungszentren wird es früher oder später ganz
voll selbst knallen. Heinz Buschkowsky,
Bezirksbürgermeister im Berliner Stadtteil Neukölln, ist ein umsichtiger, unaufgeregt
agierender Kommunalpolitiker, dem man kaum mangelnden Eifer in Sachen
Integration vorwerfen kann. Dem Tagesspiegel vertraute er schon vor Jahren an:“ Wir haben in Neukölln-Nord und Kreuzberg
zehn arabische Großclans von etwa 500 bis 1000 Menschen, die alle der
organisierten Kriminalität nachgehen. Das sind Parallelgesellschaften, in denen
unsere Gesetze nicht gelten.“ Besonders schlimm sind die Zustände mittlerweile
in britischen Großstädten. Wenn man, abschließendes Beispiel, den Aufstieg des
vielgeschmähten Geert Wilders so recht begreifen will, dann muss man wissen,
wie sich marokkanische Jugendbanden in Stadtteilen und Vororten der Niederlande
gebärden. Eine Untersuchung der niederländischen Justizbehörde ergab schon vor
elf Jahren, dass die Kriminalität im Lande die der Vereinigten Staaten von
Amerika übertrifft, und es kann kein Zufall sein, das bestimmte Straftaten in
ganz bestimmten Bezirken kumulieren. Schuld an allem ist natürlich immer der
Staat, die Gesellschaft – das System. Merkwürdig: da hat man jahrelang gerade
die Niederlande als Vorbild in Sachen Liberalität und Weltoffenheit gepriesen,
das Schulsystem in den Himmel gelobt und den verstockten Deutschen vorgerechnet,
wie ´Migranten-freundlich´ das soziale Netz gestrickt ist – ab sofort gilt das
nicht mehr.
Um noch einmal auf den Osten
Europas zu sprechen zu kommen: hier werden nicht nur konkurrierende
Arbeitskräfte importiert; hier sickern zunehmend auch kriminelle Seilschaften
ein, schaffen Strukturen und schaden dem Rechtsstaat. Unermüdlich und unter grossem
persönlichen Einsatz recherchiert der Publizist Jürgen Roth seit Jahren auf
diesem Feld, und seine Befunde sind besorgniserregend, alarmierend. Auch hier
hat sich die Büchse der Pandora aufgetan. Vornehm formuliert: die judikative
Gewalt gerät zunehmend ins Hintertreffen, und ihre verbindlichen Organe taugen
immer weniger zur Einfriedung dieses verheerenden Komplexes. -
Die Stimmung kippt. Man kann es drehen
und wenden wie man will: jene relativ bequeme, vor allem berechenbare Zeit der
Bipolarität ist Geschichte. Der kalte Krieg fror ja die vielen Gegensätze ein,
deren Reibungsflächen heute lauter empfindliche Brennpunkte zeitigen. Sie
rechtzeitig zu verorten bleibt unabdingbar, ist aber noch nicht die Lösung, von
der sich nicht einmal sagen lässt, ob es sie überhaupt in patenter Form gibt;
geben kann.
Encore
Wenn man sich Gedanken über
etwaige oder bestehende Spannungsverhältnisse zwischen Europäern und Muslimen macht,
dann kann man kaum umhin, die jeweiligen Antipoden genau zu beobachten um aus den
je gegebenen Besonderheiten auf das Missverhältnis zu schließen, dem man
erklärend zu Leibe rückt. Die gewachsenen bzw. gewordenen Verhältnisse
bestimmen alle weiteren und können nur als Richtschnur für jeden ehrlich
gemeinten Ausgleich gelten. Um einen solchen Ansatz wird niemand herumkommen,
dem wirklich an ziviler Einhegung sich häufender Problematiken gelegen ist. Im
Europa des frühen 21. Jahrhunderts ist vieles im Fluss. Wenn man vor diesem
Hintergrund zu verstehen versucht, was das für Leute sind, die in den letzten
gut vierzig Jahren aus dem islamischen Kulturkreis nach Europa gekommen sind,
dann muss man eben deren Selbstverständnis, ihr ´So-Sein´ analysieren, will man
begreifen, warum es zu Irritationen kommt. Es gibt dieses Befremden,
beiderseits, und es ist in Mode gekommen, jeden ernsthaften Versuch, das
Phänomen an den eigenen, verbindlichen Maßstäben abzuarbeiten, pauschal als
Islamkritik ab zu tun. Da wird das Gemeinsame herbei geredet oder zurecht
konstruiert, andauernd, und alles übrige in Watte gepackt, um nur ja niemandem
weh zu tun. Das tut selbst weh und ist im übrigen ziemlich billig, aber alle
Welt scheint ständig darauf herein zu fallen.
Der Leser irrt, nähme er an, ich
kritisierte oder verurteilte den Islam. So wenig, wie ich mir anmaße,
irgendeine andere Erweckung religiöser Art ethisch oder moralisch abzuurteilen.
Das Kastensystem des Hinduismus etwa, dessen Rigorismus jeden egalitären, auf
fairen Ausgleich bedachten Ansatz im Keim erstickt, kann, aus
rational-emanzipatorischer Sicht, so wenig genügen wie etwa eine Religion der
Entsagung (Buddhismus), die dem fortschrittlich-dynamischen Selbstverständnis
des 21. Jahrhunderts kaum entspräche, wiewohl sie ihm auch nicht im Wege steht.
Ersteres ist ein teuflischer Anachronismus, letzteres vor allem von
therapeutischem Interesse. Balsam für die Seele. Ersteres kollidiert in Indien
mit dem von den Briten importierten System demokratischer Willensbildung und erscheint
in den rückständigen ländlichen Gebieten als lähmender Traditionalismus, drückt
bis heute jeden wirklichen Fortschritt. Letzteres hat, andererseits, nicht
verhindern können, das die ihm angehörigen Völker und Kulturen (Fernost) wieder
und wieder in rasenden Blutrausch verfielen. Das Christentum, Liebe und
Gerechtigkeit predigend, konnte kaum verhindern, dass in seinem Namen ganze
Völker ins Elend oder in den Untergang getrieben wurden. Entscheidend ist der
Einfluss, den solche Systeme heute und in Zukunft ausüben werden; auf den
Einzelnen und die ihn konstituierende Gesamtgesellschaft.
Es geht in den von mir angerissenen
Zusammenhängen um die Frage, ob ein Ausgleich hergestellt werden kann zwischen
rechtstaatlichen Prinzipien einerseits und religiöser Erbauung andererseits. Ist
die Lehre absolut in ihrem Anspruch und kollidiert sie mit den Standards der
jeweils anderen Kultur? Meine Einschätzung dürfte deutlich geworden sein. Niemand
kann an einem solchen Befund unbekümmert vorüber gehen, frei nach dem Motto: es
wird sich schon alles im passenden Rahmen ´einrenken´. Genau das tun die
westlichen Eliten unentwegt: sie reden Probleme herunter und halten tief sitzende
Differenzen für lösbar, was auf Anhieb gelogen, ja geheuchelt ist. In einer
egalitären Gesellschaft, so glauben sie, vollzieht sich der Prozess der
Annäherungen von selbst; vor Gott und der Welt, in Sachen Recht und Ordnung
sind ja ohnehin alle gleich. Und das ist der ständige, der dauernde
Widerspruch, geht es um den Islam: er soll gleichwertig sein, er muss; aber all
das, was an ihm hakt oder nicht auf Anhieb passt, wir eben nicht mehr egalitär behandelt sondern umständlich entschuldigt,
relativiert, von der ´Ebene auf Augenhöhe´ auf eine andere, auf die
kultur-relativierende Ebene gestellt und so dezent aus dem Diskurs entfernt. Paradox:
der Islam gerät zunehmend in die Kritik und wird doch in realitas immer ängstlich
geschont bzw. geschönt…
Noch einmal: ich kritisiere ihn nicht.
Ich suche nach Erklärungen. Noch weniger würde ich mich übrigens einen Kenner
oder Experten schimpfen – Gott bewahre. Der so von sich dächte könnte gleich
einpacken. Experten, das waren doch in den letzten Jahren immer solche, die
posthum alles gewusst haben wollten und a priori andauernd daneben lagen; auf
verlässliche Art und Weise. Man konnte die Uhr danach stellen. Das muss wohl
daran liegen, das sie eben doch befangen, ja verstrickt sind; überhaupt so
verliebt in ihr Studienobjekt, das ihnen schon die bloße Form vor Augen
verschwimmt. Mein Ansatz ist viel bescheidener, auch ehrlicher. Ich versuche
aus einer halbwegs rationalen (und damit ganz klar europäischen)Perspektive
heraus Phänomene zu begreifen um zu verstehen, warum es Schwierigkeiten gibt –
geben muss. Sucht man aufrichtig und unvoreingenommen das Gespräch mit Menschen
muslimischen Glaubens, wird man rasch fest stellen, dass sie selbst, jeder für
sich genommen, um vieles authentischer, auch ehrlicher sind als jene, die
vorgeben, in ihrem Sinne zu handeln und zu sprechen. Man entdeckt den Menschen,
den Einzelnen – das Individuum. Dort muss man ansetzen, und von da aus muss es
weiter gehen, irgendwie. Nur das kann am Ende der Weg sein, wenn es überhaupt
einen gibt, der aus der leidigen Sackgasse wieder heraus führt, in die uns
Verbände und Parteien, Politiker und Funktionäre, Prediger und Parvenüs geführt
haben. Indes: solches wird kaum verhindern, das es ein steiniger, unendlich
beschwerlicher Weg werden wird. Das wird niemand zu verhindern wissen.
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