Erschienen in Ausgabe: No 67(9/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
„Es gibt sieben Todsünden, und die schwerste
von ihnen ist die Trägheit. Unter vielen Namen wird sie sich vor dir verbergen;
meist wird sie als Trübsinn oder Melancholie erscheinen. Gib dich der Lethargie
nicht hin, wenn sie dich einmal befällt, lässt sie dich nie wieder los. Die
Nächte verschläfst du, die Tage vergähnst du; Schwierigkeiten meidend,
Anstrengungen ausweichend, wirst du blind und taub für alle Elemente. Wie ein
Wurm wird sie sich in dir einnisten. Statt Freude empfindest du Neid gegenüber
allen, die das Leben genießen. Du wirst nicht leben, sondern verwesen, mit
Schimmel vor dem Mund auf der Stelle treten, wenn andere singen, wirst du
grollen.“ (Wojciech Kuczok: Lethargie)
Bereits
mit seinem Debüt, dem "Desillusionierungsdrama" „Dreckskerl“, für den
er mit dem bedeutendsten Literaturpreis Polens, dem "Nike",
ausgezeichnet wurde, machte Wojciech Kuczok von sich reden. Nun hat sich der
vielversprechende und talentierte Schriftsteller erneut ins Innere von Menschen
begeben und lotet deren persönliches Dilemma aus. Drei Figuren und ihr
jeweiliges Herzens-Pendant verfolgt der 1972 im oberschlesischen Chorzów
geborene „Star der jüngeren polnischen Literatur“ durch den Alltag. Alle
vereint diese titelgebende Lethargie: das Kennzeichen ihrer Lebenskrise. Kuczok
setzt seine Protagonisten an den Wendepunkt einer Parabel und überlässt es
ihnen, ob sie antriebslos ins Tal rollen oder sich ein anderer Weg auftut, ob
sie in ihrer Apathie hängen bleiben oder ihr Leben verändern.
Da
ist zum ersten der homosexuelle Adam, „diplomierter Körperklempner“, der sich
aus den Fängen seines despotischen Vaters und der umsorgenden Mutter zu
befreien sucht. Er liebt den „Süßen“, an dem er zu gern seine medizinischen
Fachkünste ausprobiert hätte. Der kleinkriminelle Junge allerdings mag keine
Schwulen. Der Zufall führt beide trotzdem zusammen und lässt etwas in Adam
unwiderruflich verschieben. Eine „fatale
tektonische Unregelmäßigkeit ist entstanden, ein Riss, und nach diesem Riss
passt Adam nicht mehr zu sich selbst. Er tritt aus sich heraus...“ Der
Skandal im ländlich geprägten Elternhaus ist danach perfekt.
Der
ehemalige Erfolgsautor Robert wiederum - Kuczoks Alter Ego -, kämpft mit einer
Schreibblockade. Diese setzte just in den Moment ein, als seine hysterische
Ehefrau in sein Leben trat. Obwohl er von seinem Schwiegervater, einem
landesweit bekannten, konservativer Politiker, komfortable Bedingungen „auf einem staatlichen Posten mit
landesüblichem Durchschnittsgehalt“ und viel persönlicher Freizeit erhält,
küsst ihn die Muse nicht mehr. Es scheint, als hätte sich die geistige Trägheit
der Gattin klammheimlich an seine Synapsen geklammert und diese gelähmt. Die
Schwiegermutter und ihr ostentatives Bewahren der Familienharmonie tut ein
Übriges. Seelenlose Orte zollen ihren Tribut. Erst eine tödliche Diagnose lässt
Robert resümieren, „dass er sein Leben so
wenig gelebt hat, der Gehalt an Leben in seinem Leben war entschieden zu
gering, als dass er sich danach sehnen könnte.“
Dritte
im Bunde ist Rosa, eine Schauspielerin und das „schönste Gesicht der Stadt, vielleicht sogar das schönste Gesicht des
Landes“. Herr Ehemann, ein arrivierter Bankdirektor, hat sie mit
erfolgreicher Anlegestrategie gekapert. Nun darf sie für ihn kochen, derweil er
sie schamlos betrügt und gewissenhaft belügt. Aber nur zu ihrem Besten, denn
die Gute soll sich nicht aufregen, leidet sie doch an einer epileptischen
Schlafkrankheit. Doch Vorsicht! Ungeliebten Frauen, mag ihnen auch nicht viel
widerfahren und ihr lebloses Leben „vor sich hin schimmeln und ihre Seele
ersticken“, ist der Begriff Betrug aus Vergeltung nicht fremd.
Immer
wieder kreuzen sich die Wege der drei Protagonisten - zufällig oder nicht -,
korrelieren ihre Lebensläufe und -schicksale. Mit psychologischem Feingefühl,
zynischem Sarkasmus und erstaunlich viel Humor analysiert der Autor
schonungslos das Chaos zwischenmenschlicher und die Disharmonien familiärer
Beziehungen. Gleichzeitig zeichnet er bravourös das Bild einer zerrissenen
polnischen Gesellschaft, eines problematischen Staates, „der wie ein saufender und prügelnder Ehemann ist, der einmal in der
Woche zu Beichte geht, eine Oblate frisst, sich von den Sünden gereinigt fühlt
und dann die Erfüllung der ehemaligen Pflicht fordert“. Der Duktus Wojciech
Kuczoks, der nach seinem schnellen Erfolg gleichfalls in ein derartiges Phlegma
fiel, nicht mehr den eigenen Ton fand und am eigenen Tun verzweifelte, zeugt
keinesfalls von Trägheit, sondern von Musik, Rhythmus, Kraft und Leidenschaft.
„Lethargie“ ist ein Buch, das süchtig macht. Auch wenn das hohe Tempo auf den
ersten Blick darüber hinwegtäuschen mag, so bewegt sich der Roman sprachvirtuos
und stilistisch auf allerhöchstem Niveau.
Der
Übersetzerin Renate Schmidgall darf für die kongeniale Übertragung ins Deutsche
gedankt werden.
Fazit:
Tod,
Liebe, Einsamkeit, scheinheilige Moralapostel, eine kaputte Gesellschaft und
narzisstisch geprägte Politik sind Themen des großartigen Buches. „Lethargie“ ist kein „unehrlicher Roman über Lebensfreude
und Geborgenheit“, sondern offenbart genau das Gegenteil. Wie
schon Altmeister Milan Kundera schüttelt Kuczok das unerträglich leichte Leben
durch und stellt ihm wütend Fragen. Eine Antwort erhält er nicht. Das ändert
allerdings nichts an der Einschätzung des Werks: Hier offenbart sich allerbeste
Literatur!
Wojciech
Kuczok
Lethargie
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Titel der Originalausgabe: Senność
Suhrkamp
Verlag, Berlin (September 2010)
252
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3518421832
ISBN-13:
978-3518421833
Preis:
19,90 EURO
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