Erschienen in Ausgabe: No 66 (8/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
Érik
Orsenna, seit 1998 Mitglied der Académie Française und bereits mit diversen
Preisen ausgezeichnet (unter anderem mit dem Prix Goncourt), ist ein
unglaublich vielseitiger Schriftsteller. Sein Oeuvre offenbart sich so
breitgefächert wie wohl kaum bei einem anderen Autor. Egal, ob er über
Baumwolle („Weiße Plantagen“), die Faszination des Golfstroms („Lob des
Golfstroms“), die Antarktis („Großer Süden“), unser Lebenselixier („Die Zukunft
des Wasser“) oder seine Zeit als Ghostwriter von François Mitterrand und das
Alltagsleben im Elysée-Palast schreibt, wenn man seine Bücher liest, gewinnt
man schnell den Eindruck, einem Autor begegnet zu sein, der aus unbändiger
Neugier am Leben und den Risiken, die die Menschen scheuen und doch gerade in
der Natur immer wieder suchen, seinen literarischen Stoff strickt. Er gehe
jedenfalls gern Risiken ein, erzählt er in einem Interview. Denn wer nichts
riskiere, habe nur ein einziges Leben. „Diese Vorstellung ertrage ich nicht.“
In
der Liebe und im Leben verhalte es sich übrigens analog, sagt Orsenna. „Lied
für eine geliebte Frau“ ist beredtes und vor allem sehr persönliches Zeugnis
dafür. Doch was, wenn die Liebe das Leben verlässt? „Wie soll ich es Ihnen mit einem Wort erklären? Sie haben sie ja nicht
gekannt. Wie kann ich ihr gerecht werden, jetzt, da sie nicht mehr da ist?
Welches Bild von ihr kann ich für immer in mir bewahren, welches Bild, das
niemand mir stehlen kann, nicht einmal das Leben, das weitergeht?“ Mit
diesen Fragen beginnt der Roman des 1947 geborenen französischen Autors.
Sein
Protagonist, Orsennas Alter Ego, hat Angst vor dem „Gespenst der Liebe“. Unstet
tingelt er durch eine Welt „voller
Neurosen, manischer Theorien und leidenschaftlicher Liebesverhältnisse (von
denen die einen Stückwerk und die anderen einzigartig waren)“. Bis an einem
schönen Novembertag DIE Frau in sein Leben tritt. „Diese Frau war eine Sonne. (...) Eine Sonne, die - Sie haben es
erraten - sich sehr von unserer offiziellen Sonne unterschied: Sie kannte keine
Routine auf ihren Bahnen. Sie konnte immer und überall aufgehen, an jedem
beliebigen Ort zwischen Himmel und Erde“. Mit ihrer Lebendigkeit, ihrer
Fröhlichkeit, dem Unverhofften und der Freiheit bezähmt sie seine Unruhe. Vier
glückliche Jahre bleiben den beiden, von denen der Leser jedoch kaum etwas
erfährt. Sie „haben keine Geschichte.
Vielleicht, weil das erfüllte Leben keinen Raum für Worte lässt. Und erst recht
nicht für die Art von Andeutungen, wie es Erinnerungen sind.“ Nach vier
Jahren verlässt sie ihn allerdings wieder. Eine heimtückische Krankheit fordert
ihren Tribut...
Trennung
und Tod gehören unbestritten zu den schwierigsten seelischen Erfahrungen eines
Menschen. Am Anfang stehen Schock und Verleugnung. Leere und Schmerz nehmen von
der Seele Besitz, beherrschen das ganze Wahrnehmen und sein Denken. Später
brechen schmerzhafte Gefühle auf, Rat- und Hoffnungslosigkeit, Angst vor der
Einsamkeit, vielleicht auch Schuld. Der Körper antwortet mit Unruhe oder
Erschöpfung. Man kann sich nicht mehr konzentrieren, isst und schläft zu wenig,
zieht sich von der Außenwelt zurück oder stürzt sich in verschiedenste
Aufgaben. Erst langsam findet der Betroffene wieder zu sich selbst.
Auch
Orsennas Protagonist muss lernen, sich in seinem Ein-Personenstück namens „Anatomie
der Trauer“ neu zu orientieren. Ihn treiben Fragen um, wo sich die Menschen
aufhalten, wenn sie einmal gestorben sind, wohin sie nach dem Tod gehen oder ob
das Leben von Neuem beginnt? Er setzt sich nicht wie der „Faulpelz Orpheus“ in
eine Barke und spielt sein Liedchen, sondern er versucht die Türen zu allen
Welten, zu mythischen Orten zu öffnen, um seine Sonne wiederzufinden. Er reist
über den ganzen Globus, lernt tanzen, weil auch sie dies leidenschaftlich
liebte und besucht Kongresse des International Council für Philosophy and
Humanistic Studies. Dort bewirken die Worte eines alten Afrikaners ein
Umdenken: „Man muss sich immer wieder vor
Augen führen: Dass man etwas weder sehen noch anfassen oder fühlen kann, ist
noch kein Beweis, dass es nicht existiert.“ Diese Aussage öffnet ihm den
Weg in die Zeit - die Zeit der Erinnerung. Denn „Erinnerungen sind Gespenster, die die Waffen gestreckt haben.“
Die
spanische Dichtung sei ein Land, das mit Schlössern übersät sei, in denen viele
Schätze verborgen sind, erklärte ihm „seine Sonne“. Doch nicht nur die
spanische Literatur vermag dies. Érik Orsenna ist ein ebensolches wunderbares
Kleinod gelungen, voller unentbehrlicher Wahrheiten, „verkleidet als Düfte, Melodien, Echos, Gärten...“. Dass die
Gesamtmelodie dennoch nicht süßlich klingt, liegt an der ironisch heiteren Art,
mit der der Autor zwischen Realität und fantastischer Überhöhung Geschichten
auszuschmücken versteht. „Lied für eine geliebte Frau“ offenbart sich als
poetisches, feinfühliges, geistreiches und philosophisches Gedanken- und
Erinnerungsfragment, das neben der posthumen Verarbeitung einer großen Liebe
gleichzeitig auch von der Annäherung an seinen jüngeren Bruder berichtet, mit
dem ihn ein zwiespältiges Verhältnis verbindet. „Tief in sich fühlten sie, dass sie einer gemeinsamen Sache bedurften,
um wieder zueinander zu finden. Die Suche nach dem mythischen Ort (...) diente
diesem Ziel besser als alles andere: Sie würde ihr Gral sein und der Zement
ihrer neuen Freundschaft, die stärker und fester sein sollte als die alte, die
Risse bekommen hatte.“
Fazit:
Érik
Orsennas Roman, obwohl er den Verlust eines Menschen zum Inhalt hat, offenbart
sich als komplexes Plädoyer für das Leben. Trauer, Tod, Erinnerung und
Sehnsucht, Liebe, Resignation und Aufbruch sowie Wahrung der eigenen Identität
sind die Themen, die der Autor auf der einen Seite mit Leichtigkeit, mitunter
gar Humor, auf der anderen mit großem Tiefgang verarbeitet.
Érik
Orsenna
Lied für eine geliebte Frau
C.H.Beck
Verlag, München (August 2010)
156
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3406606172
ISBN-13:
978-3406606175
Preis:
16,95 EURO
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