Erschienen in Ausgabe: No 67(9/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
Rezension von Thomas Schölderle: Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011, 540 Seiten, ISBN 978-3-8329-5840-4
von Michael Lausberg
Thomas Morus schuf mit seiner
fiktiven Erzählung von der Insel „Utopia“ aus dem Jahre 1516 den Begriff des
utopischen Romans, an dem sich viele andere Entwürfe orientiert haben.
In der 2010 abgegebenen
Dissertation beschäftigt sich Thomas Schölderle mit der Bedeutung von Morus’
Werk für die Geschichte der Utopie und die Auseinandersetzung um die
begriffliche Fassung des Phänomens Utopie.
Schölderle rekonstruiert dabei
die wichtigsten Streitfragen und entwickelt ein Analyseraster, das zwischen
Utopie und Nicht-Utopie unterscheidet. Er konzentriert sich zunächst auf die
„Utopia“ und analysiert verschiedene Interpretationsperspektiven. Danach folgt
eine historische Rekonstruktion der Utopiegeschichte bis zum 20. Jahrhundert.
Im dritten Kapitel geht Schölderle auf die sozialwissenschaftliche Begriffskontroverse
über den Utopiebegriff ein. Anschließend trägt er die wesentlichen Merkmale der
Utopie in einer allgemeinen Bestimmung zusammen.
Bei der Auseinandersetzung um den
Utopiebegriff hält Schölderle eine Orientierung an die Musterschrift von Morus
für sinnvoll, da sich aus Form, Inhalt, Funktion und Intention seiner „Utopia“
die meisten Kriterien eines generalisierbaren Begriffs ermitteln lassen. Schölderle
definiert Utopie folgendermaßen:[1] „Eine
Utopie ist der meist literarische Entwurf von idealtypisch und
rational-experimentell konstruierten Institutionen oder Prinzipien eines
Gemeinwesens, der den realhistorischen Verhältnissen in kritischer Intention
gegenübersteht und auf ein besseres Leben der Menschen gerichtet ist.“
Er versteht Utopien als Instrumentarium
der Sozialkritik, die in einem selbst geschaffenen Szenario die politischen
Unzulänglichkeiten und Missstände der Gegenwart beschreiben und kritisieren:[2]
„Utopien fungieren immer als Denkappell, als Spiel mit Möglichkeiten, als ein
Raum des geistigen Experiments und als restriktionsbefreiter Entwurf von Ideen,
der (…) nie mit der praktisch-politischen Tat zusammenfällt.“
Schölderle plädiert dafür, dass
Utopien auch in der Zukunft benötigt werden, um gegenwärtige oder zukünftige
gesellschaftliche Ungerechtigkeiten mit Hilfe von rationalen Lösungsstrategien
anzuprangern:[3] „Als
hypothetisch-anzipierte Realitäten sozialer und technischer Innovationen
bleiben Utopien nach wie vor von zentraler Bedeutung. (…) Utopien fragen
unablässig nach den institutionellen Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins
und Glücks, nach den Gerechtigkeitsprinzipien seiner Ordnung und nach der
Rationalität seiner Umsetzung. (…) Sie wecken Bewusstsein, fordern Antworten
und suchen Lösungen.“
Insgesamt gesehen ist das Werk
von Schölderle ein gut recherchiertes und vom Argumentationsmuster
überzeugender Beitrag zur Utopieforschung. Besonders die Utopiegeschichte wird
überzeugend nachgezeichnet und analysiert; dieser Grundstock könnte für
künftige Forschungen ein wichtiger Anhaltspunkt sein.
Der einzige Schwachpunkt des Buches liegt in der mangelhaften
Auseinandersetzung mit der Dystopie, die nur nebensächlich bei der Analyse von Orwells
Buch „1984“ angesprochen wird. Die Autoren dystopischer Geschichten wollen mit
Hilfe eines pessimistischen Zukunftsbildes auf bedenkliche Entwicklungen der
Gegenwart aufmerksam machen und vor deren Folgen warnen.[4] Seit
der Veröffentlichung des Romans „Die Zeitmaschine“ von H.-G. Wells im Jahre
1895 bis zur heutigen Zeit gibt es zahlreiche dystopische Klassiker (z.B.
„Brave new World“ von Aldous Huxley, „Sin
City“ von Frank Miller), die in dem Buch auch nicht nur ansatzweise
erwähnt werden.
[1] S. 481
[2] S. 489
[3] Ebd.
[4] Meyer, S.: Die
anti-utopische Tradition: eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung,
Frankfurt/Main 2001, S. 15
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