Erschienen in Ausgabe: No 66 (8/2011) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Christian Lindner
Herr Lindner, Sie sind der Hoffnungsträger
der FDP, Sie ziehen Menschenmengen geradezu magisch an, nicht nur hier in Jena.
Ihre Partei aber liegt gerade bei unter 5 Prozent in Wählergunst. Wie erklären
Sie sich, dass die Liberalen derzeit einen so schweren Stand beim Wähler haben?
Christian Lindner: Viele haben mit der FDP die Hoffnung verbunden, dass
schnell tief greifende Reformvorhaben angepackt werden. So waren auch unsere
Ziele. Nun sind viele enttäuscht, dass es nur kleine Schritte gibt. Und dass
die FDP teilweise sogar zu Kompromissen gezwungen war oder Fehleinschätzungen
unterlag, die uns von unseren langfristigen Zielen eher entfernt haben. Diese
Wähler sind nicht zu anderen Parteien gewandert, sondern in das Lager der
Nichtwähler. Die wollen wir neu überzeugen. Deshalb haben wir uns neu
aufgestellt.
Was sind die Grundpfeiler Ihrer politischen
Botschaft?
Christian Lindner: Die Identität der FDP kann man mit drei Begriffen
zusammenfassen: Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Toleranz. Das findet man im Paket
nur bei uns. Zum Beispiel sind auch die Grünen für gesellschaftspolitische
Liberalität, aber eben nicht für Freiheit in der Wirtschaft. Andererseits war
die CSU neben uns die einzige Partei, die in den Gründerjahren der
Bundesrepublik geschlossen für die Soziale Marktwirtschaft war, aber
gesellschaftspolitisch gehen Konservative andere Wege. Wer die Freiheit liebt
und von ihr als Prinzip überzeugt ist, kann sie nicht auf eine Dimension
beschränken.
Sie sprechen immer wieder von der Generation
1994; wir haben die Generation 68, die Generationen 89 und 90 und die
„Generation Benedikt“. Was haben wir von der Generation 1994 zu erwarten?
Christian Lindner: Ich habe das mit Blick auf die krisenhafte Lage der FDP
Anfang der neunziger Jahre formuliert. Damals sind Philipp Rösler, Daniel Bahr,
viele andere und ich in die FDP eingetreten. Nicht, weil wir glaubten, etwas
werden zu können, sondern weil uns diese Partei am Herzen liegt. Wir haben uns
geschworen, dass die FDP niemals mehr ihre Eigenständigkeit in einer Koalition
opfern darf. Damals hatte die FDP keine klare Botschaft. Heute liegen die Dinge
anders. In der Sache können wir heute angesichts der Dominanz einer sozial und
ökologisch verbrämten Gleichheitspolitik als Freiheitspartei viel Unterstützung
finden. Die zunehmende Eingebung unseres Lebens durch ein feines bürokratisches
Gespinst aus Geboten und Verboten, die Ausdehnung des öffentlichen Sektors, die
Notwendigkeit, dass die Privatheit nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor
kommerziellen Anbietern im Internet geschützt werden muss – all das und mehr
verlangt nach liberalen Antworten. Darin liegt unsere Chance. Die Aufgabe ist,
Vertrauen für die FDP, unsere Themen und unsere Positionen zu gewinnen.
Die FDP ist eine Partei des Mittelstandes.
Wie ist es Ihrer Meinung möglich, auch die „unteren“ Bevölkerungsschichten zu
erreichen – gerade im Osten des Landes, wo aufgrund der geringeren Löhne auch
die Angst vor Altersarmut wächst?
Christian Lindner: Die FDP ist nicht die Partei einer Einkommensklasse,
sondern einer Einstellung zum Leben. Wer einen Parteitag besucht, wäre
überrascht, wie vielfältig die Mitglieder und Wähler sind. Wir sind die Partei
all derjenigen Menschen, die optimistisch und freiheitsliebend sind, die etwas
aus ihrem Leben machen wollen. Die Freude an den Ergebnissen ihrer
Schaffenskraft haben. Und die Verantwortung für sich und andere übernehmen.
Bedürftige oder Schwache lassen wir nicht allein. Sie brauchen aber keinen verholzten
Wohlfahrtsstaat, der nur umverteilt, sondern Unterstützung durch einen
aufstiegsorientierten Sozialstaat, der zum Wiedereinstieg in die
Eigenverantwortung befähigt. Es geht also darum, Menschen Arbeit zu geben und
nicht dauerhafte Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Natürlich verlangt das gerade
von Geringqualifizierten viel. Umso mehr muss man Respekt vor allen haben, die
hart für wenig Geld arbeiten, weil sie nicht dauerhaft die Solidarität ihrer
Mitbürger in Anspruch nehmen wollen. Wir brauchen ein Bildungssystem, das faire
Chancen eröffnet, Zugänge zur Bildung schafft, aber das nicht alles
vereinheitlicht. Insofern ist die FDP eine Partei, die Aufstiegschancen durch
Fleiß und Talent belohnen will. Wir haben kein Problem mit Unterschieden in der
Gesellschaft. Aber die Unterschiede müssen eben durch Leistung und nicht durch
das Glück der Geburt begründet sein, damit man sie als gerecht akzeptieren
kann.
Sie arbeiten gerade an einem neuen Parteiprogramm,
das die „Wiesbadener Grundsätze“ von 1997 überarbeitet. Können Sie uns
vielleicht schon einige Eckpunkte benennen?
Christian Lindner: Es wird ein Manifest für Freiheit, Bürgersouveränität und
Fairness – das zeichnet sich bereits heute ab. Obwohl wir natürlich auf alle
Gegenwarts- und Zukunftsfragen Antworten geben müssen, deuten sich Schwerpunkte
an. Zum Beispiel das klare Bekenntnis zum Markt- und Leistungsprinzip, aber im
Sinne des Ordoliberalismus. Viele Debatten kreisen um die Frage, wie faire
Aufstiegschancen verwirklicht werden können. Das erfordert neue Antworten in
der Sozial- und Bildungspolitik. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist ein Thema: Was verbindet
uns, wenn in Zukunft viele Bürger keine Wurzeln in Deutschland haben? Ich denke,
dass ist der Verfassungspatriotimus und der Respekt vor Unterschieden. Unsere
Vorstellung der Freiheit zur Verantwortung deklinieren wir durch: Verantwortung
für die Mitwelt, also unsere Gesellschaft und - großes Wort, ja: - die
Menschheit. Verantwortung für die Umwelt. Verantwortung für die Nachwelt, im
Sinne nachhaltigen Wirtschaftens. Diese dreifache Verantwortung wird in
Deutschland gerne delegiert – an den Staat oder an abstrakte Institutionen. So
erklärt sich teilweise der Erfolg der Grünen. Wir gehen einen anderen Weg und
denken diese Verantwortung vom vernünftigen, freien Individuum her.
„Freiheit: gefühlt – gedacht – gelebt“ ist
eine Ihrer Maximen, die Sie gemeinsam mit dem neuen Bundeswirtschaftsminister
Philipp Rösler 2009 in Buchform präsentierten. Von Immanuel Kant stammt der
Ausspruch: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe
sind blind“. Wie konkretisieren Sie den Freiheitsbegriff in der Moderne? Welche
Rolle spielen dabei die Begriffe „Fairneß“ und „Freiheitsqualität“?
Christian Lindner: Das ist zwar eine sehr abstrakte, sehr theoretische
Diskussion, aber wenn Sie mögen: Der Begriff von Freiheit, den die FDP hat, ist
allein kein negativer Freiheitsbegriff, der also nur das fremde Machtdiktat auf
mein Leben abwehren will. Es gibt eine weitere Dimension. Wir müssen
unterscheiden zwischen quantitativer und qualitativer Freiheit. Eine rein
quantitative Freiheit will die Zahl der zur Verfügung stehenden Wahloptionen
für Lebenswege ausdehnen. Aber mit mehr Quantität steigt nicht automatisch die
Qualität. Eine etwas geringere Zahl von Optionen, die qualitativ höherwertig
sind, kann besser sein. Ein Beispiel: Die Freiheitsquantität der
Berufswahlmöglichkeiten des einen Menschen ist drei: Glückspieler, Taschendieb
oder Schwarzarbeiter. Die Freiheitsquantität bei einem anderen ist nur zwei,
aber sie umfasst die Möglichkeiten Grundschullehrer oder Fischhändler. Fraglos würden
wir aber lieber zwischen den nur zwei Optionen wählen, weil sie qualitativ
besser sind. Auf die politische Ebene übertragen bedeutet dies, dass wir aktiv
Lebenschancen durch Bildung und Weiterbildung eröffnen müssen. Das ist zugleich
fair. Unter Fairness verstehen wir eine hinreichend als fair empfundene
Gleichheit der Startchancen, nicht aber die Annäherung der Ergebnisse in der
Gesellschaft. Liberale haben, wie Ralf Dahrendorf gesagt hat, eine große
Toleranz gegenüber Ungleichheit in der Gesellschaft, wenn sie sich aus gleichen
Regeln für alle und unterschiedlichem Einsatz ergibt. Da liegt die Quelle von
Hoffnung, dass individuelle Anstrengung einen Unterschied im Leben macht.
Wo macht man Gerechtigkeit fest?
Christian Lindner: Für uns Liberale kann Gerechtigkeit nur eine
Verfahrensgerechtigkeit sein, also für alle gleiche politische und
staatsbürgerliche Rechte – ja. Aber bei der Verteilung von materiellen Gütern
oberhalb eines sozioökonomischen Existenzminimums muss es das Leistungsprinzip
geben. Wer würde sonst über materielle Verteilung in der Gesellschaft
entscheiden, was wäre da der Gerechtigkeitsmaßstab – er müsste willkürlich von
Politikern am grünen oder roten Tisch festgelegt werden. Damit dies als legitim
empfunden werden kann, brauchen wir in Deutschland eine Annäherung der
Startchancen. Davon sind wir aber hierzulande noch entfernt. Und wir brauchen
zweite und dritte Chancen auf den Wiedereinstieg in Teilhabe an Bildung und an
Arbeit – auch davon sind wir in unserem bürokratisch verholzten Wohlfahrtsstaat
noch entfernt.
Der Begriff des Neoliberalismus, der immer
wieder von der FDP favorisiert wurde, ist beständig in der Kritik. Wie stellen
Sie sich ein neoliberales Wirtschaften ganz konkret vor?
Christian Lindner: Dieser Begriff ist inzwischen ein inhaltlich völlig
deformierter Kampfbegriff. Wer sich die Mühe macht, ihn zu ergründen, stellt
fest, dass damit etwas ganz anderes gemeint ist, als heute in der politischen
Diskussion vertreten wird. Diejenigen, die sich als Gegenbegriff zum
aufkommenden Faschismus als neue Liberale oder eben Neoliberale bezeichnet
haben – dies waren kein Laissez-faire-Liberalen.
Sie haben sich gerade dadurch vom klassischen Liberalismus unterschieden, dass
sie eine aktive Rolle für den Staat gefordert haben. Sie wollten, dass der
Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen steht, wie Alexander
Rüstow gesagt hat, um dem Wirtschaftsgeschehen klare Regeln vorzugeben.
Innerhalb der Offenheit des Marktes soll ja die Stärke des Rechts und nicht das
Recht des Stärkeren gelten. Heute verwendet man den Begriff Neoliberalismus als
dumpfe Schrumpfformel für Minimalstaat, Deregulierung und Privatisierung. Das
wird der Partei von Otto Graf Lambsdorff und der Wirtschaftsordnung von Ludwig
Erhard, auch ein Neoliberaler, nicht gerecht.
Immer wieder spielt der Begriff der
„Wertegesellschaft“ bei Ihnen und Ihrer Partei eine große Rolle. Wo sollen wir
ihrer Meinung nach die neuen Werte finden, wenn das eigentliche Fundament, die
im Abendland verankerte jüdisch-christliche Tradition, nicht mehr zeitgemäß
erscheint?
Christian Lindner: Wir müssen mit dem Umstand leben, dass in Zukunft
Millionen deutscher Staatsbürger keinen christlichen Glauben mehr haben.
Deshalb braucht es eine andere Klammer für unsere Gesellschaft, die allen
unabhängig von Herkunft und Bekenntnis das Gefühl der Zusammengehörigkeit
erlaubt. Ich sehe das im Verfassungspatriotismus, in den republikanischen
Werten unseres Grundgesetzes, in deren Zentrum die Würde des Einzelnen steht.
Diese Werte des Grundgesetzes haben sich tatsächlich aus einer Tradition des so
genannten christlich-jüdischen Abendlandes ergeben, so problematisch dieser
Begriff auch ist, ergeben. Sie sind teilweise in der Auseinandersetzung mit den
Kirchen entstanden, haben Einflüsse aus dem antiken Rom und Athen aufgenommen.
Sie sind geronnene Geschichte. Aber sie lassen sich eben auch aus reiner
Vernunft ableiten – und das ist eine große Chance. Denn so ist es möglich,
Menschen, die unsere abendländische Tradition nicht teilen, weil sie aus
anderen Kulturkreisen zu uns gekommen sind, in unsere Wertegemeinschaft
miteinzubeziehen und einzuladen, Verfassungspatrioten zu werden.
Sie haben 2011 den Redner- und Dialogpreis
„re: republik“ erhalten. Welche Rolle spielt die Rhetorik in der Politik und
inwieweit ist Politik immer noch sophistisch, wo ist die Grenze zwischen
Redekunst- und Beredsamkeit? Kant hatte in seiner „Kritik der Urteilskraft“ die
Rhetorik kritisiert, weil sie immer nur auf die Schwächen des Gegners abzielt
und damit moralisch wenig Achtung verdient.
Christian Lindner: Das, was Kant meinte, scheint mir eher auf das bezogen zu
sein, was man Eristik, Streitkunst, nennt. Dazu hat Schopenhauer ein Büchlein
„Die Kunst, Recht zu behalten“ geschrieben. In der Mediendemokratie gehören
kommunikative Fähigkeiten zum Rüstzeug eines Politikers dazu. Durch Begriffe
wird Politik gemacht. Denken Sie an die erfolgreiche „Agenda 2010“, der wir
heute viel Wettbewerbsfähigkeit verdanken. Sie ist kommunikativ nicht gelungen.
Die politische Rede ist das zentrale Medium, um Vertrauen zu gewinnen,
Positionen darzulegen und Menschen zu begeistern.
Wer ist Ihr Lieblingsgegner bei politischen
Diskussionen in der Berliner Republik?
Christian Lindner: Da kann ich niemanden im Einzelnen hervorheben. Spannend
ist es immer, wenn man mit diametral anderen Meinungen umgehen muss. Leider
werden aber oft immer wieder dieselben Argumente vorgetragen. Vor einiger Zeit
gab es eine Sendung mit einem Sozialdemokraten. In diesem Gespräch konnte man
Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede sauber herausarbeiten. Da ging es nicht
nur um den Effekt, sondern tatsächlich um die Substanz. Da konnte man auch unterschiedliche
Bewertungen einmal mit Respekt stehen lassen – so eine Art der Debatte macht
mir Freude.
Sie haben auch Philosophie
studiert, welcher Philosoph hat sie am nachhaltigsten geprägt und beeindruckt?
Christian Lindner: Die liberalen Klassiker, Karl Popper, John Rawls -
beeindruckt haben mich aber zwei, die im strengen Sinne keine Philosophen waren.
Ralf Dahrendorf, weil er eine soziologische Zeitdiagnostik mit liberalen
Antworten verbunden hat. Und Friedrich August von Hayek mit seinem Plädoyer für
die Freiheit, die erst das in der Gesellschaft verstreute Wissen mobilisiert.
Herr Lindner – Sie haben eine
Rennfahrerlizenz. Auch einige Philosophen, wie Michel Foucault und Albert Camus
teilten die Leidenschaft für schnelle Autos.
Christian Lindner: Dann bin ich ja in guter Gesellschaft mit meiner
Leidenschaft. Ja, ich habe einmal einen Lizenzlehrgang gemacht. Leider fehlt
mir gegenwärtig für den aktiven Motorsport die Zeit. Aber ich verliere mein
Ziel nicht aus den Augen, irgendwann einmal die 24 Stunden auf dem Nürburgring
mitzufahren.
Das
Interview führte Dr. Stefan Groß
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