Erschienen in Ausgabe: No 67(9/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Heike Geilen
"Frage:
Ich schreibe, damit etwas von Ihnen bleibt.
Antwort:
Sie meinen, was Sie da aufschreiben ist das, was von mir bleibt, wenn ich weg
bin?
Frage:
Jawohl.
Antwort:
Wogegen das, was Sie nicht aufschreiben, mit mir verschwindet? Nichts davon
bleibt?
Frage:
So ist es. Nichts bleibt."
Derartige
Frage-Antwort-Dialoge gibt es in Michail Schischkins Roman viele. Und
aufgeschrieben hat der 1961 in Moskau geborene Autor, der 1995 in die Schweiz
emigrierte und dort als Dolmetscher für die Einwanderungsbehörde arbeitete,
gleichfalls viel. 555 Seiten umfasst sein sprachgewaltiger Roman. In Russland
räumte er bereits mehrere Preise ab. Hierzulande bekam er jüngst den
Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt.
Seinem
monumentalen Buch hat der russische Autor, der gern als Tolstois und Nabokovs
Enkel bezeichnet wird, einen Auszug aus dem Alten Testament, dem "Buch der
Offenbarung Baruchs" vorangesetzt: "Und angerufen wird der Staub und
zu ihm gesagt: 'Gib zurück, was dir nicht gehört; offenbare, was du bewahrt
für seine Zeit.' Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das
Wort werden wir einst auferstehen." Und genau diesen Epigraph versucht
Schischkin auf den folgenden, höchst anspruchsvollen Seiten mit atemberaubender
Eloquenz, Fantasie, Fabulierlust und erzählerischer Kunstfertigkeit zu belegen.
Über
große Teile siedelt Michail Schischkin seine verschlungene Handlung auf dem Amt
für Asylsuchende in Zürich an. Dort übersetzt sein Alter Ego - im Roman
Dolmetsch genannt - seinem Vorgesetzten Paulus all die wundersamen,
verworrenen, tragischen und grausamen Geschichten der Flüchtlinge aus seiner
russischen Heimat, die um Einlass ins schweizerische Paradies bitten. Sie
kommen aus Ossetien, waren im Afghanistan-Krieg, im Gulag, sind gerade aus dem
Gefängnis entlassen oder vergewaltigt worden, viele von ihnen hochgradig
traumatisiert. Schischkin offenbart die ganze Bandbreite menschlicher
Gräueltaten. Ob die Berichte dieser Menschen wirklich wahr sind, darum geht es
dem Autor jedoch nicht. "Mögen die Sprecher fiktiv sein, das Gesagte ist
wahrhaftig. Wahrheit gibt es nur dort, wo es etwas zu verbergen gibt. Gut, die
Leute sind vielleicht nicht echt, aber die Geschichten sind es! Wenn sie im
Kinderheim nicht den mit den aufgeworfenen Lippen vergewaltigt haben, dann
einen anderen! Und die Story von dem verbrannten Bruder und der getöteten
Mutter hat der Litauer irgendwo aufgeschnappt. Ist es wichtig, wem genau sie
passiert ist? Sie bleibt authentisch, so oder so. Leute sind hier
nebensächlich, es geht um die Geschichten, die entweder echt oder unecht sind.
Man muss eine Geschichte erzählen, das ist es. So wie sie sich abgespielt hat.
Nichts dazuerfinden. Wir sind was wir sagen." Die Gefahr dabei: "Man weiß
nie, in welchem Reich man aufwacht und als wer. (...) Die Geschichten suchen
sich einen Menschen aus und gehen um mit ihm."
"Diese
Menschen, diese Reden - man wird sie nicht los.", stellt der Dolmetsch
fest. Zu Hause versucht er sich mit den "Xenophon's Anabasis", einen
der ersten, aus der griechischen Antike überlieferten Schriften, abzulenken. Er
schreibt Briefe an seinen in Russland lebenden Sohn oder liest in den
Tagebüchern seiner Geliebten Isolde. Wahrheit und Fiktion verschwimmen, alles
verschmilzt zu einem einzigen "Welt-Text", einem Lebensgarn, dass
Schischkin virtuos vor dem Leser ausrollt. Immer wieder eingeflochten werden
die vom Autor meisterhaft gefälschten Tagebücher der 100 Jahre alt gewordenen
russischen Estraden-Sängerin und Volkskünstlerin Isabella Danilowna Jurjewa.
Deren milder Plauderton steht in krassem Gegensatz zu den apokalyptischen
Horrorberichten der Asylbewerber. Alles zusammen ergibt ein riesiges
literarisches Gemälde Russlands vom Beginn des 20. Jahrhunderts, dem Ende des
Zarenreichs, der Revolution bis in die Gegenwart. Schischkin umspannt mit
Worten gewaltige Dimensionen.
Der
russische Autor lässt Geschichten zurück und "entlüftet" Menschen.
Der Leser pickt sich seinen Teil heraus. Alles in seiner immensen Breite zu
erfassen, ist unmöglich und erhöhte Lesekonzentration von Nöten, einhergehend
mit einem zwangloses Sichfallenlassen in den Text. Was umso leichter fällt,
denn Schischkin bildet Worte, die "aus dem Sprachnebel ausfällen.
Wortstaub verwandelt sich auf irgendeine Weise (...) zu Kernlein, die einem auf
der Zunge liegen."Die virtuose und
zuweilen blumige Sprache lässt die mehrfach verschachtelten Handlungsstränge
leichter entwirren und die Vergangenheit, obwohl man sie zu kennen meint, durch
die Seiten verändern.
Der
Romantitel klärt sich am Ende recht deutlich auf. Denn das unscheinbare grazile
Farn mit Namen "Venushaar" bildet in ganz Europa oft große Bestände
an steilen Böschungen entlang von Flüssen und Bächen oder überrieselten,
gemörtelten Mauern. "Da könnt ihr noch so viel alte Bart- und
Chlamysträger auswerfen, die sich die unbefleckte Empfängnis ausdenken, malt
und meißelt, was ihr wollt, ich stoße durch alle Leinwände, all euren Marmor
breche ich auf. Jede Ruine im Forum besiedele ich, und unter jedem Ziegelstein
im Phlox bin ich auch. Wo ich nicht zu sehen bin, dort sind meine Sporen. Wo
ich nicht bin, da war ich, da werde ich sein. Ich bin, wo ihr seid."
Fazit:
"Das
Vergangene ist nicht mehr da, aber wenn man es erzählt, kann man die Wörter
über Tage dehnen oder umgekehrt ganze Jahre in eine Handvoll Buchstaben
stopfen."
Michail
Schischkin vernäht in seinem Roman virtuos die Zeit wie eine Nähmaschine im
Zickzackstich. Der Übersetzer Andreas Tretner hat dem deutschsprachigen Leser
diesen "Nähkurs" hervorragend zugänglich gemacht.
Michail
Schischkin
Venushaar
Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Originaltitel: Venerin Volos, DVA,
Berlin (März 2011), 560
Seiten, Gebunden, ISBN-10:
3421044414, ISBN-13:
978-3421044419, Preis: 24,99 EUR
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