Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 14.08.11 |
von Christian Wulff
Am Morgen des 13. August 1961, einem Sonntag,
hörte das junge Ehepaar Hartmut und Gerda Stachowitz in seiner
Westberliner Studentenwohnung, dass an der Sektorengrenze eine Mauer
gebaut werde. Voller Angst eilte Gerda Stachowitz in den Ostteil der
Stadt, wo im Haus ihrer Eltern ihr kleiner Sohn Jörg war. Ihr Mann blieb
im Westen. Viele Monate später wurden Hartmut und Gerda verhaftet,
nachdem sie verzweifelt versucht hatten, durch einen Fluchttunnel wieder
als Familie zueinander zu kommen. Beide kamen ins Gefängnis, der kleine
Sohn in staatliche Hände, die Mutter wusste nicht, wie und wo. Erst
zwei Jahre später war die Familie wieder vereint, erst 1973 durfte sie
endlich die DDR verlassen.
Ein einzelnes schweres Schicksal unter Hunderttausenden.
Wir erinnern heute an einen verhängnisvollen Tag der deutschen Geschichte.
Zugleich ist es ein Glück – ein sehr seltenes –,
dass wir in der Erinnerung an diesen Tag wissen: Die Geschichte ist
glücklich ausgegangen! Das war nicht unbedingt zu erwarten. Und das
haben irgendwann auch nicht mehr Viele erwartet.
Wir erinnern an die Weltlage der starren,
hochgerüsteten Blöcke, der unversöhnlich gegeneinander stehenden
Gesellschaftssysteme. Mittel- und Osteuropa unfrei. Deutschland geteilt,
im Zentrum einer geteilten Welt. Und mitten durch Berlin die Mauer –
drastisches Symbol der kommunistischen Zwangsherrschaft und Symbol ihres
Scheiterns.
Wir denken an das Leid, das ungezählten Frauen,
Männern und Kindern zugefügt wurde – an der Mauer und innerhalb der
unmenschlichen Grenzen des SED-Unrechtsstaates, der ihm verdächtige
Bürger körperlich und seelisch quälte und allen die elementaren
Menschenrechte vorenthielt.
Wir erinnern an politische Verbrechen, deren
plumpe bis subtile Brutalität der DDR-Bürgerrechtler Ehrhart Neubert so
erschütternd dargestellt hat: von der Tötung schon gestellter
Flüchtender bis zur psychischen Zermürbung und gezielten Zerstörung
vertrauensvoller menschlicher Beziehungen.
So viele persönliche Schicksale auf beiden Seiten,
Schicksale zerrissener Familien, Partnerschaften und Freundschaften.
Menschenleben, Lebenschancen und Lebenshoffnungen zerrieben zwischen
gewaltigen politischen Mächten, zerbrochen an dieser Mauer.
Immer neu wurde Blut an ihr vergossen, von Anfang
an bis in das Jahr 1989. Mindestens 136 Tote beklagen wir – niemand
kennt die genaue Zahl.
Das erste Todesopfer war Ida Siekmann am 22.
August 1961. Sie wollte hier in der Bernauer Straße aus dem dritten
Stock in die Freiheit springen. In ihrer Verzweiflung warf sie Bettzeug
voraus, um den Sprung abzufedern. Es half nicht. Sie starb einen Tag vor
ihrem 59sten Geburtstag.
Das zweite Opfer war zwei Tage später der 24 Jahre
alte Schneidergeselle Günter Litfin. Zwischen Friedrichstraße und
Lehrter Bahnhof eine Lücke in den Westen suchend, wurde er entdeckt,
sprang in das Becken des Humboldthafens und schwamm zum Westberliner
Ufer, das er fast erreicht hatte, als die tödliche Kugel seinen Kopf
traf.
Unvergessen auch ist der 18-jährige Maurergeselle
Peter Fechter, der am 17. August 1962 in der Zimmerstraße nahe am
Checkpoint Charlie vergeblich um Hilfe schrie. Er verblutete auf dem
Todesstreifen.
Und ich will an Chris Gueffroy erinnern. Der
20-jährige starb am 6. Februar 1989. Am Britzer Verbindungskanal
versuchte er, die Mauer zu überwinden, wurde entdeckt, durch Schüsse
verwundet und unter Schock reglos stehend durch einen gezielten Schuss
getötet.
Liebe Frau Gueffroy, lieber Herr Litfin, ich bin
dankbar, dass auch Sie heute bei uns sind. Unser Mitgefühl gilt Ihnen
und den Angehörigen aller Opfer.
Wir verneigen uns vor allen Toten an der Mauer und
vor den mehreren hundert Toten an der innerdeutschen Grenze, den
Grenzen zu Drittstaaten und in der Ostsee. Bei der Gedenkminute heute um
12 Uhr wollen wir an sie denken.
Die Toten und Verwundeten, die Hunderttausenden
politisch Inhaftierten und die Drangsalierten sind nicht die einzigen
Opfer dieser Mauer. Hinter ihr mussten Millionen auf ein
selbstbestimmtes Leben verzichten. Die persönliche Entfaltung, sich nach
den eigenen Neigungen ungehindert zu entwickeln, das menschliche
Streben zum Besseren hin oder einfach nur teilzuhaben an dem, was in der
Welt gedacht und gemacht wurde – das hat dieser Staat zu ersticken
gesucht.
Selten sind gegenüber dem vielfachen Leid die
Geschichten von glücklicher Überwindung von Mauer und Eisernem Vorhang.
Aber es gibt auch sie, und an sie denken wir mit Dankbarkeit: An die
Tunnel in die Freiheit. An die Flucht der Familien Strelzyk und Wetzel
1979 mit einem selbstgebauten Heißluftballon. An die 48 Kilometer, die
Peter Döbler 1971 von Kühlungsborn nach Fehmarn schwamm. Und an viele
weniger spektakuläre.
Die Mauer richtete sich für alle sichtbar gegen das eigene Volk. Sie war Ausdruck der Angst vor dem eigenen Volk.
Die Weltlage, deren Symbol diese Mauer war, schien unabänderlich.
Aber einmal mehr hat sich gezeigt: Am Ende ist die
Freiheit unbesiegbar. Keine Mauer widersteht dauerhaft dem Willen zur
Freiheit. Die Gewalt der wenigen hat keinen Bestand gegen den
Freiheitsdrang der vielen.
Willy Brandt hatte es bereits am Abend des 13.
August 1961 den Bürgern in der DDR und in Ostberlin zugerufen: „Noch
niemals konnten Menschen auf die Dauer in der Sklaverei gehalten
werden.“
Die Bürger der DDR haben dann in jenen
Revolutionstagen 1989 heldenhaften Mut bewiesen. Es konnte keinen
Zweifel an der Entschlossenheit der aufmarschierten Sicherheitskräfte in
Leipzig und anderswo geben, die Bewegung niederzuschlagen. Doch es
triumphierte die Liebe der Menschen zur Freiheit.
Nie in den Jahrzehnten der Teilung konnte diese Liebe zur Freiheit ganz unterdrückt werden.
Da waren die vielen Menschen, die aus
Freiheitssehnsucht unter Todesgefahr die Flucht über die Mauer und die
innerdeutsche Grenze wagten.
Da waren die Männer und Frauen, die in kleinen
Kreisen Veränderung diskutierten. Es waren sehr oft Christen, die sich
nicht abfanden mit den Zuständen. Es waren Pfarrer und Gemeinden, die
Schutz und Raum boten für politische Gespräche und Gebete. Daran möchte
ich erinnern, gerade in einer Zeit, in der nicht wenige Kirche und
Religion ins Private zurückdrängen wollen.
Da waren die immer wieder aufflammenden Aufstände
gegen die Unfreiheit, von Panzern niedergewalzt, unter Kriegsrecht
zertreten: am 17. Juni 1953 in der gesamten DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in
der Tschechoslowakei, 1970 und 1980/81 in Polen.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele, allzu viele, hatten sich abgefunden mit Teilung und Mauer.
Viel Verständnis verdienen die Ostdeutschen, die
vor der Alternative standen, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren
oder Tod und Gefängnis zu riskieren. Wo immer das ging, zog man sich
zurück in die Nischen des Privaten. Das war Leben – und das waren oft
eindrucksvolle Lebensleistungen – unter den Bedingungen eines
Unrechtsstaats.
Beschämend dagegen eine um sich greifende
Gleichgültigkeit in Westdeutschland. Hier herrschte ein gerüttelt Maß an
intellektueller und moralischer Bequemlichkeit. Unrecht von links
empörte weniger als Unrecht von rechts. Die Sandinisten in Nicaragua
fanden mehr Anteilnahme als die ostdeutschen Bürgerrechtler. Viele
gewöhnten sich an die Mauer, viele verharmlosten sie. So manchen
berührte das Schicksal von Millionen Deutschen jenseits des
Stacheldrahts kaum noch. Dass das Ziel der Wiedervereinigung aus der
Präambel des Grundgesetzes gestrichen werde, forderten nicht wenige noch
1989. Vielen in der Politik galt die deutsche Frage nicht mehr als
offen. Die diskutierte Schließung der Erfassungsstelle Salzgitter für
DDR-Unrecht fand immer mehr Anhänger. Das Thema Nation wurde
Minderheitenprogramm, Demonstrationen zum Tag des Mauerbaus fanden in
den Medien kaum mehr ein Echo. Wer an die Nation erinnerte und Mauer und
Stacheldraht beklagte, galt weithin als Störenfried und fand sich auch
beschimpft als Ewiggestriger, kalter Krieger, Feind des Weltfriedens.
Unser Land schuldet den Bürgerinnen und Bürgern
der DDR bleibende Dankbarkeit. Ermutigt durch Gorbatschows Glasnost und
Perestroika und die Veränderungen in Polen und Ungarn haben sie die
Teilung des Kontinents überwunden und aller Welt gezeigt, welche Kraft
der einzelne Wille zur Freiheit entfaltet, wenn er sich mit anderen
zusammentut. Das Menschenrecht der Freiheit selbst erkämpft zu haben –
das ist das große Geschenk der Deutschen aus der DDR an die Geschichte
unseres Landes.
Die Erinnerung an das Unrecht der Mauer mahnt uns,
in der Welt diejenigen nicht allein zu lassen, die für Freiheit,
Demokratie und Bürgerrechte kämpfen. Und sie verlangt von uns, dafür zu
sorgen, dass sich Geschichte nicht wiederholt.
Wir müssen erinnern und vor allem aufklären.
Dieser wichtige Ort hier in der Bernauer Straße
steht für die vielen Menschen und Initiativen, Behörden, Opferverbände,
Geschichtswerkstätten, Museen und Gedenkorte, die sich dafür engagieren.
Dieses Engagement ist bitter nötig. Dass Mittel und Wege der
Machtausübung in diesem Staat verbrecherisch waren, ist zu vielen
Deutschen nicht bewusst. Es wird verklärt und verharmlost, nicht nur im
Osten, nicht nur von Tätern.
Besonders in den Schulen kann und muss der
Verfestigung falscher Geschichtsbilder und purer Unkenntnis vorgebeugt
werden. Viele Lehrer engagieren sich hier, und ich möchte appellieren an
die Lehrerinnen und Lehrer in unserem Land: Nutzen Sie mit Ihren
Schülern die Möglichkeiten der Aufklärung, die sich an Orten wie diesem
hier bieten! Es darf nicht sein, dass – wie Herr Litfin erzählt hat –
noch nie eine Schulklasse aus dem Ostteil Berlins Gedenkstätte und
Museum besucht hat, die er in Erinnerung an die Opfer der Mauer
betreibt.
Den Unrechtscharakter des SED-Staats
hervorzuheben, heißt nicht, in der DDR gelebtes Leben hochmütig und
nachträglich zu entwerten. Unter den Folgen des Unrechts, das im Namen
aller Deutschen vor 1945 verübt worden ist, haben die Ostdeutschen in
besonderer Weise gelitten. Wie die Landsleute in der DDR unter den
Bedingungen der Unfreiheit ihr Leben gemeistert haben, hat mich immer
tief beeindruckt. Abseits der Verbrechen des Staates sind Millionen
unter moralischen Anstrengungen anständig geblieben und haben in Beruf,
Familie und Nachbarschaft Großes geleistet.
Sprechen wir über unsere jüngste Geschichte,
stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Täter ausreichend zur
Rechenschaft gezogen worden sind. Die Opfer werden diese Frage mit
Bitterkeit verneinen. Und das ist menschlich nur allzu verständlich. Wir
denken an den Satz Bärbel Bohleys: „Wir wollten Gerechtigkeit und
bekamen den Rechtsstaat.“ Es ist viel verlangt, aber denen, die in der
DDR gelitten haben, will ich sagen: Versuchen Sie auch das Gute in
diesem Satz zu hören. Es ist gut, dass in unserem Staat ein Handeln nur
so weit bestraft wird, wie es sich persönlich zurechnen lässt, und nur
dann, wenn es zum Zeitpunkt der Handlung am Ort des Geschehens unter
Strafe stand. Es ist gut, dass es im Rechtsstaat möglich bleibt, auch
den Täter als Opfer zu begreifen. Und nicht alles moralisch verwerfliche
Handeln ist im Rechtsstaat strafrechtlich verfolgbar. Als
„DDR-Systemunrecht“ wurde nach 1990 auch unter Verlängerung von
Verjährungsfristen trotzdem vieles verfolgt und geahndet. Wichtiger als
die Höhe der Strafen war und ist das Signal, dass Verbrechen gegen die
Menschlichkeit nicht ungestraft bleiben. Der Rechtsstaat kann das
Gerechtigkeitsgefühl verletzen, aber es ist eine zivilisatorische
Errungenschaft, dass nicht das Gefühl richtet.
Und wir heute, hier bei uns? Welche Lehren hält die Mauer für unser Gemeinwesen bereit?
Es läge nahe, nun metaphorisch von Mauern in
unserer Gesellschaft und in den Köpfen heute zu reden. Ich will das
nicht tun. Denn es hieße, das Schreckliche und Böse der wirklichen Mauer
zu banalisieren. Keines der heutigen Probleme in unserem Land reicht
auch nur entfernt an das Leid heran, dessen wir hier gedenken. Alle
können wir sie lösen. Denn wir haben die Freiheit, das zu tun. Und
darauf kommt es an. Unsere Zukunft liegt in unseren Händen.
Das Ende der Geschichte der Mauer kann uns Mut
machen: Denn die Geschichte dieses Endes haben Menschen geschrieben. Die
Mauer fiel nicht – sie wurde umgestürzt.
Wir können Veränderungen erreichen. Streben wir
deshalb zuversichtlich nach noch mehr wirklicher Freiheit in unserem
wiedervereinigten Land. Das heißt heute vor allem: Jedem die
Möglichkeit, sich frei zu entfalten! Wir müssen die zu uns Gekommenen
besser integrieren und für alle in unserer Gesellschaft noch mehr
Entfaltungschancen schaffen. Mehr aus sich zu machen, muss tatsächlich
allen möglich sein.
Wenn Menschen der verschiedensten Herkunft sagen:
Wir leben gern hier, dies ist ein gutes Land, für das ich mich einsetzen
will, weil es auch mir viele Chancen bietet – dann haben wir erreicht,
was wir mit Integration und besserer Bildung meinen.
Unser Gemeinwesen, in dem wir in hohem Maße frei,
solidarisch und gerecht zusammenleben, verdient eine solche zustimmende
Grundhaltung. Es ist die Haltung von „Bürgern“ im eigentlichen Sinne.
Begreifen wir dieses Gemeinwesen immer neu als das unsere. Übernehmen
wir Verantwortung für die gemeinsame Sache. Tun wir Dienst an der
Gesellschaft, ob im Ehrenamt, als freiwillig Wehrdienstleistende, im
Bundesfreiwilligendienst oder ganz einfach als Mensch am Menschen.
Die Erinnerung an die Leben erstickende Mauer
mahnt uns, die Offenheit unserer heutigen Welt und die Präsenz des
Fremden in ihr auszuhalten, auch wenn es anstrengend ist. Offenheit und
die Bereitschaft einer Gesellschaft, sich zu verändern, werden belohnt.
All das erfordert Mut. Aber wir haben keinen Anlass, davor zu
erschrecken.
Wir Deutsche haben diesen Mut seit 1945 vielfach
bewiesen. Wir haben im Osten wie im Westen unser Land wieder aufgebaut
und Millionen Vertriebene und Flüchtlinge integriert. Wir haben eine
Demokratie gegründet und eine Diktatur zu Fall gebracht. Wir haben
seither erreicht, dass dieses Land mehr und mehr zu einem tatsächlich
einigen, zu unserem gemeinsamen geworden ist und dass die Unterschiede
der Herkunft an Bedeutung verlieren, zumal in der jungen Generation. Die
Wiedervereinigung ist uns erstaunlich gut gelungen – das nehmen
ausländische Beobachter oft schärfer wahr als wir selbst.
Ich erfahre täglich, was für ein großartiges Land
Deutschland heute ist. Was die Bürgerinnen und Bürger für den
Zusammenhalt leisten. Auf wie viel Neues wir uns eingelassen haben,
gerade die Ostdeutschen in den Jahren seit dem Umsturz der Mauer. Wie
wir uns dem weltweiten Wettbewerb stellen und bisher besser als die
meisten anderen Industrienationen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise
gekommen sind.
Wir haben Mut zum Wandel bewiesen. Und wir werden
ihn weiter beweisen müssen, wenn wir etwa an die zu geringe Zahl junger
Menschen in unserer Gesellschaft denken, wenn wir die Energiewende zum
Erfolg führen wollen oder unsere Schulden mit Rücksicht auf die jungen
Menschen wirklich und nachhaltig begrenzen wollen.
Einigkeit und Recht und Freiheit – was das Lied
der Deutschen in diesem August seit genau 170 Jahren ersehnt, das haben
wir erst seit gut 20 Jahren. Ich wünsche mir, dass wir unser Glück von
Freiheit und Einheit und Recht wirklich schätzen und unser
wiedervereinigtes Deutschland immer neu zum Blühen bringen – eingebettet
in ein einiges und starkes Europa, das dem Frieden in der Welt dient.
Schätzen und schützen wir die Freiheit, die wir haben!
www.bundespraesident.de
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